Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Bücherschau · Astrologie · Kosmo-Biologie

Im Verlauf der acht Jahre des bisherigen Bestehens der Schule der Weisheit ward mehrfach zur Astrologie, wenigstens indirekt, Stellung genommen. Auf der Tagung 1923 (Weltanschauung und Lebensgestaltung) stellte ich die Hypothese auf, dass es dasselbe bedeuten möchte, ob man als Astrologe zum Himmel hinauf- oder als Psychoanalytiker in die Tiefen der Seele hinabschaut. Seither haben die statistischen Untersuchungen von Karl Ernst Krafft (soweit sie gedruckt sind, befinden sie sich in unserer Bibliothek) erwiesen, dass die traditionellen Voraussetzungen der Astrologie tatsächlich zutreffen, soviel im einzelnen zu berichtigen sei; dass dies nicht mehr abzuleugnen ist, bestätigte mir noch neulich, bei einem Besuch in Darmstadt, der sonst so nüchterne Schweizer Schulreformer Adolphe Ferrière. Die Zeit, wo die fraglichen Zusammenhänge ganz verstanden sein werden, liegt freilich noch fern — wir denken heute alle, zum mindesten unbewusst, von mechanistischen Voraussetzungen aus, und aus diesen sind die Tatsachen der Astrologie keinesfalls zu verstehen. Aber es gibt doch schon ein lesenswertes Buch über den Sinn der Astrologie — und dieses möchte ich hiermit allen denen warm empfehlen, die sich für diese Wissenschaft interessieren: es heißt Die innerseelische Erfahrungswelt am Bilde der Astrologie von Olga von Ungern-Sternberg (Detmold 1928, Meyersche Hofbuchhandlung). Es ist nicht ganz leicht zu lesen, weil die Verfasserin Schwierigkeit empfindet, ihr implizierend-synthetisches Schauen in klarzergliedernder Sprache zu explizieren. Sie verfällt zumal immer wieder in den Fehler, was sie konkret sieht, in desto abstrakteren Begriffen auszudrücken — hieraus spricht eine ähnliche Mentalität, wie aus der so vieler früher Völker, welche wesentlich schauten und ihre Schauungen doch in Symbolen von fast mathematischer Abstraktheit wiedergaben. Aber Olga von Ungern-Sternberg hat den großen Vorzug, zu zweierlei auf einmal wirklich ursprünglich befähigt zu sein: zur psychoanalytischen Innen- und zur astrologischen Außenschau. Deshalb schreibt sie als ursprünglich Wissende. Ihre Ausführungen sind allzumal tief und verdienen die eindringliche Meditation aller derer, die ein ursprüngliches Verhältnis zur Astrologie haben. Besonders bedeutsam ist die Ersetzung des allzu einseitigen Libido-Begriffs der bisherigen Psychoanalyse durch die fünf durch die klassischen Götter symbolisierten Planeten-Bezugssysteme…

Nachdem ich das Obige geschrieben, erhielt ich vom Dom-Verlag M. Seitz & Co., Augsburg, den ersten Band des Jahrbuchs für Kosmo-Biologische Forschung zugeschickt. Wenn ich je ein Unternehmen begrüßen konnte, so ist es dies. Hier handelt es sich um echte und notwendige Pionier-Arbeit. Und die spezifisch kosmobiologische Fragestellung an sich ist so eindeutig und zugleich so produktiv, dass das bloß als Sammelband Gemeinte nahezu als organisches Ganzes wirkt. Alle die, welche kosmobiologisch denken, sind eben von Hause aus aufeinander eingestellt, und das fragliche Arbeitsgebiet ist noch so neu, dass von einer die Einheit sprengenden Differentiation noch nicht die Rede sein kann.

In diesem Jahrbuch geben denn zwei Aufsätze Koordinaten für alle mögliche spätere Astrologie ab. Der eine ist der von Erich Winkel, betitelt Die Funktionenlehre des Seins, der andere von unserem Freunde Karl Ernst Krafft, betitelt Astrobionomie. Was beide auszeichnet, ist der Versuch, die Astrologie neu zu begründen, grundsätzlich unabhängig von der Tradition, von unserer heutigen intellektualisierten Erkenntnisbasis her. Und das ist unbedingt notwendig, wenn wir weiterkommen wollen. Solange die Tradition einfach hingenommen bleibt, wird es auch dabei bleiben, dass neun Zehntel aller Astrologie-Interessenten — Abergläubische sind. Außerdem fehlt gerade der Vorhut der heutigen Menschheit die psychologische Anlage, aus der heraus sie die Wahrheit der Astrologie in ihrer überkommenen Fassung verstehen könnte. Winkel versucht nun diese Neufassung von einer weiter verstandenen Energetik her zu untersuchen; Krafft von der Statistik her.

