Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

21. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Bücherschau · Carlo Suarès · Krishnamurti

Beinahe als Sensation habe ich Carlo Suarès’ Krishnamurti (éditions Adyar, Paris 1932) empfunden. Ich hatte den Gegenstand dieses Buches, wie den Lesern des Reisetagebuchs vielleicht erinnerlich, als Jüngling gut gekannt. Wie ich nach dem Weltkrieg zuerst wieder von ihm hörte, überraschte mich die Freudigkeit, mit der Krishnamurti selbst auf meine doch ironischen Betrachtungen über die Möglichkeit eines neuen Welterlösers hinwies. Seither hörte ich von ernst zu nehmender Seite eigentlich nur Gutes über ihn: wenige beurteilten Krishnamurti als großen oder tiefen Geist, aber eigentlich alle als besonders reine und schöne Seele. Und wie er dann sein Welterlöser-Postament verließ, alle Nachfolger bewusst enttäuschend — und doch vielen ein Führer, ein Vorbild blieb, da blieb mir kein Zweifel mehr, dass Krishnamurti als moralische Persönlichkeit tatsächlich außerordentlich ist.

Mit seiner Lehre konnte ich freilich nie viel anfangen; ihre philosophische Unzulänglichkeit ist gar zu groß, und der amerikanische Interview-Stil, den Krishnamurti sich für seine Aussagen angeeignet hat, ist wenig geschickt, über das den Leser Hemmende hinüberzuhelfen. Nun hat Carlo Suarès — für seine Person ein radikaler Denker, der mehr oder weniger vom Leninschen Kommunismus ausgeht, was zunächst in seiner Comédie psychologique (Verlag Joseph Corti, 6 rue de Clichy, Paris 9) noch wenig überzeugend, aber schon recht anregend zum Ausdruck kommt — nun hat Carlo Suarès Krishnamurtis Botschaft auf ihre geistigen Unter- und Beweggründe hin zusammengefasst und damit deutlich gemacht, wieso es möglich ist, dass dieser Welterlöser-Renegat gerade heute eine solche Rolle spielen kann (denn dass er dies tut, darüber besteht kein Zweifel): eben auf seinem Renegatentum, welches offenbar von Hause aus, als unbewusste Intention, von ihm ausstrahlte, beruht seine Wirkung. Krishnamurti steht tatsächlich Moskaus Geist sehr nahe.

Nur eben als Inder. Dies gilt ja auch von Gandhi. Es galt, mutatis mutandis, sogar von Buddha. Jede Weltanschauung, die auf Ich-Tötung oder Ich-Leugnung im indischen Verstande aus ist, erscheint grundsätzlich einer Fortentwicklung zum russischem Kollektivismus und russischer Gottlosigkeit fähiger, als dies von irgendeiner europäischen gilt. Krishnamurti ist für einen Inder merkwürdig unintellektuell; deswegen trifft er so ungern geistige Entscheidungen. Aber alle Entscheidungen, die er trifft, liegen auf der skizzierten Linie. Der Ich-Mensch sei der Untermensch, das Individuum ein zu Überwindendes. Und nennt sich Krishnamurti einen Befreiten, so meint er Ich-Befreitheit weniger in metaphysisch-indischem als in russischem Verstand.

So ist denn Krishnamurti letztlich ein Vertreter unter anderen der Chauffeur-Front: er bezeichnet gleichsam deren lyrischen Flügelmann. Dieses, und dies allein erklärt, wieso sein Verleugnen alles dessen, dem er seine Erhebung und Stellung verdankt, ihm nicht geschadet, sondern ihn, im Gegenteil, gefördert hat. Will er Lehrer der ganzen Welt sein, dann muss er heute ja gerade gegen Religion, Metaphysik, Okkultismus und Jenseitigkeit Stellung nehmen. Krishnamurti ist auf seine besondere Art ein Hauptvertreter der Gottlosen-Religion. Was mir nun Suarès Buch vor allem interessant machte, ist die Feststellung, dass Krishnamurtis Weltanschauung beinahe restlos aus dem Geist inneren Widerspruchs heraus geformt worden ist. So wie er zum Messias, wurde kein Königssohn je zum König vorbereitet; er erwuchs ganz und gar in okkultistisch-theosophischer Umgebung. Diese ganze Vergangenheit verleugnet er heute radikal; er lehrt nahezu überall das strikte Gegenteil dessen, woran Annie Besant und Leadbeater glauben. Nun sind freilich die meisten Neuerungen oder Wendungen an erster Stelle durch psychologischen Widerspruch ausgelöst worden. Aber ein so radikales Beispiel dieses Phänomens wie das Krishnamurtis kenne ich aus der ganzen Geschichte nicht. Das sollten alle die meditieren, die von ihm her Fortschritt erwarten. Der Fall Krishnamurtis hat in wichtigsten Hinsichten denselben Sinn wie derjenige der heutigen deutschen Jugend. Wovon später genauer die Rede sein soll.

Mich regte — aus gleichem primitivem Widerspruchsgeist heraus, dem man ruhig folgen darf und soll, wenn man ihn nur nicht ernst nimmt, denn in ihm äußert sich normales psychologisches Abwechslungsbedürfnis — mich regte Krishnamurtis Verleugnen seiner okkultistischen Vergangenheit gerade zu erneuter Beschäftigung mit dem Problem des Okkultismus an. Und zu guter Stunde kam mir da Walter Hasenclevers prachtvolle Verdeutschung oder vielmehr Nachdichtung einer Auswahl aus den Schriften Emanuel Swedenborgs in die Hand (Himmel, Hölle, Geisterwelt, Berlin 1925, Verlag die Schmiede). Es ist ja unmöglich, solche Gesichte nachzuprüfen. Aber das scheint mir gewiss: Swedenborgs Schau ist echt, und erfinden können hätte er diese Gesichte nicht. Sie entstammen also zweifellos einer Region sonst unbewusster Wirklichkeit. Ich will es offen gestehen: immer weniger zweifle ich daran, dass es noch andere Welten lebender Wesen gibt als die uns sichtbare. Alles spricht dafür, dass die uns bekannten Faunen nicht die einzigen sind. Und inwiefern ist das, was über Feen und Elfen und Zwerge und Gnomen und Götter berichtet wird, unwahrscheinlicher, oder auch nur anderer Art, als es die Vielfalt der Geschöpfe ist, die man heute im Berliner Zoologischen Garten auf einzige Art zusammenschauen mag? Immer aufmerksamer besuche ich letztere Stätte unerreichten Tierverstehens. Jüngst versenkte ich mich unmittelbar nacheinander in den See-Elephanten und die Kolibris, und ließ alsdann die Gestalten der afrikanischen Kampfadler und der eitelsten unter den Paradiesvögeln Neu-Guineas auf mich wirken; zum Schluss weilte ich lange vor den Gorillas und Orang-Utans. Dabei ward mir zur festen Überzeugung: diese lebendige Mannigfaltigkeit kann nicht die einzige sein. — Was nun Swedenborg über die Entsprechungen lehrt und die Zuständlichkeit als Lebensform des Geistes, leuchtet mir heute mehr denn jemals früher ein. Denn hier handelt es sich um Sublimierungen eben dessen, was auf den Ebenen der Gana und der emotionalen Ordnung da ist oder vorgeht. Warum sollte es nicht selbständige Welten solcher Art geben?

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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