Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

24. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1935

Bücherschau · Lebenskunst

Ich setze hierher zur weiteren Erläuterung ein Fragment aus der ersten Fassung des Kapitels Lebenskunst des Buchs vom persönlichen Leben, das ich in der Endfassung wahrscheinlich, als den Rahmen überschreitend, werde streichen müssen:

Die Liebe, welche befreit, ist niemals Hin- oder Preisgabe an das Unter-Persönliche, sondern deren genaues Gegenteil: es ist die Liebe als Höchstbetonung des schöpferisch-Persönlichen. So ist denn der Weg der Liebe als Weg zur Freiheit kein Weg der Hingabe an die Elemente, sondern derjenige der Kultur der Emotionen. Und insofern erwarte ich das kulturelle Heil gerade in dieser Zeit für alle Völker, welche die Revolte der Erdkräfte tief ergriff, von einer ähnlichen Konstellation, welche im Frühmittelalter den Grundstein zur europäischen Kultur legte: einer Konstellation, in der die hochgebildete edle Frau den Ton angibt. Die großen Damen der Provence waren es, in der Tat, welche die wilden und rohen Krieger, die damaligen typischen Vertreter der germanischen Weltära, zuerst zu Geist-bestimmten oder wenigstens — bestimmbaren Menschen erzogen. Die Tradition, deren Urheberinnen jene großen Frauen waren, ist es, die in der Fortentwicklung das dem Leben einbildete, was man heute den europäischen Geist heißt. Um mir weitere Auseinandersetzungen zu ersparen, gebe ich hier, kurz zusammenfassend, einige Sätze aus Etienne Fournols ungemein geist- und lehrreichem Buch Les Nations Romantiques (Paris 1931) wieder, die an sich dem Zusammenhang einer skeptischen Betrachtung über den Wert der feministischen Bestrebungen Amerikas und Skandinaviens angehören, welche die Wonne jedes deutschen Romantikers machen müssten:
Ich glaube nicht, dass die Frauen jemals souveräner waren als während der zwei klassischen Jahrhunderte. Was die berühmte triumphierende Überlegenheit der französischen Gesellschaft im Morgenrot des 19. Jahrhunderts machte, war, dass sie seit hundertfünfzig Jahren von Frauen inspiriert worden war: sie erzogen sie zur Höflichkeit und zum Feinsinn und damit zur inneren Distanzierung vom primitiven Instinkt. Das klassische Zeitalter sublimierte gerade die brutalsten unter diesen. Die Veredelung der Gier zur Kunst der Tafel bedeutet gewiss nicht das gleiche wie die Schöpfung des Art poétique und des temple du goût, aber sie hat ihren Ursprung in der gleichen Methode, welche man die des kartesianischen Feinsinns heißen mag. Ähnlich steht es mit der Veredelung der Liebe. Theologie, Astronomie, sogar den Getreidehandel — alles machte der Männergeist damals den Frauen zu Liebe gefällig. Einstmals schrieb man über alles für die Frauen: heute schreibt man für sie nur über die Liebe. Damit ist aber ein Geheimnis, das den Schlüssel zum Großen Stil enthält, verlorengegangen. Seitdem die Frauen sich von der Wissenschaft zurückgezogen haben, sind die Männer wieder plump und roh geworden.

Diese Sätze beziehen sich auf den sublimiertesten Ausdruck der alt-europäischen Kultur: dem Sinne nach sind sie wahr für alles geistige Schöpfertum. Nur innere Distanzierung dem Elementaren gegenüber beschwört den Geist. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass nicht der Erkenntnistrieb der Vater der europäischen Wissenschaft ist, sondern das Rittergelübde, für das einmal Gesagte einzustehen; ein Mann, ein Wort: hierin lag alles spätere wissenschaftliche Gewissen vorgebildet. Gelobend distanziert sich der Mensch vom Gefälle seiner Naturtriebe. So bedeutet Mut an sich, der primordialste Ausdruck des Geistes, Überwindung der natürlichen Furcht und damit Fundierung des Selbstbewusstseins auf einer der Natur überlegenen Ebene. Von hier aus leuchtet ein, welch ungeheure Rolle das Gefallenwollen im Prozess der Geistverwirklichung gespielt haben muss. Gefallenwollen nun ist primäre und spontan auftretende Begleiterscheinung jeder Liebe. So ist wahrscheinlich alle Distanzierung dank ihr zur konsolidierten Lebensform geworden. Die schöne Form erwuchs aus dem Wunsch, die geliebte Frau oder den geliebten Mann durch Roheit oder Ausbrüche des Elementaren nicht zu vergrämen; die Haltung ganzer Völker dem bewunderten Helden, Ritual und moralische Disziplin der Gottheit zu Gefallen. Die heute nur noch in französischem Sprachgebrauch fortlebende Nuance der Gottesfurcht, die in der Furcht Gott zu beleidigen (offenser le Bon Dieu) besteht, bezeichnet gegenüber der hebräischen Urform eine höhere Stufe der Vergeistigung. Man beleidigt durch Unaufmerksamkeit, welches Wort in vielen Sprachen Unhöflichkeit und geistige Zerstreutheit zugleich bedeutet. Geist verwirklicht sich nur mittels konzentrierter Erdkräfte. Den schärfsten Ansporn, aufmerksam zu sein, schafft dem Menschen die Liebe. Und so entflammte Liebe wohl auch zuerst die Phantasie und damit die Schöpferkraft überhaupt in Form der Geistes-Freiheit.

