Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

21. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Bücherschau · Belloc, Strachey, Cassou, v.Taube, Dobert

In den beiden letzten Abschnitten war vom deutschen Schicksal die Rede und damit, implizite wenigstens, von dem, was wir Deutsche in diesem Zusammenhange wollen sollen. Seit ich sie niederschrieb, ist wiederum vieles anders gekommen, als Vernunft und Verstand zu erwarten nahelegten… Nunmehr wäre, scheint mir, eine kurze Belichtung dessen am Platz, wie wenig im üblichen Sinn zu planen und zu wollen ist.

Ich tue es am besten wiederum an der Hand einiger Bücher, die ich diesen Sommer las. Der geistreiche englische Katholik Hilaire Belloc hat ein Buch über die englische Reformation geschrieben, das den Titel How the Reformation happened führt (London, Jonathan Cape). Tatsächlich war die Reformation, so wie sie sich auswirkte und ausgestaltete, ebensowenig ein Produkt der Voraussicht, wie dies vom heutigen deutschen Zustand gilt. Wieder und wieder verursachten Zufälle oder Nebensächlichkeiten die entscheidenden Wendungen. Dementsprechend beruht die ganze moderne englische Staatskunst seither darauf, jede Festlegung zu vermeiden, bis dass ersichtlich ist, wohin das natürliche Gefälle der Ereignisse gerichtet ist. Diese Staatskunst hat wiederum Zufall zum Bewusstseinsmotiv erhoben: der ungeheure Erfolg, mit dem Königin Elisabeth’s an sich allzuweibliche Unschlüssigkeit und Inkonsequenz gekrönt war. Aus ihr zog zuerst Robert Cecil methodisch Konsequenzen. Gerade auf dieses Problem hin rate ich jedem politisch Interessierten Lytton Stracheys berühmtes und tatsächlich vortreffliches Buch Elisabeth and Essex (London, Chatter & Windus) zu lesen, denn es betrifft recht eigentlich den Nerv der elisabethanischen Staatskunst. Wer sich nun an obigen eklatanten Beispielen dieses Irrationalen, mit dem alle Politik behaftet ist, bewusst ward, der wird Tolstois langatmigen Betrachtungen in Krieg und Frieden darüber, dass es eigentlich weder große Feldherren noch große Staatsmänner gäbe, besser gerecht werden, als er es früher tat. Auf dem Gebiet der Geschichte erscheint Tolstois Leugnung der selbständigen Bedeutung des großen Geistes in den Tatsachen wirklich besser begründet, als jeder Genieglaube. Mir wurde die Wahrheit von Tolstois Ansicht, soweit sie Wahrheit ist, sehr deutlich, als ich Jean Cassou’s Grandeur et infamie de Tolstoï (Paris 1932, Bernard Grasset) las. Wie wohl keiner vor ihm hat Cassou Tolstois Unbewusstes durchleuchtet. Und dessen Unbewusstes war wunderbar verwachsen mit dem Weltgeschehen, so naiv-brutal sein Verstand es zu vergewaltigen trachtete.

Wie liegen die Dinge nun in Wahrheit? Soweit sich das in wenigen Sätzen aussprechen lässt, liegen sie folgendermaßen. Insofern die Politik durchaus der Gana-Ebene angehört, ist es grundsätzlich missverständlich, zu erwarten, dass sich Geist jemals gradlinig in ihr auswirken könnte. Nur auf Umwegen vermag er’s. Dies gilt auch für den seltenen Ausnahmefall diktatorischer Machtvollkommenheit eines wirklich Ein- und Weitsichtigen, denn seine Übermacht schafft zwangsläufig überstarke und -zähe Gegenbewegungen, so dass gewaltsam erzielte Erfolge sich letztendlich allemal als die wenigst gesicherten erweisen. Es ist aber nicht wahr, dass das historische Geschehen gar nicht zu lenken wäre. Dieses hat allemal von sich aus ein bestimmtes geist-mitbestimmtes Gefälle; und weil es solch ein Gefälle gibt, welches der Entwicklung des Unbewussten entspricht, ergeben sich aus der Interferenz von Wille und Zufall schließlich doch echte Notwendigkeiten. So waren weder die Reformation noch Englands Entwicklung zur Weltmacht noch Napoleons Schicksal letztlich Zufälligkeiten. Wer nun dieses Gefälle in seiner Eigenart spürt und versteht, der vermag ihm auch Richtung zu geben in den (freilich seltenen) Augenblicken, wo Richtungsänderung möglich ist. Aber nur der vermag es. Doch da sehr wenige, wenn sie die Welle einmal empor trug bescheiden (im wahren Sinn der Selbstbescheidung bei dem, was sie wirklich sind) bleiben, so glauben sie an irgendeinem Punkte leider beinahe immer, in ihrer Person das Schicksal zu verkörpern. Dann natürlich scheitern sie. Nur der scheitert nicht zwangsläufig, welcher sich nicht für einen anderen hält als der er ist. Man gedenke des herrlichen Bismarck-Worts: der Mann ist gerade so groß, wie die Welle, die unter ihm brandet…

Übrigens ist die dichterische Parodie blinder oder verrückter nationalsozialistischer Gesinnung schon geschrieben, oder genauer, das dichterische Gericht über dieselbe ist schon abgehalten worden. Nämlich schon im Jahre 1926 durch Otto von Taube’s Roman Das Opferiest (Insel-Verlag, Leipzig 1926). Dieser Roman sollte in Millionen von Exemplaren verbreitet und von jedem Deutschen gelesen werden. Das Gute völkischer Gesinnung wird da vollkommen gewürdigt, wie ja Taube besonders viel Sinn für die Wirklichkeit von Blut und Erde hat. Aber die Auswüchse erscheinen zugleich so meisterhaft geschildert, dass ich nicht anstehe, dieses Buch zum besten der satirischen Literatur Deutschlands zu zählen. Dabei ist alles Gestalt an diesem Roman, nichts Reflexion, nichts graue Theorie.

Zum Abschluss dieses Abschnittes möchte ich aber auf ein Buch hinweisen, dessen Lektüre den wütigsten Nazi-Gegner versöhnen muss: das ist Eitel Wolf Doberts Ein Nazi entdeckt Frankreich, (Bern und Leipzig 1932, Gotthelf-Verlag). Es ist mir bei der Lektüre nicht klar geworden, ob Dobert noch formell der Partei angehört oder nicht. Doch darauf kommt es nicht an, seiner Gesinnung nach gehört er durchaus zu dieser Jugend. Und wenn etwas Hoffnung auf günstige Fortentwicklung der nationalsozialistischen Jugend erwecken kann, dann ist es die Entwicklung Doberts. Er begann mit allen in seinem Kreise üblichen Vorurteilen. Aber dann setzte er sich mutig mit der französischen Jugend persönlich auseinander, lernte diese bei allem Beharren auf deutscher Position und unentwegter Verteidigung derselben achten und lieben. Doberts Bekenntnisschrift ist von Liebe durchglühte Wahrhaftigkeit. So muss aller Hass zu Liebe werden, wenn Europa wieder einmal schön werden soll. Und ein nur-deutsches Schicksal, eine nur-deutsche Aufgabe gibt es nicht mehr.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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