Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

19. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1931

Bücherschau · Ferdinand Lion, Halidé Edib, Cecil Jane

Ich scheue vor dem Superlativ nicht zurück: das interessanteste grundsätzliche Buch über Politik, das ich je las, ist die Große Politik von Ferdinand Lion (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart). Noch nie nämlich sah ich den wesentlich ungeistigen Charakter der Politik so klar erfasst und herausgestellt. Politik ist nicht bloß Kunst des Möglichen: ihr einzig mögliches Material ist einzig und allein das vom Geist der Erde unmittelbar Gebotene, was allein zur Erklärung dessen genügt, warum kein ideologisches Volk je politisch groß ward. Ferdinand Lion nun bietet die meines Wissens erste richtige Bestimmung des Zwangs des Raumes, des Gebots der Zeit, und die erste grundsätzlich richtige Klassifizierung der verschiedenen Machtarten und ihrer möglichen Beziehung zum Wert. Insbesondere zerstört Lion, wie mir scheint, endgültig jede missverständliche Beziehung zwischen Macht und Recht, womit er zugleich den wahren Sinn politischer Verträge enthüllt. Ich meine: nachdem das deutsche Ideologentum sich im letzten Jahrzehnt so weit ad absurdum geführt hat, wie dieses menschenmöglich ist, sollte ein Buch wie das von Lion epochemachend wirken können: möchten es alle denkenden politisch Interessierten — und noch gibt es solche — lesen!

Es besteht nämlich ernste Gefahr, dass, nachdem sich während des ersten Nachkriegsjahrzehnts Ideologentum wie nie früher ad absurdum geführt hat, ein neuer Rückschlag in den Machiavellismus erfolgt, zumal zwei sonst Zukunft verkörpernde Mächte, Italien und Russland, solchen Rückschlag in neuem Zusammenhang verkörpern. Demgegenüber sei erkannt, dass der klassische Machiavellismus nur zu einer ganz bestimmten Übergangszeit praktisch war: nämlich als zugleich die spirituellen und die Gemeinschafts-Bindungen des Mittelalters abstarben. In dieser atomisierten Welt lag die Meinung freilich nahe, nichts zähle außer dem Kraftfeld des stärksten individuellen Atoms. Aber zur Realpolitik unserer Zeit gehört, in striktem Gegensatz zu der Machiavellis, gerade die richtige Einschätzung geistiger Forderungen. Dank deren allzu offener Verkennung befand sich Deutschland im Weltkrieg solcher Feindesübermacht gegenüber. Dank gleicher Verkennung werden die Sieger seither ihres Sieges nicht froh. Und weil es wenigstens einige Geistesmächte richtiger einschätzte als die bürgerliche Welt, steigt Sowjet-Russland trotz Not und Elend wenn nicht tatsächlich, so doch als Sinnbild für Asien unaufhaltsam weiter auf. Diese Seite des Problems hat Lion nicht von entsprechender Fragestellung aus behandelt. Aber die anderen Realitäten, die Politik zu handhaben hat, sind so richtig gesehen und eingestellt, dass meine wenigen ergänzenden Sätze, welche der obige Abschnitt enthält, im Zusammenhang mit den Darlegungen des politischen Zyklus der Schöpferischen Erkenntnis genügen dürften, um das, worauf es ankommt, bewusst zu machen.

Wie ich die Bücherschau abschließen wollte, kam ich endlich dazu, das Buch der türkischen Politikerin und Schriftstellerin Halidé Edib, das diese mir schon vor einem Jahr geschickt hatte, Turkey faces West (New Haven 1930, Yale University Press; London: Humphrey Milford & Oxford University Press) zu lesen. Dieses Buch empfehle ich jedermann — ja ich hoffe dringend, dass bald eine deutsche Ausgabe desselben erscheine. Denn nicht nur gibt es ein wunderbar klares Bild der Entwicklung, welche zur heutigen türkischen Republik geführt hat: es ist vorbildlich in mehreren Hinsichten. Erstens ist es vorbildlich als politisches Verständnis — was beweist, dass zum mindesten die orientalische Frau sehr wohl zu politischer Betätigung geeignet ist. Dann ist es vorbildlich als überlegene Art, die Niedertracht politischer Schachspieler bloßzustellen. In Deutschland wähnt man, nach dem Kriege sei Deutschland am bösesten mitgespielt worden: weit schlimmer, weit gemeiner und weit ehrloser sind die Türken behandelt worden; so unerhört ist da das Spiel der Diplomaten gewesen, so sehr entehrt haben sich den Türken gegenüber alle damals Mächtigen, dass es ein Zeichen äußerster menschlicher Größe ist, wenn in der Türkei kein ewiger Hass gegen den Westen glimmt. Und damit gelange ich zum Letzt-Vorbildlichen: denselben Geist echtester Großmut atmet Halidé Edib selbst. Sie trägt wirklich nichts nach; sie denkt nur an bessere Zukunft. Furchtlos entlarvt sie Gemeinheit und Niedertracht. Und doch tut sie es lächelnd: wir sind alle Menschen… Gerade Deutsche müssen dieses Buch lesen. Schon im Spektrum habe ich gezeigt, wie die Haltung und Entwicklung der Türkei das eine positive Phänomen des bisherigen Nachkriegs-Europa ist. Vergleicht man, was die Türken getan, mit dem Geschrei des deutschen Extremisten, so kann man, als Deutscher, nur demutsvoll das Haupt lüften. Die Türken haben bewiesen, dass sie ein großes Staats-Volk sind. Ob die Deutschen es sind, müssen sie noch beweisen.

