Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Von der Überschatzung der Mütter · Geist · Seele (Leben)

Es gibt also unter allen Umständen zwei verschiedene Arten innerer Wirklichkeit, auf deren eine das Symbol Geist hindeutet, auf deren andere die Symbole Seele und Leben. Die erstere Wirklichkeit ist ein ganz anderes, als was Melchior Palágyi und, auf ihm fußend, Klages den Geist bestimmen — obgleich deren Bestimmungen im Rahmen des von ihnen Erlebbaren vielfach nicht nur richtig, sondern auch äußerst glücklich sind. So ist Geist wirklich, von der Erde her gesehen, wesentlich Aktualität, und besteht sein Eingreifen in diskontinuierlichen Akten. Die Wirklichkeit von Seele und Leben wiederum ist ein ganz anderes, als was die Epigonen des deutschen Idealismus an ihr bemerken. Und wenn die extremen und radikalen Seelen- und Lebensphilosophen sich in bezug auf den Geist als oberflächlich erweisen, so gilt gleiches erst recht von den Intellektualisten in bezug auf Seele und Leben. Hier handelt es sich in der Tat um ganz Tiefes, um die tiefste und letzte Wurzel unseres Erdendaseins; diesem bluthaft Wirklichen gegenüber wirken die Konstruktionen abstrakter Idealisten als blasse Hirngespinste. Dennoch ist es nicht angängig, Geist und Leben als im gleichen Sinne tief, als gleichwertig oder gar als polare Koordinaten zu bestimmen. Die Seelen- und Lebens-Wurzel des Menschen ist irdisch, die geistige hingegen metaphysisch.

Scheler hat nun den erkenntniskritisch wohl erschöpfenden Nachweis erbracht (auf seinem Vortrag unserer Tagung Mensch und Erde, der seither auch als Broschüre erschienen ist), dass was vom Standpunkt der organischen Schöpfung den Menschen zum Menschen macht, eben der Geist ist, ein nachweislich nicht irdisches Prinzip. Hiermit hat er von wissenschaftlicher Ebene her bewiesen, was der geistbewusste Mensch von jeher wusste, nämlich dass alles Menschenstreben über das Erdendasein hinausweist, und dass der eigentliche Sinn des Menschen nicht im Leben und auch nicht in der Seele liegt, deren wesentliche Erdbedingtheit Jung auf der gleichen Tagung klar erwiesen hat. Da ich die metaphysische Wurzel des Menschen in Wiedergeburt meinerseits so weit bestimmt habe, als mir dies heute möglich ist, kann ich mir weitere Auslassungen darüber hier ersparen. Nur ein historischer Hinweis, der die letzten Konsequenzen dessen beleuchtet, dass es sich bei der Tiefe des Geistes und der der Seele um Verschiedenartiges nicht allein, sondern auch um Verschiedenwertiges handelt. Seitdem das Geistbewusstsein erwacht ist, gibt es zwei Formen der Religion im ursprünglichen und eigentlichen Sinn des Worts, die sich als letzte Unvereinbarkeiten gegenüberstehen: die religio an den Geist und die an die Erde. Setzen wir an Stelle dieser gleichsam algebraischen Zeichen die Zahlenwerte unserer westlichen Geschichte ein, so können wir sagen: wer sich zum Geist bekennt, setzt grundsätzlich die Tradition des Christentums fort, wer zur Seele oder zum Leben, die der spätantiken Naturreligionen.

