Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

21. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Bücherschau · Leo Frobenius · Schicksalskunde

Mit niemandem habe ich je fruchtbareres Zwiegespräch über Kulturwerden und Kulturschicksal gepflogen als mit Leo Frobenius. Er ist kein Mann der Begriffe. Doch er besitzt — ich benutze die beiden Worte in dem besonderen Sinn, welchen Frobenius selber ihnen verliehen hat — eine so außerordentliche Fähigkeit zur Ergriffenheit, dass selbst aus seinem Gestammel mehr Wahrheit als Wirklichkeitsausdruck spricht, als aus den durchdachtesten Darlegungen anderer Forscher. Und allerdings ist das meiste dessen, was Frobenius als Denker herausgestellt hat, Gestammel. Er ist ein so rein intuitiver Geist — insofern nahezu ein posthumer Spross des Zeitalters des Sonnengottes — dass ihm keine begriffliche Festlegung wirklich entspricht. Ich rede hier, wohlgemerkt, vom Denker Frobenius: auf sein sichtendes Forschertum bezieht sich diese Charakteristik nicht.

Nun hat aber Frobenius doch ein Werk geschrieben, das eine höhere Kongruenz zwischen Intuition und Begriffsfassung dokumentiert, als ich sie ihm jemals zugetraut hätte: dies ist seine jüngst erschienene Schicksalskunde (Leipzig, R. Voigtländer Verlag). Diese muss ihm zu einzig günstiger Stunde in die Feder geflossen sein. Denn was immer gegen dieses Buch einzuwenden sei — die Einwände können sich nur auf Frobenius’ Begriffskonstruktionen überhaupt beziehen, nicht deren Ausdruck. Dieser ist hier, von Frobenius’ Standpunkt, als endgültig anzusprechen. Lange las ich kein ähnlich anregendes Buch. Ich wünsche es in jedermanns Hände. Zumal es wieder und wieder gerade auf Deutschlands Schicksal jetzt, ab 1931, Bezug nimmt. Im folgenden möchte ich einiges darüber, sowie über das, was mir anlässlich Frobenius’ Meisterwerk eingefallen ist, sagen.

Nach Frobenius schreitet die wahre Kulturgeschichte der Menschen nicht von Begriff zu Begriff, sondern von Ergriffenheit zu Ergriffenheit fort. Begriffe, mittels welcher die Wirklichkeit gemeistert wird, sind die letzten Ausdrucksformen vorherbestehenden Lebensgefühls; alles das, was nachträglich als leitende Idee oder hervortretendes Prinzip zu deuten ist, tritt zunächst als unwillkürlicher und unverstandener Ausdruck in die Erscheinung. Diese oder jene Seite der totalen Wirklichkeit ergreift, in einsinniger Folge, oder periodisch, oder von Landschaft zu Landschaft, eine Menschenart mit der Wucht ausschließlicher Besessenheit. Und aus dem besonderen Ergriffensein überhaupt ergibt sich dann a posteriori die jeweilige Kulturgestaltung. So hat jeweils das Sinnbild des Tiers, oder der Pflanze, oder der Sonne, oder des Mondes, oder die geschaute schaffende Natur, oder ein als Wirklichkeit erlebtes geistiges Jenseits die Menschen ergriffen. Einmal ergriffen, waren diese unfähig, irgend etwas anders zu erleben als eben von ihrer vorherbestehenden Besessenheit her. Hörte diese nun aber auf, dann verlor alle Sondergestaltung der jeweiligen Kultur auf einmal ihre lebendigen Wurzeln. Und ebenso schroff grenzen Landschaften verschiedenen Lebensgefühles gegeneinander ab. So steht fest, dass seit paläolithischen Tagen eine unverrückbare Lebensgefühlsgrenze auf dem Vogesenkamm verlaufen ist…

Die letzte Ergriffenheit der westlichen Menschheit ist nun die durch die Tatsachen gewesen. Tatsachen im heutigen Verstand sind vor dem 18. Jahrhundert kaum bemerkt worden. Aber vom 19. ab wurden sie so ausschließlich bemerkt, wie in früheren Zeiten magische Zusammenhänge allein das Bewusstsein beeindruckten. Aus diesem Besessensein durch die Tatsachen allein — welche Besessenheit genau gleicher Art ist, wie dies jede Besessenheit war — und nicht etwa aus endgültig konsolidiertem geistigen Vorgeschrittensein erklärt sich die ungeheure Dynamik des technischen Zeitalters. Es höre diese Besessenheit auf — und alle Fragestellungen, die das 18. Jahrhundert zuerst zur Macht berief, werden erledigt sein.