Ich schrieb: das bisherige Nachkriegs-Europa. Denn jetzt ist, wenn nicht alle Anzeichen tauschen, ein neuer Faktor hinzugekommen: Spanien. Ich will gewiss nicht Partei nehmen für die Republik gegenüber der Monarchie. Sicher aber ist, dass letztere es nicht verstand, rechtzeitig Spaniens beste Kräfte in den Vordergrund zu stellen und zur Mitarbeit heranzuziehen. Fortan werden die Kräfte bestimmen. Freilich mögen noch schwere, ja gefährliche Zwischenzeiten kommen. Aber gewiss ist, dass der ungeheure Reichtum des Iberiertums jetzt in der neuentstehenden Welt zur Geltung kommen wird. Ich brauche nicht zu wiederholen, was ich so oft schon über den kommenden iberischen Kulturkreis in Spanien und Deutschland gesagt habe. Zuletzt sprach ich in Palma de Mallorca, am 28. März, über Spaniens Sendung in der Welt… Sicher wäre sie auch unter der Monarchie zu erfüllen gewesen. Es ist anders gekommen. Desto gewisser erscheint, dass die spanisch sprechende Welt sich auf neue, zeitgemäße Art zusammenschließen wird, in Gegensatzstellung zu allem, was bloß mechanisch ist. Und vielleicht tritt bald auch Portugal der iberischen Föderation bei: dann, und dann allein blühte diesem reichbegabten Volk eine neue bedeutsame Zukunft1.

An spezielleren politischen Büchern, die ich las, empfehle ich Liberty and Despotism in Spanish America von Cecil Jane (Oxford, Clarendon Press). Es ist für uns Europäer nicht allein von größtem Interesse, zu verstehen, was die immer wiederkehrenden Revolutionen in Südamerika wirklich bedeuten, weil dieser Kontinent unweigerlich zu immer bedeutenderer Machtstellung gelangen wird: auch in Europa begegnet man häufiger und häufiger südamerika-ähnlichen Zuständen. Man denke nur an Polen, Italien, Portugal, Jugoslawien und Griechenland. Revolutionäre Dauerzustände mit ihren korrelativen Bändigern stellen sich zwangsläufig dort ein, wo das Gleichgewicht innerhalb der Seelen zerstört und ein neues noch nicht erreicht ist. Während der ersten Jahrhunderte der Germanenherrschaft ging es in Europa genau so her wie in Bolivien oder Mexiko, weil die germanischen und römisch-mittelländischen Elemente noch zu keiner neuen stabilen Synthese verschmolzen waren; umgekehrt bedeutet das dauernde Brodeln und Kochen jenseits des Ozeans nichts anderes als den Verlauf eines psycho-chemischen Prozesses, und ist insofern positiv zu bewerten. Da ist noch echte Lebenskraft vorhanden. — Aber auch Europa verjüngt sich, dank neuer Ideen einerseits, und dem Aufsteigen neuer Volksschichten andererseits. Dieser Prozess ist augenblicklich überall schon an der Oberfläche spürbar, mit der einen Ausnahme Frankreich. Aber auch hier bedeutet die Erscheinung, gottlob, letztlich Schein. Einem französischen Journalisten antwortete ich im Frühjahr 1930 auf seine Frage, wie ich das heutige Frankreich definieren würde: c’est le pays qui ne compte pas avec la jeunesse. Aber eine neue Jugend ist doch schon da. Nur verzichtet sie auf jede äußerlich sichtbare Einflussnahme, bis dass sie das in Frankreich zum Sichtbarmachen übliche Alter erreicht hat, und dieses liegt jenseits des Schwabenalters. Diese jungen Franzosen sind noch verschiedener von den älteren, als sich zwei Generationen im übrigen Europa voneinander unterscheiden. Im Industriegebiet des Nordens und Elsaß-Lothringens haben sie richtiges Neuland gefunden. Der Weltkrieg, der Versailler Vertrag, die deutsch-französischen Beziehungen als solche interessieren diese Jungen kaum. Mit diesen wird Verständigung einmal leicht sein. Bis dahin frommt nur eine Politik: das ist die des Zeitgewinnens.

1 In die 5. Auflage des Spektrums, die, in vielen Hinsichten umgearbeitet und erweitert, im Sommer 1931 erscheinen wird, habe ich ein neues Kapitel Portugal aufgenommen.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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