Warum siegte nun das Christentum? Es musste siegen, weil der Mensch zutiefst Geist ist. Er kann sich deshalb mit dem Werden und Vergehen nicht letztlich identifizieren. Wohl konnte er es in frühen Zuständen der Naturverwobenheit — man vergleiche, was ich in der Bücherschau über das von Herman Wirth betreffs der nordischen Urreligion Vertretene gesagt habe — aber seitdem sein Geistbewusstsein erwacht ist, ist nicht mehr das Gesetz der Natur, sondern der Geist sein tiefstes Erlebnis. Dementsprechend können es nur die jeweiligen historischen Morituri sein, die sich in Wahrhaftigkeit zur Natur als letzter Instanz bekennen. In der Spät-Antike trat dies nicht so deutlich zutage, weil der antike Mensch in einem ganz anderen Grad als wir naturverwoben war; deshalb war die Mithras-Religion auch nicht pessimistisch. Demgegenüber spricht der schauerliche Pessimismus von Klages für dessen Echtheit: wer heute noch in der Naturverwobenheit das Ideal sieht, muss Pessimist, vergangenheitszugewandt und zukunftsfeindlich sein. Wie sehr dies bei Klages der Fall ist, zeigt am besten das Zitat von ihm auf S. 503 von Wiedergeburt. Aber andererseits: weil Klages zukunfts- und fortschrittsfeindlich ist, kann er auch keine historische Zukunft haben. Der Fortschrittsglaube der modernen Menschheit beruht nämlich nicht auf Oberflächlichkeit, sondern auf Geistbewusstheit. Der Geist schreitet wirklich durch alles Werden und Vergehen hindurch fort.

So ist Klages’ Kampf gegen den Zeitgeist allerdings ein metaphysisches Missverständnis. Aber andererseits ist er zugleich ein in hohem Sinn tragischer Kampf, Klages kann gar nicht siegen, erstens weil die Menschheit als Ganzes der Naturverwobenheitsstufe, die er als Ideal vertritt, für immer entwachsen ist; zweitens weil das Fortschrittliche und insofern Optimistische zum Wesen des Geists gehört. Es ist ebenso ausgeschlossen, wie dass zweimal zwei einmal fünf ergeben sollten, dass eine pessimistische und vergangenheitszugewandte Weltanschauung gerade heut, am Beginn der geologischen Epoche des Menschen und damit des Zeitalters des erdbeherrschenden Geists historische Bedeutung erlangen sollte. Hier führe man ja nicht das Argument ins Feld, dass der Geist lebensfeindlich sei. Freilich kann er das sein: einerseits in Form des abgeschnürten Intellekts, andererseits in der des sich aus den Erdbanden enthaftenden echten Geistes. Aber auch die größte Intellektualisierung hindert ein volles Leben nicht, sobald der Intellekt richtig eingestellt ist — und eben diese erforderliche Neuverknüpfung von Seele und Geist herzustellen, ist die Hauptaufgabe unserer Zeit. Was aber das Lebensfeindliche des Überwinders betrifft — wie sollte darob dem Geist ein Vorwurf gemacht werden, wo die Menschheit spontan von jeher im Heiligen das Ideal gesehen hat? Die Wahrheit ist, dass sie von jeher instinktiv den Überwinder des irdischen Lebens, sogar in der extremen Form des Lebensfeindes, als Träger höheren Lebens erkannt hat.

Immerhin sind Klages’ Verdienste auch hier beträchtlich, insofern er auf eine dem modernen Bewusstsein besonders einleuchtende Weise gezeigt hat, dass der Geist mit dem rein-irdischen Leben auf einen Nenner nicht zu bringen ist. Nur muss ich an diesem Punkt schnell eine (schon oft begründete) Einschränkung machen, damit kein neues Missverständnis über das, was ich meine, entsteht. Letztlich ist auch das irdische Leben nur vom Geist, vom Sinn her zu verstehen; daher die allgemeine Verehrung des Überwinders. So ist wohl alles Leben letztlich metaphysischen und damit nichts-irdischen Ursprungs. Im Fall nichtmenschlicher Wesen wird dies niemals zu beweisen sein. Doch wenn gewiss ist, dass geistbestimmte Zeitalter auch physisch vital sind — dies gilt einerseits von religiösen Epochen, andererseits aber auch von der heutigen a-religiösen, aber durch Geistbewusstsein verjüngten Menschheit — so folgt schon daraus allein, dass auch die letzte Wurzel des irdischen Lebens geistig sein muss. Die Scheidung zwischen Geist und Leben ist richtig nur bis zu einem bestimmten Punkt.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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