Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Von der Überschatzung der Mütter · Das Erd-Prinzip

Wenden wir uns von hier aus zum Begriff der Mütter, im Zusammenhang des eingangs Betrachteten dieses Aufsatzes, zurück. Beginnen wir dabei mit dem Falle Goethe selbst. Selbstverständlich nehmen die Chthoniker diesen für sich in Anspruch. Und das dürfen sie bis zu einem bestimmten Punkte ohne Zweifel. Goethe wurzelte tief in der Erde und zwar der deutschen Erde. In seinem Bewusstsein spielte die erdbedingte Psyche bis zu ihren urbildhaften Elementen hinab eine bedeutende Rolle. Überdies war er, wie ich im Kapitel Geisteskindschaft von Wiedergeburt gezeigt habe, seinem eigenen Typus nach ein mütterlicher Geist. Es ist auch zuzugeben, dass ein bedeutender Teil von Goethes menschlicher Vorbildlichkeit auf seiner starken Betonung des Erd-Prinzips beruht. Vom Standpunkt des Erdenwesens Mensch ist der, in dem die verschiedenen Prinzipien des Menschenwesens in harmonischem Gleichgewicht zusammenbestehen, gegenüber dem einseitig Geistigen der Überlegene, denn in wem der Geist dominiert, gehört wesentlich nicht diesem Planeten an; daher die uralten Ideale des Asketen, des Mönchs und der Ehelosigkeit für den Geistträger. Aber nachdem wir dieses alles zugegeben, können wir eine andere Frage stellen und beantworten. Ist es sein Verhältnis zu den Müttern, welches Goethe menschheitsbedeutsam macht? Nein. Was zu dieser Sphäre gehört, ist nämlich grundsätzlich privat. Jedes Menschen Verhältnis zu seiner Mutter ist wesentlich Privatsache; jede Sprengung der Intimität zerstört hier zugleich den Wert. Wohl handelt es sich bei diesem Privaten um allgemein-Menschliches, aber dieses manifestiert sich hier in privat-persönlicher Verkörperung; und hieraus folgt, dass hier nicht nur für jedes Volk, sondern grundsätzlich für jeden einzelnen eine besondere Form allein dem Sinn der Idee gemäß ist, so wie allein die eigene Mutter jedem einzelnen die Idee der Mütterlichkeit entsprechend wiedergibt.

Hieraus erklärt sich zunächst, warum Goethe (im Unterschied von sehr vielen anderen Geistern) der Menschheit auch nicht annähernd das bedeutet, wie den Deutschen. Diese erkennen in ihm ihre eigene Heimlichkeit wieder. Keinem Nicht-Deutschen vermag er die seine zu offenbaren. Und doch bedeutet Goethes Heimliches auch für die Deutschen nicht den ausschlaggebenden Wert, und dies führt uns zu seiner Menschheitsbedeutung: Goethe durchdrang die deutsche Heimlichkeit mit Geist und machte sie dadurch übertragbar. Er erst hat die deutsche Sprache und damit das Deutsche menschheitsgültig gemacht. Denn der Geist ist ebenso essentiell übertragbar — daher die Attribute Gottes der Allwissenheit, Allgegenwart und Allmacht — wie das Seelische an sich nicht übertragbar ist. Hiermit halten wir den Schlüssel zum Problem, warum schlechterdings alle Nationen durch Dichter erschaffen wurden: sie taten dies nicht, insofern sie den Müttern zum Sprachrohr dienten, sondern insofern sie ihnen zu einer Wiedergeburt aus dem Geist verhalfen. Von hier aus verstehen wir denn auch die wahre Bedeutung der Nationaldichter.

Religionsstifter und Philosophen waren nie wesentlich national, denn sie vertreten durchaus Geist. Auch der große Staatsmann steht über der Nation. Das Urbild dieser Wahrheit verkörpert der Fürst, der ein Volk wohl hat, aber nicht ist. Im übrigen wächst die Übernationalität mit der geistigen Überlegenheit. Hindenburg ist durchaus repräsentativ für Deutschlands Mütter, deshalb wirkt der bloße Anspruch, bei ihm nach Geist als seine Bedeutung bedingend zu suchen, sinnwidrig. Aber Bismarck war es bereits in geringem Grad und Friedrich der Große in sehr geringem. Napoleon vertrat überhaupt nur den väterlichen Geist und gar nicht mehr die Erde. Aber Dichter sind keine Verkörperer des lebenschaffenden, sondern des lebenspiegelnden Geistes; in ihnen erlebt sich ein Volk. Daher ist es allerdings Sache der Dichter, die Mütter zu evozieren. Und insofern sie das bewusst machen, was die meisten nur ganz dunkel ahnen, so schaffen sie recht eigentlich das Nationalbewusstsein. Von hier aus wird denn auch, wie mir scheint, die eingangs zitierte These eines Juden voll verständlich, in ihrer Wahrheit sowohl als in ihren Grenzen, dass niemand ein stammfremdes Genie zu verstehen vermöge. Soweit das Erd- oder Blutprinzip in Frage steht, ist dem tatsächlich so.

Nur handelt es sich bei diesem Unverständlichen andererseits um Privates, das über den Kreis persönlicher Beziehung hinaus niemanden angeht. Wer den irdischen Bindungen noch nicht entwachsen ist, soll und muss freilich ein Privatleben haben. Aber das Menschheits-Bedeutsame steht und fällt mit seinem nicht-privaten Charakter. Und dies beweist keine Geschichte schlagender als gerade die des jüdischen Geists. Kein Nicht-Jude versteht den Juden von dessen Standpunkt aus; unter zu besonderen Bedingungen ist er erwachsen. Aber die positive Bedeutung der Juden in der Welt beruht ganz und gar auf dem Über-Privaten, das sie vertreten, dem reinen Ethos des Alten Testaments. Und ihre Geschichte beweist weiter, wie anders die Logik des Vaters ist, als die der Mütter. Für die Juden war Jesus erstens ein Romantiker unter anderen, zweitens ein Renegat. Doch vom Menschheitsstandpunkt liegt der Sinn des jüdischen Geistes vornehmlich darin, dass er den christlichen vorbereitet hat, in dem die Einseitigkeit des alttestamentlichen Sinnes einem höheren Sinnesganzen eingeordnet ward.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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