Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

17. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1930

Kritik der Prophetie

Nicht von Zukunftsschau in irgendeinem okkulten Verstand soll hier die Rede sein, sondern von einer Normalbetätigung des Menschen. Dieser lebt in jedem Augenblick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Insofern das Leben Melodie ist, ist er nicht nur sein Heute, sondern zugleich sein Gestern und sein Morgen. Hiervon geht jeder als Täter, oder allgemeiner, als unbefangen Lebender ganz selbstverständlich aus. Der bloße Gedanke daran, dass der Mensch eine Aufgabe oder eine Bestimmung zu erfüllen, mithin im noch nicht seine Wirklichkeit vollenden könnte, wäre widersinnig, fühlte er sich nicht ganz selbstverständlich, als Lebender und Handelnder, als eben das, was in der Sphäre der Erkenntnis der Prophet ist. Letzteren kennzeichnet nur, dass die Richtung des immerdar einsinnigen Lebensstroms in ihm bewusst erscheint, dass er das ihm Bewusste zugleich zu deuten weiß und dergestalt das Zwangsläufige ins Wirkungsbereich der Freiheit hineinbezieht. Jung spricht vom möglichen prospektiven Sinn der Träume. Diese interpretiert der berufene Analytiker: der Prophet ist, auf überpersönlichem Niveau, Interpret und Träumer zugleich.

Doch im Gesagten erschöpft sich sein Wesen und seine Aufgabe noch nicht. Der prospektive Traum ist seinem Wesen nach nicht Theorie, sondern Wirklichkeit; d. h. das Bild ist hier der Weg zur Verwirklichung, und diese beschleunigt das Verstehen. Gleiches gilt in überpersönlichem Zusammenhang vom Propheten. Zunächst erlebt er die Zukunft unmittelbar und versteht, was ohnehin wird. Vor allem aber weiß er, was werden kann, wenn die Freiheit leistet, was in ihrer Macht liegt1.

Diese nun betätigt er gemäß den Gesetzen der Magie. Er sagt das, von dem er weiß, dass es werden kann, in solcher Form, dass es auf die Dauer nicht umhin kann, sich in der von ihm gewollten Richtung zu verwirklichen. Wenn er also zunächst voraussieht, so ist seine eigentliche Aufgabe die, vorauszuschaffen.

Dies haben die Griechen gewusst, als sie das Wort Prophetie erfanden. Voraussagen bedeutet es; ihnen aber war im Anfang das Wort. In eben diesem Sinne haben die jüdischen Propheten das Christentum vorbereitet: sie wussten einerseits, was werden konnte, führten es andererseits durch schöpferisches Wort herbei. Aus dem Ausgeführten geht nun klar hervor, dass Prophetie im gemeinten Sinn normaler Betätigung heute genau so möglich ist wie im Altertum. Die Einstellung der Schule der Weisheit war von vornherein prometheisch im Gegensatz zu epimetheisch. In diesem Sinne wird sie jahraus jahrein an ihrer Heimstatt weiterwirken. Doch nachdem ich an Grundsätzlichem herausgestellt, was ich bis auf weiteres herausstellen kann, und die dieses enthaltenden Hauptwerke in die wichtigsten Weltsprachen übersetzt sind, gilt meine Hauptarbeit im Großen für die nächsten Jahre besonderen Problemen. Im Spektrum Europas suchte ich einerseits zu bestimmen, was ist, andererseits einer Entwicklung zum Besseren den Weg zu bereiten; alte Völker sind nur in begrenztem Maße entwicklungsfähig. America set free nun ist ein rein prophetisches Buch. Ich suche recht eigentlich Geburtshelfer der Seele der Vereinigten Staaten zu sein. Gleiches plane ich für Süd-Amerika, doch ist die Frucht meiner Reise dorthin noch lange nicht reif. Andererseits bin ich zu sehr mit deren Austragen beschäftigt, um mich auf Abseitiges zu konzentrieren. So biete ich denn unseren Mitgliedern dieses Mal nur ein Fragment meines englisch geschriebenen Nord-Amerika-Buchs in der deutschen, von mir natürlich überarbeiteten Version von Therese Dürr. Wenn sie nachher das ganze Buch lesen — sie sollten es womöglich im amerikanischen Originale tun, denn wann und in welchem Verlag eine deutsche erscheinen wird, steht noch dahin — so werden sie auf Grund dieses Aufsatzes wissen können, was es soll. Es ist in erster Linie kein Buch über Amerika, sondern für die Amerikaner. Doch insofern wir heute im gleichen Sinn in der nordamerikanischen Geschichtsperiode leben, wie es eine römische, germanische, französische und englische gab, so geht das Spezifisch-Amerikanische uns alle an.

1 Man entsinne sich der genauen Abgrenzung des Bereichs der Freiheit im dritten Kapitel der Neuentstehenden Welt.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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