Beide Wege sind wichtig und notwendig. Aber der wichtigste, allein zum Zentrum führende erscheint in vorliegendem Bande doch noch nicht begangen, und das sollte in Zukunft in erster Linie geschehen. Sind die kosmischen Zusammenhänge kein bloß Äußerliches, haben sie eine Innenseite, dann muss logischerweise der lebendige Mensch, der zu diesen einen unmittelbaren Zugang hat, den eigentlichen Ansatzpunkt zur Forschung darstellen. Mit anderen Worten: Wenn Astrologie von Wahrheit kündet, dann muss an erster Stelle das lebendige Medium, das sie vermittelt, studiert werden; solange sie das nicht tut, verbleibt die Kosmo-Biologie auf der gleichen Ebene der Äußerlichkeit, wie die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Dies führt mich denn zu Olga von Ungern-Sternberg zurück. Ich habe mir sagen lassen, dass viele ihrer Deutungen nicht korrekt seien, sei es vom traditionellen oder dem neuen Krafft’schen Standpunkt aus. Das ist sehr möglich. Aber wenn ich für diese Autorin vor allen anderen eintrete, so liegt dies daran, dass sie unmittelbar im Rahmen der astrologischen Symbole erlebt; mögen also ihre Theorien nicht einwandfrei sein — sicher ist sie eins der vornehmsten Studienobjekte für die neue Wissenschaft. Und wie mit ihr, so steht es mit allen anderen, die für die neue Einstellung wirklich in Frage kommen. Zu dem besprochenen Jahrbuch hat auch Richard Wilhelm einen Aufsatz beigesteuert. Vermutlich wird er noch mehr über die Beziehung von Mensch und Kosmos schreiben. Aber das könnten tausend andere auch, und unser Wissen würde dadurch doch kaum gefördert. Richard Wilhelms wahre Bedeutung — an dieser Stelle wurde dies in anderer Hinsicht schon früher ausgeführt — beruht ganz und gar darauf, dass er, von Natur irgendwie für China prädestiniert, eine extrem mediale oder, allgemeiner ausgedrückt, empfangende Natur (im Sinn des betreffenden chinesischen Begriffs), die Fähigkeit kosmo-biologischer Zusammenschau persönlich verkörpert; prophezeit und deutet er nach den Regeln des I Ging, dann ergibt dies wirkliche Erkenntnis. Also das Phänomen Wilhelm ist in kosmo-biologischem Zusammenhang in erster Linie interessant, nicht, was er über sein oder anderer Können denkt. Woraus denn in allgemeiner Hinsicht folgt, dass das Tor zu jeder künftigen Kosmo-Biologie im richtigen Verstehen des Phänomens der Intuition liegt. Dieses Verstehen fehlt noch durchaus; auch Jung hat erst Ansätze dazu gegeben. Das Wesentliche aber an allen kosmo-biologischen Zusammenhängen ist dies, dass sie nur intuitiv erfassbar sind.

