Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

22. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1933

Bücherschau · André Germain, Richard Benz, Oswald Spengler

Nicht nur zum Urteilen, erst recht zum Austeilen geistiger Impulse bedarf es der inneren Distanz. So ist es kein Wunder, dass das allermeiste dessen, was in Deutschland seit der Deutschen Revolution über Deutschland geschrieben worden ist, nur ein hastiges Mitlaufen darstellt. Noch hat meines Wissens kein deutscher Tagesschriftsteller gleich überlegenen Überblick bewiesen wie der Franzose André Germain mit seinem Buch Hitler ou Moscou? (Les éditions Noél et Steele, 19, rue Amélie, Paris). Freilich schreibt Germain als Franzose und beurteilt deshalb manches als Gefahr, was auf Deutsche nur als Vorzug wirkt. Aber bewundernswürdig objektiv und weitsichtig ist sein Buch trotzdem. Dem ganzen Idealismus der nationalen Bewegung wird es gerecht; überdies aber ordnet es diese in die großen historischen Zusammenhänge im großen ganzen richtig ein. Diese Reportage ist ein Meisterwerk des Journalismus; sie ist zugleich ein schönes Wahrzeichen echten guten Willens. Von deutschen Büchern, welche im Tageskampf entstanden, kann ich eigentlich nur Gottfried Benns Der neue Staat und die Intellektuellen (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart) empfehlen, und zwar nicht wegen des Gesamtinhalts des Buchs, sondern wegen der zwei Rundfunkreden Der neue Staat und die Intellektuellen und Antwort an die literarischen Emigranten, welche es enthält. Hier wird glücklich und zum Teil zeitlos gültig formuliert, warum der Geistige gerade jetzt in Deutschland bleiben und durchhalten soll.

Dafür freue ich mich, darauf hinweisen zu können, dass schon ganze zwei deutsche Philosophen Reifes an produktiver Zeitkritik von sehr hoher Erkenntnis-Warte aus über die große Wende, welche wir durchleben, zu sagen gewusst haben: Richard Benz und Oswald Spengler. Ersterer hat in Geist und Reich (Jena 1933, Eugen Diederichs Verlag) eine Gegenüberstellung der heute wirkenden Schlagworte mit der Wirklichkeit, auf welche sie nur hindeuten, insbesondere auf die Begriffe von Rasse, Volk und Nation gegeben, welcher jeder Denkfähige ernstlich meditieren sollte. Je gespannter und aufgewühlter zugleich die Zustände sind, desto gefährlicher ist das bloße Nachbeten von Programmen, denn desto mehr schafft, dank der ungeheuren Kraft der wirkenden Massensuggestion, das Wort Wirklichkeit, und folglich das verfehlte oder ungenaue Wort verderbliche Wirklichkeit. Man gedenke jener Richtigstellung der Bezeichnungen, welche Konfuzius als wichtigste Aufgabe jedes Fürsten bei seinem Regierungsantritt hinstellte, mit der ich mich im Kapitel Politik und Weisheit der Schöpferischen Erkenntnis ausführlich befasst habe. Es gibt unter den heute in Deutschland geschichtlich wirksamen Intentionen kaum eine, die nicht im Grunde positiven Sinns wäre. Aber sehr selten noch entspricht die Vorstellung dieser tiefen Wirklichkeit. Hier hat sich Richard Benz ein schwer zu überschätzendes Verdienst erworben: jeder, schlechthin jeder, der diese Zeit verstehen will, sollte Geist und Reich lesen. Ich selber tat es mit besonderer Freude deswegen, weil Benz als wahre Zukunftsaufgabe eben das vertritt, was die Schule der Weisheit schon seit 1920 unentwegt vertreten hat. Doch er tut dies offenbar ganz selbständig; weder Schöpferische Erkenntnis noch Wiedergeburt scheint Benz gelesen zu haben, so groß die Übereinstimmung dessen, was er 1933 schreibt, mit dem ist, was ich besonders intensiv von 1920-25 vertreten habe.

Hat sich nun Richard Benz ein großes geistiges Verdienst erworben, so ist dasjenige von Spenglers Jahre der Entscheidung (München, C. H. Beck) vorzüglich moralischer Natur. Aber gerade moralischer Mut ist heute die Kardinaltugend des Geistigen, viel wichtiger als alle Richtigkeit der Diagnose. Als erster Deutscher hat Spengler es gewagt, diese Zeit in der Öffentlichkeit so zu zeichnen, wie spätere Zeiten sie sicher einmal sehen werden: als eine Zeit nicht der Erfüllung, sondern der ersten Vorbereitung. Nur vom Gesamtzusammenhang des historischen Werdens auf unserem Planeten her ist die deutsche Gegenwart überhaupt richtig einzuschätzen. Kein Volk ist heute mehr eine Monade, auch wo es ohne Fenster ist; selbst das Privateste und Heimlichste unterliegt der Mitbestimmung aller bewegenden Weltkräfte. Diese Zusammenhänge nun sieht Spengler dort, wo sein System ihm keine Scheuklappen aufzwingt, soweit ich urteilen kann, in erstaunlich vielen Fällen richtig. Von der richtigen Einsicht her aber appelliert er an den Mut jedes einzelnen. Schwerste Jahre, wahrscheinlich Jahrhunderte stehen uns bevor! Noch kann gar nichts Endgültiges erreicht sein! Drum fort mit allen Illusionen! Lernen wir vor allem klar und kalt und nüchtern denken; die Leidenschaft als solche hat noch nie zu dauerndem Siege geführt. — Spengler ist das genaue Gegenteil eines Miesmachers. Sein neues Buch halte ich für den stärksten geistigen Quell moralischer Kraft im heutigen Deutschland.