Der Sinn der gegenwärtigen Weltkrise ist nach Frobenius der, dass das Zeitalter der Ergriffenheit durch die Tatsachen seinem Ende zuneigt. Und dies erklärt auch Deutschlands besonderes Schicksal. Das Zeitalter der Tatsachenbesessenheit war das Zeitalter der Westvölker; seine Grundformen repräsentieren der englische Realismus, der französische Rationalismus und der amerikanische Materialismus. Deutschlands natürliche Einstellung ist nicht die einer Ergriffenheit durch die Tatsachen, sondern durch das, was Frobenius Wirklichkeit heißt: das Wesen der Dinge in ihrer vortatsächlichen Integralität, also praktisch durch ihren weltanschaulichen Sinn. Deswegen war Deutschland im Tatsachenzeitalter niemals so echt, wie dies die Westvölker waren. Deswegen fehlte ihm in diesem Zeitalter jede werbende Kraft. Deswegen musste es, da der Zeitgeist nun einmal westländisch war und Selbstbehauptung nur in seinem Rahmen gelingen konnte, die Tatsachenbetonung übertreiben: nur in der Übertreibung konnte es sich überhaupt dauernd auf sie einstellen. Deswegen war es echtes Schicksal, dass Deutschland hier den Westvölkern unterlag: in schiefer Einstellung kann sich niemand lange aufrechterhalten. Aber andererseits bedeutet dieses Unterliegen für Deutschland kein Ende. Da das Tatsachenzeitalter als solches zur Neige geht und der neue Zeitgeist eine Totalzusammenfassung der erdebewohnenden Menschheit fordert, welche Aufgabe gerade Deutschlands pathischer und universeller Anlage gemäß ist, so schlägt, nach Frobenius, eben dank seiner Niederlage in dieser Wende Deutschlands Stunde.

In der Tat: wie ließe sich die Zukunftsgewissheit nicht nur der heutigen nationalen Jugend, sondern auch der Revolutionäre von 1918, deren Tag heute zum Abend wird, die aber vor 14 Jahren sehr ähnlich empfanden, wie es heute die rechtsradikale Jugend tut, verstehen? Wie sonst die Angst der Westvölker vor Deutschlands Wiederaufstieg? Wie sonst das allgemeine Gefühl, Deutschland gehöre nicht mehr der Westwelt an, sondern irgendeinem noch unartikulierten Osten? — Ich glaube, in Frobenius’ kulturmorphologischen Einsichten liegt in der Tat der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Paradoxie von Deutschlands heutiger Lage. Deutschland gehörte seelisch nie wirklich der Westwelt an; so war es logisch, dass es im Kampfe unterlag; es erstrebte Weltgeltung in ihm wesensfremder Gestaltung. Aber da die historische Stunde der Westwelt überhaupt im Ablaufen ist, so trägt das noch so geschwächte, noch so bedrängte Deutschland in der Tat mehr Zukunft in sich als alle Westvölker zusammen, sofern seine Wesensart wirklich den Anforderungen der neuen Zeit entspricht.

Die für Deutschlands Schicksal entscheidende Frage ist offenbar, ob besagtes sofern zutrifft. Die Frage ist jedenfalls nicht zu bejahen, wenn die Antwort dahin zu lauten hätte, dass eine Zeit deutscher Hegemonie im Anzug wäre. Eine solche Zeit ist schon deshalb nicht im Anzug, weil die Zeit möglicher Imperialismen im allgemeinen, und europäischer Imperialismen im besonderen, grundsätzlich um ist. Heute liegt das nicht offen zutage. Aber bis Deutschland neu erstarkt ist, wird jeder europäische Imperialismus unter allen Umständen erledigt sein. — Ebensowenig ist die Frage dahin zu bejahen, dass nun eben die Stunde der deutschen Rasse schlüge. Das im aktuellen Verstande Wichtigste von Frobenius’ Lebenswerk ist vielleicht der grundsätzliche Nachweis dessen, dass Rasse überhaupt kein Kulturfaktor ist. Besteht ein bestimmtes überzeugendes Lebensgefühl, dann assimiliert es von sich aus die verschiedensten Bluteinheiten (wie man dies heute am deutlichsten an Frankreich sieht). Besteht kein solches umfassendes Lebensgefühl, sondern nur völkische Sonderart, dann gibt es überhaupt keine Kultur. Das im rassischen Verstande Deutsche oder Nordische ist ein rein biologisches Element, dem bei der Kulturgestaltung unter keinen Umständen ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Und im Falle Deutschlands bedeutet das Blut besonders wenig, weil das Wesen der deutschen Kultur in ihrer einzigartigen Weltoffenheit und Aufnahmebereitschaft liegt. Genau wie jeder wahrhaft große Deutsche wesentlich Universalist war, so war die alte deutsche Kultur, solange sie im großen herrschte, übernational; sie umfasste Tschechen und Ungarn genau so wie Germanen.

Und dennoch ist die Frage, ob der kommende Zeitgeist Deutschlands Wesensart besonders entsprechen werde, meiner festen Überzeugung nach zu bejahen. Denn die Weltprobleme sind fortan überhaupt nur von der Totalität her zu lösen, von keinem Imperialismus und auch von keinerlei engherziger Einseitigkeit her. Und das einzige Volk des heutigen Europa, dessen beste Typen unwillkürlich von der Totalität her denken und universell eingestellt sind, sind die Deutschen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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