Und nun noch ein Wort der Warnung. Die neue Forschung scheint mir Gefahr zu laufen, sich zu sehr mit der Charakterologie zu verbünden. Nun ist Charakterologie in der Tat eine nützliche Elementar­wissenschaft; wer da wissen will, welche Vernunftehe er schließen oder wen er als Inspektor anstellen soll, hat ein sehr lebendiges Interesse daran, über den Charakter seines möglichen Partners Bescheid zu wissen1. Aber tief kann Charakterologie nie führen, und nichts ist törichter als die Erwartung, sie weise irgendwie über Nietzsche den Weg zu neuer Weltanschauung. Da ich mich hier kurz fassen muss, gebe ich lieber ein konkretes Beispiel. Ich zeigte einmal einem namhaften Graphologen die Handschrift Sigmund Freuds, worauf der diesen mit — Erzberger auf eine Stufe stellte. Ich wies auf das Ungeheuerliche des Vergleiches hin und erhielt darauf zur Antwort: aber der Charakter! — Der Charakter ist nichts als die ererbte und zum Teil hinzuerworbene Elementar-Konstitution. Er verhält sich insofern zum Wesen eines Menschen grundsätzlich nur so, wie der Sinn zu den Buchstaben, welche ihn ausdrücken. Woraus denn folgt, dass die charakterliche Konstitution als solche vom Wesensstandpunkt schlechterdings gleichgültig ist. Hier kann man nun sagen: je mehr Triebe, zumal je mehr Elementartriebe, desto besser, denn desto reicher das Instrument, mit dem das Wesen spielen kann; oder auch mit dem Talmud: je größer der Mensch, desto größer ist sein Trieb. Die neue Charakterologie läuft nun Gefahr, zu einer größeren Veroberflächlichung zu führen, als sie sich je die frühen Psychologen zuschulden kommen ließen. In den Charakterkomponenten wird das Wesentliche gesehen, nicht in dem, was einer aus oder mit ihnen macht (was allerdings aus dem Charakter und dessen Spiegel, der Handschrift, nicht herauszulesen ist). So las ich neulich in einer Analyse der Handschrift Blumhardts, des Sehers und Heilers, es sei so sehr erfreulich, dass nichts Unsublimiertes, nichts Unvermenschlichtes sich in ihr fände. Du lieber Gott! Zunächst ist festzustellen, dass Blumhardt, bei all seinem ungewöhnlichen Sonderkönnen, kein großer Mann war. Dann, dass nur der Großes leisten kann, der über kosmische Urkräfte verfügt. Die neuere Charakterologie läuft also theoretisch Gefahr, im Oberflächlichen die Tiefe zu sehen und praktisch durch eine Hintertür — allerdings eine Hintertür, denn Nietzsche wird als Vorläufer verehrt! — einen Alte-Tanten-Moralismus Marlittscher Färbung in zeitgemäßem Gewand neu einzuführen in die veränderte Welt. Denn um nichts Besseres handelt es sich bei der neuerlichen Bekämpfung des erdbeherrschenden Geists, ob in seinem Logos- oder seinem Machtaspekt.

Gerade jetzt ist übrigens ein Buch erschienen, das, obschon aus dem Charakterologenkreise offenbar nahestehender Quelle stammend, den eben gerügten Missverständnissen entgegenwirkt. Das ist Wilhelm Lange-Eichbaums Genie, Irrsinn und Ruhm (München 1928, Ernst Reinhardt). Das Buch ist nicht gut geschrieben, zu wenig konzentriert, zu stoffüberladen, zu wenig geformt — es ist nicht mehr als Material, obgleich es mehr hätte sein können; für metaphysische und religiöse Fragen beweist der Verfasser so gut wie kein Verständnis. Dafür beweist es implizite mit einer Klarheit, die jedem nicht Verblendeten einleuchten muss, wie völlig ausgeschlossen es ist, von der Charakterologie her geistige Werte zu beurteilen. Beinahe alle sehr bedeutende Menschen waren, von der Norm her beurteilt, Psychopathen; bei den meisten bedeutete dabei das Pathologische den eigentlichen Antrieb. In dieser Hinsicht bedeutet gerade das Unzulängliche des Buchs — sein Gelehrtenhaftes im schlechten Sinn — eine ansehnliche Hilfe beim erforderlichen Reinmachen. — Und noch eins ist an diesen Buch sehr gut — dass es die Substanz Genie vernichtet. Nach Lange-Eichbaum gibt es grundsätzlich keine unbekannten und keine verkannten Genies, denn dessen Begriff sei nur soziologisch zu fundieren — von seinem Numinosen und seinem Rang im Volksbewusstsein her. Unabhängig von diesem Soziologischen gäbe es nur Hochtalente, von denen die meisten nie ihrer Begabung entsprechende Würdigung erführen. So ist es.

1 In dieser Hinsicht wüßte ich heute niemand Kompetenteres, als unser Mitglied Elisabeth von Brasch (Adresse München, Türkenstraße 4). Was sie auf den bei ihr üblichen drei Seiten sagt, ist meist ein Meisterwerk konzentrierter Menschenkunde. Auf sie beziehen sich im übrigen die folgenden Einwände nicht: sie besitzt die Fähigkeit der Intuition für die tiefsten, also übercharakterologischen Zusammenhänge.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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