Und einen solchen brauchen wir viel notwendiger als alle Belebung der Märkte. Ich, der ich Heimat und Besitz verlor, der ich an so vielen teuren Menschen erlebt habe, was Bolschewismus bedeutet, empfinde oft Grauen, richtiges Grauen, wenn ich davon höre, dass durch Ordnung und Ehrlichkeit, und was der Begriffe aus gesicherten Zeiten mehr sind, alles endgültig besser, nein gut werden würde. Ja, grausig ist dieses Verkennen des wahren Sinns der Weltrevolution, die ein Hervorbrechen der Mächte der Unterwelt ist. Vielleicht kommt Deutschland, dank Adolf Hitler, um ganz schlimme Zeiten herum. Aber wie soll es bald wieder gut werden?! Die bloße Vorstellung empfinde ich als lachhaft, ja sündhaft. So absolut verfahren ist die zivilisierte Welt, dass ich nicht sehe, wie in den meisten Ländern chaotische Zwischenzustände vermieden werden können. Und an erster Stelle steht hier Nordamerika, kürzlich das scheinbar gesicherteste, heute das gefährdetste Land, weil seine Bewohner am meisten Vogel-Strauß-Politik treiben. Während meines letzten Aufenthalts in Frankreich sah ich viele russische Freunde aus besseren Zeiten wieder und fasste es dabei als Gewissenssache auf, mich ganz in das, was diese durchgemacht hatten — da mir ein gnädiges Geschick das Allerschlimmste erspart hat —, zu vertiefen. Da wurde ich oft schamrot ob jenes doch so bescheidenen Gesichertheitsgefühls, das jeder deutsche Arbeitslose hat. Irgendwie wird für diesen doch immer gesorgt… Kürzlich kamen mir zwei Bücher in die Hände, welche ich allen denen zur Meditation empfehle, die schon das Wenige, ach so Geringe, das am heutigen Deutschland auszusetzen ist, unerträglich finden: das Buch André Malraux’ La Condition humaine (Paris 1933, Librairie Gallimard) und dasjenige Iwan Schmeljows Der Bericht eines ehemaligen Menschen (Berlin-Steglitz 1933, Eckart-Verlag). Malraux ist ein großer und tiefer Dichter; eigentlich unfranzösisch in seiner Fähigkeit zu auswegslosem Erleben. Hier schildert er in einer wunderbaren Evokation des chinesischen Bürgerkriegs die ganze Hoffnungslosigkeit eines zum Dauerzustand gewordenen Chaos. Sobald Chaos zum Dauerzustand wird, entwickelt es nämlich eine eigene, sehr zähe Gesetzmäßigkeit, die seine Dauer gewährleistet. Neun Zehntel aller menschlichen Geschichte stellt ja wohl bolschewismusähnliche Phasen dar, und nichts ist abnormer als jene Ordnung und Sicherheit, welche der Deutsche noch heute als selbstverständlich fordert. Aber das chinesische Chaos wirkt besonders furchtbar, weil dort zur schauerlichen Tatsächlichkeit noch der unmenschliche Fatalismus des Orientalen tritt. Da wird restlos Ja gesagt zum vollkommen Sinnlosen; man stirbt um nichts, man lebt für nichts; sogar die Liebe bedeutet nur mehr eine bedeutungslose Diversion. — Den Bericht eines ehemaligen Menschen habe ich nicht ohne Tränen lesen können; denn zu vieles von dem dort Geschilderten habe ich selbst erlebt. Wenn die Unterwelt zur Herrschaft gelangt, dann wirken alle Kulturwerte zuletzt als Phantasmagorien. Als bedeutender Mensch wird, gemäß der Erzählung Schmeljows, von einem vormals weltberühmten Gelehrten der verehrt, der aus einer Hose eine Mütze zu machen weiß. Alle Menschenwürde vergeht; es bleibt nur der innere Rückzug auf das Ewige… Dieses Schicksal halte ich für das eigentlich planetarische. Wir alle müssen es zum mindesten in der Phantasie durchleben. Und wird es uns materiell erspart, dann müssen wir dies als unverdiente Gnade entgegennehmen. Grundsätzlich leben wir alle, leben alle Menschen in einer Weltwende, die einer geologischen Katastrophe vergleichbarer ist, als den grauenhaftesten Kriegen der Geschichte.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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