Aus allen diesen Erwägungen heraus halte ich in dieser Umbruchszeit Hochkultur der Gefühle für mindestens ebenso wichtig als zur Zeit des Neuerwachens geistigen Abendländertums in der Provence. Nichts empfinde ich als unwürdiger nicht allein, sondern als missverständlicher, als die Idealisierung von Urzuständen. So wenn Oswald Spengler dröhnt, das Weib von Rasse will nur Mutter sein, oder Sowjetrusslands Machthaber dekretieren, die Liebe habe sich im Geschlechtsakt zu erschöpfen, alles Seelische sei Unsinn und Unfug, oder Neu-Italiener alles, was sie complicazioni romantiche heißen verhöhnen und den Weg zurück zu republikanisch-römischem Patriarchalismus predigen, wo die Frau nur gehorchen durfte. Auch ich bin Gegner des Feminismus, als der Bewegung, welche die Frau vermännlichen will. Doch nicht weil Verrohung oder Versimpelung mir Ideal wäre, sondern umgekehrt: auf dass der Frau spezifisches Sein und Können sich desto ungehemmter und machtvoller auswirken könne. Die großen Jahrhunderte der Frau auf dem ganzen Erdenrund waren die, wo sie sich auf das beschränkte, dieses aber aufs höchste ausbildete, worin sie dem Mann überlegen ist. Heute nun liegt die Zukunft des Geistes und damit der Freiheit mehr denn je früher vielleicht in ihren zarten Händen, denn ein extrem männliches Zeitalter, wie das, welches jetzt hereingebrochen ist, und welches ich übrigens schon 1911 (im Adyar-Kapitel des Reisetagebuchs) in der jetzt als richtig erwiesenen Bewertung verkündete, ist an sich immer ein rohes und geistfeindliches, auf Gewalt und nicht auf Form bedachtes.

Nur überlegene Frauen, welche von den Männern Geist fordern, können hier furchtbarem Verhängnis vorbeugen. Im übrigen aber gilt dies. Zu allen Zeiten wurden geistige Keime zuerst von Frauen empfangen und von ihnen dann den Männern, auf welche sie Einfluss hatten, weitergegeben; es ist dies eine Analogie des Fortpflanzungsprozesses des Lebens. Männer öffnen sich schwer anderen Männern; nur deren Sachliches lassen sie gelten — bei allem Spirituellen kommt es aber einzig auf die Persönlichkeit an. Gerade für diese haben Frauen Sinn. Deswegen haben sie alle werdenden Genien entdeckt. Deswegen ist durch sie jede spirituelle Religion zuerst verbreitet worden; Männer griffen erst ein, da sie sich selbständig zu dem, was ihnen objektive Wahrheit schien, bekennen konnten. So waren in Rom schon früh unzählige Frauen braver heidnischer Männer im geheimen Christinnen. In einem Zeitalter der Gewalt und der betonten Männlichkeitswerte nun sind die Frauen die einzigen in großer Anzahl vorhandenen Gefäße möglicher Spiritualität. Denn diese ist äußerlich machtlos; Geist kann niemanden zwingen, er kann sich nur sachte einbilden in die Materie. Und ist die Welt sehr laut und Schlag-fertig und Schlagwort-gläubig geworden, dann vermag er von sich aus nichts. So erwarte ich, noch einmal, gerade in dieser Zeit tonangebender über-männlich sich gebärdender Männer von der spirituellen Sehnsucht der Frauen alles Heil. Wozu mich auch die folgende Erwägung bewegt: je männlicher ein Mann, desto mehr ist er geneigt, die Frau zu ehren und ihr zu gefallen. Frauenverachtung bei Männern beweist allemal unterentwickelte Männlichkeit.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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