Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

23. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1934

Bücherschau · Rudolf Kassner · Heinrich Zimmer

Zeiten der Massenbewegung waren geistigem Schaffen noch niemals hold, welches immer der letzten persönlichen Einsamkeit des Einzigen entspringt. Nur solche schöpferischen Geister werden durch solchen Zeitgeist gefördert, welche die innere Kraft haben, nun erst recht ihr persönliches Sanktum zu behaupten und am Ansturm gegen dieses nach der Tiefe zu wachsen. Da sind denn, zum Heil des deutschen Geistes, in letzter Zeit mehrere Bücher erschienen, welche fortzuleben bestimmt sind.

An erster Stelle ist Rudolf Kassners Buch der Gleichnisse (Insel-Verlag, Leipzig 1934) zu nennen, sowie eine Reihe kleinerer Arbeiten, die gerade jetzt, da ich dieses schreibe, in der Corona zu erscheinen begriffen ist. Klages-Schüler pflegen Kassner und mich gerne als Gegensätze zu behandeln: denen sei zu Nutz und Frommen gesagt, dass wir älteste und intimste Freunde sind und über die Bedeutung von Klages und seiner Schule nahezu identisch denken. Doch das nur nebenbei. Was ich hier sagen will, ist dies: Rudolf Kassner steht heute als einer der ganz großen Einsamen dieser Zeit da. Und so wird er fort dastehen, von sehr wenigen verstanden, von wenigen gelesen, in alle Zeit. Das nahezu einzig Schwere und Tragische seines Lebensschicksals ist ihm jetzt, da er die Sechziger überschritten hat, zur Ausdrucksform einer ganz limpiden, herbstlich luziden Serenität geworden. Alles steht bei ihm am rechten Ort; Leben und Werk, der Schriftsteller, der glänzende Causeur, der gütige Mensch, der klagelose Dulder sind jetzt eine einzige überaus schöne Einheit. Kürzlich hörte ich ihn wieder einmal vorlesen: auch diese Kunst, welche er wie wenige meistert, gehört absolut zu ihm. — Aber freilich: vielen Menschen wird er nie verständlich sein. Ich nannte einmal den Buddha einen überlebensgroßen Exzentrik: exzentrisch steht auch Kassner zur normalen Menschenwelt. Worte, Begriffe, Sätze, Sprache überhaupt bedeuten ihm anderes als anderen. Seine Erkenntnisse sind nicht im üblichen Sinne übertragbar. Seine Sprache verhält sich zu derjenigen anderer ähnlich wie musikalischer Ausdruck metaphysischen Erlebens zum philosophischen. So muss man gleichsam musikalisch sein, um Kassner zu verstehen. Wohl dem, welchem diese Gabe zuteil ward.

An zweiter Stelle möchte ich jedermann, vor allem aber denen, die sich für Yoga, Liturgie und Tiefenpsychologie interessieren, Heinrich Zimmers drei Vorträge Zur Bedeutung des indischen Tantra-Yoga (im Eranos-Jahrbuch 1933, herausgegeben von Olga Fröbe-Kapteyn, Rhein-Verlag, Zürich 1934) zum Studium empfehlen. Es ist die erste verstehende Darstellung des typisch indischen Weges zur Selbstvervollkommnung, welcher immer ein praktischer und deshalb ritualer war. Das besonders Verständliche dieser Darstellung und Deutung beruht darauf, dass Zimmer die indische Metaphysik in organischem Zusammenhang mit der Jungschen Tiefenpsychologie behandelt. Insofern die Inder von allen uns bekannten Völkern den wenigst verbauten Zugang zu ihrem eigenen wie zum kollektiven Unbewussten haben, haben sie natürlich von jeher das meiste dessen unmittelbar gewusst, was europäische Analyse nur langsam und mühsam erschließt. Nur verfällt Zimmer hier — und besonders in seinen späteren Vorträgen im Berliner Seminar 1934, die zunächst nur als Manuskript gedruckt vorliegen — mitunter in den Fehler, die Einsichten indischer Metaphysik und europäischer Psychologie zu identifizieren. Erklärlich ist es, weil sich das metaphysische Wissen der Inder vorzugsweise mittels der typischen Ausdrucksweise des Unbewussten äußert, genau so wie bei uns alles Wissen und Erleben mittels der typischen Ausdrucksformen des klaren Tagesbewusstseins. Aber das Erklärliche ist darum nicht wahr. Wenn Zimmer religiöse Weltenerlebnisse des Indergeists als Ausdeutung der Beziehung von Bewusstsein und Unbewusstem, von Wachen und Schlaf hinstellt, so begeht er grundsätzlich genau den gleichen Fehler, den frühere Religionsforscher begingen, indem sie Göttermythen als Beschreibung von Naturvorgängen interpretierten. Es gibt ein besonderes metaphysisches Erleben; wem dieses gilt, das ist es, was den Menschen letztlich angeht. Wenn sie nur empirisch-psychologische Phänomene beschrieben, dann hätten die religiösen Mythen nicht so gewaltige Lebensbedeutung bewiesen. Zimmer verkennt auch dies: Jungs Tiefenpsychologie hat überhaupt nichts mit Religion und Metaphysik zu tun; sie bezieht sich auf eine ganz andere Seinsebene. Metaphysisch und religiös darf Jung sogar unbegabt genannt werden. — Ob Zimmer wohl das Tibetanische Totenbuch kennt, das 1927 in englischer Sprache von W. Y. Evans-Wentz im Verlag der Oxford University Press unter dem Titel The Tibetan Bock of The Dead herausgegeben worden ist? Hier wird mit jener ungeheuren zynischen Nüchternheit, die den Tibetanergeist kennzeichnet, gezeigt, wie man sich beim Sterben am besten benimmt, was dem Toten zunächst bevorsteht und wie er in seiner neuen ungeahnten Zuständlichkeit sich selbst behaupten kann. Solche Schilderungen sind entweder wahr oder nicht wahr. Sind sie auch nur zu einem Teile wahr, und davon bin ich persönlich überzeugt, dann ist das Dasein einer Wirklichkeit jenseits aller möglichen Psychologie erwiesen.

Einen Weg über Jung hinaus weist übrigens schon der Münchener Psychotherapeut Gustav Heyer in seinem Organismus der Seele (München, J. F. Lehmann’s Verlag). Er kritisiert zwar nur Freud, Alfred Adler und Coué und scheint persönlich (vielleicht durch Übertragung?) überstark an Jung verhaftet. Nichtsdestoweniger ist dieses Buch seinem objektiven Gehalte nach ein Weg über jenen einseitigen Psychologismus, welcher jetzt den naturwissenschaftlichen Materialismus als Zeiterscheinung ablöst, hinaus. Heyer gibt schon die Skizze einer Lehre vom integralen Menschen, vom ärztlichen Standpunkte aus. Und der integrale Mensch ist ein Tieferes und Volleres, als was Integration im Jungschen Verstand bedeutet. Diese berührt die metaphysische Sphäre überhaupt nicht. Genaueres darüber werden die Kapitel Gemüt und Erfüllung meines Buchs vom persönlichen Leben enthalten.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME