Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936

Vom Stillhalten

Wir leben in einer Epoche einseitigerer Bewegungen, als solche je geschichtsbestimmend waren. Dies liegt vor allem daran, dass die vorherrschende intellektuelle Wachheit ein so scharfes und so vollständiges Herausarbeiten jeder Sonderauffassung und -bewegung ermöglicht, wie solche in weniger wachen Zeiten unerreichbar war. Symbolisch gesprochen, kämpfte früher jeder Heerführer zum großen Teil mit Hilfsvölkern. Wie den Fahnen Attilas und Dschingis Khans unzählige Stämme ganz anderen Bluts und anderer Gesinnung Gefolgschaft leisteten, so galt Gleiches auch — trotz aller dies verhindern sollenden Dogmatik — vom zur Macht strebenden Christentum, vom Islam; ja es galt noch vom Impulse der Französischen Revolution. Heute ist exklusive Einseitigkeit überall Parole. Daher das einzigartig Bewegte und Kriegsbereite dieser Zeit, welcher Charakter noch gesteigert wird durch den Umstand, dass heute die dynamischste Menschheit, die nordisch-abendländische, den Zeitgeist bestimmt. Nun führte ich schon auf der Tagung des Jahres 1922 Spannung und Rhythmus aus, dass unter den gegebenen Umständen extreme Einseitigkeit den kürzesten Weg darstellt zur Universalität, denn notwendig werde sich auf die Dauer, aus der Interferenz verschiedengerichteter Bewegungen, ein allumfassender Gesamtrhythmus und damit ein harmonisches Zusammenspiel aller lebendigen Kräfte ergeben; als andere Möglichkeit komme nur restlose Selbstzerstörung in Frage, und irgendein konsolidierungsfähiges Vielfaches überlebt erfahrungsgemäß doch allemal chaotischste Zustände. Diese Erwägung hindert aber nicht, dass wir auf lange, lange Sicht hinaus innerhalb aller Gemeinschaften, die entsprechend wach geworden sind, mit vorherrschenden Einseitigkeiten zu rechnen haben.

Das bedeutet aber nicht, dass irgendwo eine einzige Art von Einseitigkeit alle tatsächliche Macht ausübe oder lange ausüben werde. Vielmehr bedingt der polare Charakter alles Lebens, dass zu jedem Satz ein ihm entsprechender Gegensatz organisch hinzugehört. So lebt heute Sowjetrussland von der Fiktion einer wiederauferstehungsfähigen Bourgeoisie, da es in Wirklichkeit keine mehr gibt — denn ohne Gegenspieler kann kein Beweger wirken. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies zur Zeit, da ich dies schreibe, September 1936, in Spanien. In keinem der entgegengesetzten Lager herrscht eine einheitliche Weltanschauung. Doch der ungeheure Dynamismus des Aufbruchs des spanischen Volks — denn das bedeutet dieser Bürgerkrieg in Wahrheit, nicht einen Kampf zwischen Links und Rechts — bedingt ganz von selbst Polarisierung, so dass sich im Kampfe mechanisch eben dort klare Fronten bilden, wo gesinnungsgemäß keinerlei Einheitlichkeit besteht. Und bei diesen Fronten als solchen wird es bleiben, solang der Aufbruch währt — nur werden die Gegenpole auf die Dauer wohl inhaltlich anderes repräsentieren, als sie es heute tun. Dort nun, wo im öffentlichen Leben eine bestimmte Bewegung total gesiegt hat, tritt eine Verschiebung der Pole im Sinne einer Verteilung auf verschiedene Dimensionen und Seinsebenen ein. So ist die wahre Polarität, die heute Russland beherrscht, nicht die zwischen Proletariat und Bourgeoisie, auch nicht die zwischen dem orthodoxen Bolschewismus und der mich immer neu bildenden politischen Opposition, sondern die zwischen mechanistisch-unmenschlichem Fortschrittlertum und einer sich immer mehr vertiefenden und von der Tiefe her immer mächtiger werdenden Religiosität. Deutschlands Grundpolarität nun, welche alles künftige Schicksal schon heute bestimmt und immer sichtbarer von Jahr zu Jahr bestimmen wird, ist die zwischen denen, welche ganz und gar in einer Bewegung aufgehen, und den anderen, welche bewusst und aus Überzeugung stillhalten.

Dank der deutschen Gründlichkeit tritt das Einseitige jeder Bewegung bei Deutschen ausgesprochener zutage als irgendwo und jemals sonst. Nie überantwortete sich eine Nation so total dem Geist des Gründertums, wie die deutsche nach den Bismarckschen Siegen; denn dieses ergab sich bei uns aus dem Aufgeben früherer Zielsetzungen, nicht aus dem elementaren Eroberertum, als welches das amerikanische charakterisiert. Kein Volk war je so total ein Volk in Waffen als Selbstzweck, wie das deutsche während des Weltkriegs. Keines schlug je nach einer Niederlage so vollständig um. Und so war auch keine Wiedergeburt aus bestimmtem Geiste heraus je so total, wie die deutsche im Zeichen der nationalsozialistischen Bewegung. Doch die Gesetze des Lebens herrschen durch alle Vorurteile hindurch. Einseitige Betonung eines Pols konstelliert eben damit den entsprechenden Gegenpol. So bedeutete der Sieg des Gründergeists zugleich den Aufstieg der Sozialdemokratie, die Exklusivität der Deutschland-über-alles-Gesinnung im Weltkrieg gleichzeitig Stärkung des Internationalismus und Defaitismus, und die deutsche Selbstpreisgabe seit Versailles den Mutterschoß des Nationalsozialismus. Seit letzterer nun total gesiegt hat und das ganze Leben unter dem einen Zeichen des Kampfes schaut und praktisch zusammenfasst, hat mit Naturnotwendigkeit in Polarisationsstellung dazu eine Vertiefung der deutschen Geistigkeit begonnen, welche grundsätzlich die Erschließung größerer Tiefen verspricht als irgendeine frühere. Dieser Prozess aber vollzieht sich ausnahmslos im stillen, außerhalb der Arena. Es handelt sich um eine richtige Wiedergeburt der Polarität, die von Beginn unserer Ära an etliche Jahrhunderte entlang Forum und Katakomben in produktiver Spannung erhielt. Ich sage: produktiver Spannung, denn das war das Wesentliche der Beziehung, nicht die Ablehnung des Römerlebens durch die ersten Christen, und nicht die gelegentliche, im ganzen seltene, sporadische Christenverfolgung durch den heidnischen Staat. In der dunklen Stille der Katakomben wuchs eben das heran, was die Caesaren von weiteren Triumphen am hellen Tag des öffentlich-imperialen Geists erwarteten. Und indem der Staat nur unsichtbares Christenleben duldete, förderte er es. Alles keimende Leben bedarf der dunklen Stille zur Entfaltung. So wuchs der Christengeist unaufhaltsam. Zuletzt war er es, der das Imperium zusammenhielt. Doch dieses musste schließlich zerfallen, denn der frühchristliche Geist war dem spätrömischen gar zu konträr. Dafür blühten die europäischen Völker nach gebührender Inkubationszeit im Rahmen der christlich-mittelalterlichen Kultur zu neuer Herrlichkeit auf. So erfolgte vom ursprünglichen Katakomben-Pole her eine Wiedergeburt dessen, was in der antiken Welt vom Forum ausgegangen war. Nunmehr lebte das heidnisch-Weltgewaltige in der Verdrängung fort, um erst mit der Renaissance zu erwachen und erst in unseren Tagen in der Tageshelle neubestimmend zu werden.

Es ist schlechthin wesentlich, einzusehen, dass zwischen Heidenstaat und Christenglauben in der schöpferischen Tiefe nicht Feindschaft, sondern produktive polare Spannung bestand. Heute nun besteht, groß gesehen, erst recht keine Feindschaft zwischen öffentlich-lauter Bewegtheit und stiller Innerlichkeit, sondern ein allerfruchtbarstes Korrelationsverhältnis. Und es liegt vor allem am Verkennen dieses Tatbestandes, dass es sich noch selten sinngemäß auswirkt. Hierbei denke ich, wohlgemerkt, nicht an die Kirchenfrage. Inwieweit die Kirchen heute überhaupt noch lebendige und zukunftsträchtige Kräfte verkörpern, ist ein Problem, das nur im tatsächlichen Geschehen seine Lösung finden kann. Ich persönlich halte für nicht ganz ausgeschlossen, dass sich die Kirche in der neuen Kräftekonstellation als eine verjährte Form von Forum erweisen wird, in der sich die innerlichen Tiefenkräfte ebensowenig werden auswirken können wie auf einer Truppenschau. Ich denke an das persönliche, an das intime Leben, an die Kultur des Für-sich-Lebens und der letzten Einsamkeit. Und diese wird durch die Kollektivitäts- und Öffentlichkeitsfreudigkeit dieser Zeit nicht etwa gehemmt: sie wird durch die vorhandene Spannung gefördert. Denn der neue Lebensstil fordert, so wie jeder Pol seinen Gegenpol evoziert, Intensivierung des Intimen als richtiges organisches Korrelat zur Vermassung und Veröffentlichung.

Immer mehr innerlichen Menschen wird mit vormals nie erreichter Deutlichkeit klar: das persönliche Leben, aus dem allein alle geistige Schöpfung hervorgeht, ist wesentlich nicht Kampf — und indem ich gerade diesen Punkt betone, enthülle ich mit einem Satz das entscheidend Bedeutsame der diese Zeit aus der Tiefe beherrschenden Polarität. Heute soll ja alles am Leben Kampf und der Mensch überhaupt wesentlich Kämpfer sein. Aus dieser Auffassung spricht eine der merkwürdigsten Einseitigkeiten aller bisherigen Geschichte. Freilich kann man sagen, man kämpfe auch mit sich oder in sich: doch hier handelt es sich günstigstenfalls um einen uneigentlichen Ausdruck. Beim richtigen Kämpfen mit sich oder mit dem Bösen in sich kommt nämlich zuerst — gemäß dem von Coué entdeckten Gesetz des effort converti — das genaue Gegenteil dessen heraus, was man bezweckt, und erst stille Aufsichnahme im Sinn der von Hause aus akzeptierten Tragik alles Lebens oder des Schuldbewusstseins des also konstellierten und in seiner Macht gesteigerten Bösen bewirkt als zweites Stadium das, was dem Kampf an sich zugeschrieben wird. Alle Ordnung des Geistes ist nämlich eine Ordnung des inneren Wachstums. Wachsen aber kann man nur, sofern man auf der Ebene, auf welcher das Wachstum statthat, nicht kämpft, sondern sich öffnet und mit sich geschehen lässt. Dieser Behauptung widerstreitet mitnichten die Erfahrungstatsache, dass jeder bedeutende Mensch an der Widerwärtigkeit gewachsen ist: er wächst nämlich dann allein, wenn er zwar äußerlich kämpft und damit seinen Mut und seinen Glauben — des Geistes Primärausdrücke — betätigt, zugleich aber innerlich sein Kreuz auf sich nimmt, im ursprünglich-christlichen Sinn, also nicht dem Übel widerstrebt, sondern es durch Gutes zu überwinden, das heißt zu überwachsen trachtet. Von der Kämpfereinstellung aus ist immer nur eines möglich, immer nur eins Ergebnis: Krieg. Dessen elementarster Ausdruck ist dabei der positivste. Auf dieser Ebene äußert sich der Machtanspruch des Urhungers rein, es wird ehrlich Vernichtung des Gegners angestrebt. Und der Einsatz des eigenen Lebens und die Bereitschaft zum Sterben konstellieren wirklich all den Geist, der sich auf so elementarer Ebene überhaupt äußern kann. Doch sobald der Krieg auf geistige Ebenen übertragen wird, wirkt er Unheil, und dies zwar fortschreitend mehr proportional der Höhe der Geistigkeit. Noch keiner ward je durch Diskussion erkenntnistiefer: wer diskutiert, will einen Standpunkt behaupten oder einen anderen erledigen, er will also wesentlich als der beharren, der er ist.

Alles Wachstum im Geist aber erfolgt in der Bereitschaft zur Veränderung, zur Verwandlung, zum Mehr-Werden und damit zur Aufgabe des bisherigen Standpunkts. Gleichsinnig bedeuten Glaubenskämpfe ein antireligiöses Geschehen; nur die Unterwelt des Menschen profitiert von solchen, nie der Geist. Und nicht besser steht es vom Standpunkt der Innerlichkeit und damit des Geistes mit dem Wettkampf. Die Behauptung ist irrig, dass je ein großes Werk aus dem Geist des Wettbewerbs erwachsen sei. Freilich mag letzterer den Ehrgeiz beschwingen, die Vitalkräfte steigern, mag der Sieg zu weiteren Leistungen anspornen. Doch hier handelt es sich eben um Leistung als solche, und gerade eine Leistung ist eine echte Geistesschöpfung wesentlich nie. Ich glaube wohl, dass der Agōn den Griechen viel bedeutet hat: doch das lag an deren beispiellos gewinnsüchtigem, neidischem und grausamem Charakter. Die hellenische Wettkampfidee schloss keinerlei fairness, keinerlei Generosität dem Schwächeren gegenüber ein. Bei den Griechen allein galten ja auch Hass und Rache als berechtigte, ja als berechtigterweise letztentscheidende Motive bei einer Handlung. Bei den großen griechischen Geistesschöpfern lagen die Dinge so, dass sie die Einstellung auf Sieg bemerkenswert gut vertragen haben, was wohl daran lag, dass dieser ihnen als Griechen so selbstverständlich war, dass sich daraus keinerlei Problematik ergab. Die meisten Schöpfer verlören jede Unbefangenheit und auf die Dauer jeden Kontakt mit ihren eigenen Tiefenkräften, wenn sie beim Schaffen an Sieg dächten. Wie sehr das wahr ist, beweisen die Hunderte von Talenten, die in den letzten Jahrzehnten auf Grund eines erzielten großen Erfolges krampfhaft weiterschufen, auch wo noch nichts Neues in ihnen herangereift war, und daran vollkommen verdarben. Auf der Ebene des Geistes gibt es nämlich keinen Ehrgeiz. Bei der komplexen Vielschichtigkeit des Menschenwesens sind zwar recht viele Schöpfer auch ehrgeizig, und vielen schadet das nicht, es regt sie an; nie jedoch kann Ehrgeiz Motiv des Geistes selber sein. Letzterer ist in jedem persönlichen Falle schlechthin einsam, unvergleichbar, ohne Beziehung auf irgendein Kollektivum und ausschließlich auf Selbstverwirklichung bedacht. Und nur dort, wo seine reine Selbstverwirklichung als höchstes Motiv anerkannt wird, kann hohe Kultur aufblühen und gedeihen.

Die Frage des Verhältnisses des Leistungs- zum Schaffensbegriff ist so fundamental wichtig, dass wir uns ihr noch etwas eingehender zuwenden müssen. Wir sagten es schon implicite: auf der Ebene echten Geistes hat das Leistungsprinzip grundsätzlich keine Gültigkeit. Selbstverständlich ist jede Geistestat auch Leistung und kann als solche im Zusammenhang mit anderen gewertet werden. Aber nie kann sie aus Leistungsstreben heraus entstehen. Und nie vor allem wirkt sie Geist-gemäß als Leistung. Geistgemäß wirkt sie ausschließlich als rein geistgegründetes Sein, durch unbefangene, absichtslose und unwillkürliche Ausstrahlung dieses. Eben darum ist jede echte Geistestat ohne Zweckbewusstsein entstanden. Dies gilt sogar von der Staatsschöpfung: keiner, dem die Verwirklichung seiner Idee nicht mehr galt als alle Nützlichkeitserwägung, hat je Staaten gegründet. Sogar der Staatsschöpfer schafft nie, von seiner persönlichen Psychologie her beurteilt, aus dem Volk heraus oder für das Volk; auch er schafft ganz und gar und einzig und allein aus dem Geist heraus, den Eigengesetzen des Geists gemäß, welche Gesetze ganz andere sind als die für die Erdkräfte gültigen. Sekundär ergibt sich daraus bei jedem Schöpfer als selbstverständliches Ergebnis, sintemalen jeder innerhalb irgendeines Kollektivums lebt und schafft, dem er mit den unpersönlichen Teilen seines Wesens angehört, dass es sich mittels dessen Eigenheiten ausdrückt und so dieses an der von ihm persönlich erreichten Vollendung teilhaben lässt, weswegen Völker freilich ein Recht haben, auf ihre geistig Großen stolz zu sein. Umgekehrt aber widerstreitet es der Natur der Dinge, dass ein Geistesschöpfer, so sehr er mit anderen Schichten seines Wesens die Gemeinschaft, welcher er zugehört, liebe, beim Schaffen unmittelbar an anderer Daseins-Ebene Zugehöriges denke. Das einzige allgemeingültige Sinnbild für die ursprüngliche Einstellung des Geistigen ist die des Heiligen. Äußerlich beurteilt, lebt dieser nur für sich, und dazu in größtmöglicher Abgeschiedenheit. Allein sein bloßes Dasein, mit keinerlei Leistung notwendig verbunden, bringt dem Lande oder Volk, inmitten dessen er wohnt, mehr Segen als alle äußere Leistung. Genau Gleiches hat von jedem Philosophen, jedem Musiker, jedem Dichter oder Maler, der überhaupt Bedeutung bewiesen hat, gegolten.

Unter diesen Umständen ist klar, dass die Gemeinschaft von sich aus nur Eines für den echten Geist tun kann: die ihm gemäßen Lebensbedingungen zu schaffen und zu gewährleisten. Je mehr sie ihm die Möglichkeit schafft, sich völlig frei zu fühlen, völlig absichtslos (in irdischem Verstand) zu leben, völlig unbehindert und ohne jeden Seitenblick nach Selbstverwirklichung zu streben, desto mehr tut die Gemeinschaft für den Geist und dergestalt mittelbar für sich. Es ist nun einmal so, dass jeder auf noch so kurze Zeit und auf noch so milde Art ins Joch gespannte Pegasus seine Pegasuseigenschaften verliert. In alten Zeiten wusste man das besser als heutzutage. So tat zu religiösen Epochen kein Heerführer je Heiligen etwas zuleide, und von Priestern forderte keiner Kriegsdienst. So entschuldigten sich die Fürsten zweier gerade miteinander kämpfenden Staaten, in deren Operationsgebiet Konfuzius mit seinen Jüngern zufällig hineingeraten war, beim Weisen darob, dass sie ihm wegen der besonderen Umstände nicht die würdige Existenz sichern konnten, die ihm selbstverständlich gebührte. So erlaubte Friedrich der Große Voltaire vollkommene Gedanken- und Äußerungsfreiheit, und sogar noch im Russland Nikolaus II. durfte Tolstoi schreiben, was er wollte. Sicher lässt sich die für das Gedeihen des Geists unerlässliche Ungebundenheit durch ökonomische und politische Rücksichten in sehr viel besserer Form verwirklichen als je vorher. Doch immer wird hier die Norm in einem Minimum an Interferenz bestehen müssen; das Allerwichtigste, was ein Geistiger zum Schaffen braucht, ist und bleibt nun einmal das Gefühl, in Ruhe gelassen zu werden. So bin ich auch keineswegs sicher, ob eine Verallgemeinerung dessen, wofür Maecenas Vorbild war, Gutes wirken würde. Wohl sollte Mäzenierung selbstverständlich statthaben, sobald ein Geist seinen Reifezustand erreicht hat und damit die Periode möglicher Ausstrahlung beginnt. Aber es wäre verderblich, zu viele Geister zu mäzenieren, denn dadurch entstünde unentrinnbar eine als solche immer unerwünschte Staatsrentnerkaste; und ein wahres Unglück wäre es, wenn Werdende durch vorschnelle Förderung der Schwierigkeiten beraubt würden, derer sie, wie alle Erfahrung lehrt, bedürfen, um im Guten heranzureifen. Vom Geistesschöpfer gilt das gleiche wie von jedem Menschen, weil er eben Mensch ist: der gute Wille kann nur einen Teil der Innenkräfte mobilisieren, die tiefsten und stärksten erwachen immer erst unter dem Druck des Schicksals. Der entscheidende Gesichtspunkt, der gegen allzu vollkommene Betreuung des Geistes spricht, ist aber der: nie wird ein Gremium von Kritikern oder Beamten Neuwerdendes richtig beurteilen. Nie werden es sogar echte Geistige, die einer älteren Generation angehören, tun. Die der gleichen angehörenden sind aber grundsätzlich urteilslos, weil ihnen der Abstand fehlt. Es liegt in der Natur der Dinge, dass der wirklich Bedeutende zunächst verkannt wird, und zwar besonders in seinem Vaterland. Ja es liegt in der Natur der Dinge, dass ein Genie desto sicherer verkannt wird, je mehr für richtige Erkennung organisatorisch vorgesorgt wird. Man sollte es ein für alle Male einsehen, dass hier nichts zu machen ist; das Äußerste, was von Gemeinschaft wegen für Geist getan werden kann, ist dies, dass möglichst viele störende Hindernisse für seine Entwicklung und Ausstrahlung weggeräumt werden und möglichst viel für die materielle Existenz Geistiger überhaupt, als einer sonderlichen Menschenart, getan wird. Das störendste Hindernis aber war immer und wird immer sein das Verkennen der Eigengesetzlichkeit des Geists. Dessen Verkörperer steht als solcher grundsätzlich außerhalb der natürlichen Bedingungen, er muss seinen eigenen sonderlichen Weg gehen, ganz einerlei, wie dies der Gemeinschaft im ersten Augenblick gefällt. Traditionsgemäß ausgedrückt: der echte Geistige steht immer und wesentlich jenseits von Gut und Böse, sofern diese Begriffe sozial und nicht metaphysisch fundiert sein sollen.

Nun, mit dem Zeitgeist ist niemals zu rechten. Der muss sich ausleben, das Falsche muss sich amortisieren, und verläuft dieser Prozess langsam, so ist dies als Schicksal hinzunehmen. Tröstlich ist hierbei dieser Gedanke: gemäß dem Gesetz des historischen Kontrapunkts erfolgt endliches Finden des Richtigen desto wahrscheinlicher, je größere Abwege anfangs begangen wurden. Um so wichtiger aber ist es, dass die echten von innen her berufenen Verkörperer des Geistes für sich begreifen, welche Polarität im geistig-irdischen Zusammenhang in Wahrheit geschichtsbestimmend ist, und sich entsprechend einstellen und verhalten. Denn davon, davon allein wird es abhängen, ob diese turbulente Zwischenperiode in einen neuen und vielleicht höheren Kulturzustand einmünden wird, als es der des 19. Jahrhunderts war, oder aber nicht.

Das Thema ist schier unerschöpflich, denn es ist so weit wie die geistteilhaftige Menschenwelt. Manche Aspekte seiner hat das Buch vom persönlichen Leben behandelt, andere dasjenige über die Weltrevolution. Den für den Anfang der Zeit des deutschen Aufbruchs wichtigsten behandelte der Leitaufsatz des Jahrganges 1933 dieser Mitteilungen, betitelt Gleichschaltung und Zusammenklang. Die letzteren Betrachtungen möchte ich heute in der Richtung dessen fortspinnen, die der Titel Vom Stillhalten bestimmt. Es ist eins der ungeheuerlichsten Missverständnisse, die sich überhaupt denken lassen, dass nur Bewegung Wert hat und nur das Aussprechen Geist übermittelt. Was jeweils mehr bedeutet, das Tun oder das Lassen, das Reden oder das Schweigen, hängt von der jeweiligen Besetzung der Pole im Menscheninnern ab. Wohl durfte Jesus sagen: Wenn ich nicht rede, dann werden die Steine schreien; es war damals die Zeit der Prediger in der Wüste. Wohl war es im vor dem Weltkriege satten und trägen und dem vom Kriegsende deprimierten und müdegewordenen Deutschland sinnvoll, vom Geist her aufzurütteln, ja unter Umständen, gleich Menelaos, Rufer im Streit zu sein. Damals herrschte, in verschiedenen Formen zwar, auf der Ebene des nichtgeistigen Lebens Trägheit. Heute nun hat sich die überwältigende Mehrheit aller Deutschen vernehmlicher Bewegtheit verschrieben. Das ganze Volk ist unruhig geworden. Daraus aber folgt, dass Bewegtheit immer weniger im Innerlichen wirkt. Sie wird immer mehr mechanisch mitgemacht, die tieferen Schichten bleiben von Monat zu Monat unbeteiligter. Daraus folgt ferner, dem Gesetz der Polarität gemäß, dass heute nur die Stillen tiefen Einfluss ausüben können, weil nur von ihnen Kräfte ausgehen, die nicht von vornherein abgelenkt oder mechanisiert werden und die darum in die Tiefen dringen können. So kommt es, dass heute mehr denn jemals früher die Stillen die Träger der Hauptverantwortung für die Zukunft sind.

Unter diesen Stillen verstehe ich nun beileibe nicht die Opponierenden, die aus Klugheit den Mund Haltenden, beileibe nicht die Feigen, auch nicht die Dynamikfeindlichen Statiker und schon gar nicht die ursprünglich oder aus bewusstem Entschlusse Trägen: Trägheit ist und bleibt die eine Sünde wider den Heiligen Geist. Unter den Stillen verstehe ich die und ausschließlich die, welche, des sonderlichen Eigen-Seins des Geists und der Nicht-Identität seiner Gesetze mit denen von Blut und Erde innegeworden, ihre ganze Lebensaufgabe darin sehen, in extremst denkbarer Polarisationsstellung das Geistprinzip zu vertreten und es eben dadurch teilhaben zu lassen am geschichtlichen Gesamtprozess.

Warum bedarf es der Polarisationsstellung? Weil gemäß den ewigen Gesetzen, die das Leben regieren, nur Polarisation schöpferisch wirkt. Das habe ich im fünften Kapitel des Buchs vom persönlichen Leben und besonders deutlich im dieses Problem betreffenden Teil von Sur l’art de la Vie ausführlich auseinandergesetzt. Wie nur der Mann das Weib befruchten kann, so steht es mit allen echten Schöpfungsprozessen. Die Erforderlichkeit eines Extremismus in der Polarisationsstellung indes ergibt sich aus den Anfangsbetrachtungen dieses Aufsatzes. Auf allen Gebieten, auf allen Ebenen dominiert extremste Einseitigkeit: unter diesen Umständen kann der Geistige heute nur dann geistgemäß wirken, wenn er sein Eigensein so schroff als möglich herausdifferenziert. Der gleiche Extremismus ermöglicht es dem Geiste andererseits aber auch, nicht in Oppositionsstellung zu den positiven Bestrebungen des heutigen Zeitgeists zu geraten. An sich bedeutet Oppositionsstellung des Geistes zu den Erdkräften immer ein Missverständnis, denn beide gehören ursprünglich verschiedenen Seinsebenen und -dimensionen an. Aber dort, wo Geist- und Erdkräfte auf besonderer Ebene zusammenwirken, wie dies in allen kulturellen Vollendungszeiten der Fall ist, kann es freilich vorkommen, dass eine bestimmte Art Opposition fruchtbar ist: da wird nur bestimmter verkörperter Geist als Geist verstanden und dieser mag andere Verkörperungen mit Recht bekämpfen. Heute nun steht Geist direkt und unmittelbar gegen Erde. Es fehlen alle bedeutsamen Zwischen- und Zwitterbildungen. Da bedeutet Opposition gegen Geist oder gegen die Erde offenbar ein reines Missverständnis. Da besteht auch in der geschichtlichen Erscheinung durchaus die ursprüngliche Polarität zwischen beiden, die gegenseitige Befruchtung möglich macht. Wenn sich Geist daher heute ganz und ausschließlich auf sich selbst besinnt und sich zu sich selbst bekennt, dann und dann allein fundiert er sich auf der Ebene, von der aus ein so fruchtbares Zusammenarbeiten mit den Erdkräften möglich wird, wie es solches vielleicht noch niemals gab.

Die spezifische Form dafür ist auf der Ebene des Geists die Stille. In dieser Zeit extremer äußerer Bewegtheit kann er sichtbarlich nur kontrapunktisch wirken, die Melodieführung und äußere Harmonisierung ist wie nie früher der Erdkräfte Domäne. Deswegen stellt sich zur Zeit die Frage ähnlicher Wirkungsart, wie sie das äußerliche Leben kennzeichnet, für den echten Geist überhaupt nicht. Es bedeutet ein reines Missverständnis, hier mitmachen, sich hier gleichschalten zu wollen, denn dadurch beraubt man das Leben gerade der möglichen geistigen Komponente. Von hier aus sieht man besonders deutlich, dass und inwiefern unser Zeitalter nicht geistfeindlich ist. Freilich erschweren dessen geltende Normen Geistwirkung auf der Ebene, wo er die letzten Jahrhunderte über wirken konnte, aber dafür konstellieren sie die Eigennormen des Geistes und dessen sonderliches Sosein auf deren eigenster Ebene mit einer Wucht, wie dies in Deutschland wahrscheinlich noch nie der Fall gewesen ist. So dass gerade das scheinbar Geistfeindliche gerade dem besten und tiefsten Geist zugute kommt und diesen tiefer und lebendiger ins Leben hineinbezieht, wenn auch auf neue Art, als zumal im liberalen Zeitalter je der Fall war. — Allerdings aber muss die erforderliche Kontrapunktierung vollendeter als jemals früher durchgeführt werden, damit sie bewirke, was sie wirken kann. Dies bringt uns denn endgültig an das Sonderproblem des Stillhaltens heran. Auf der Weisheitstagung zu Sitges bei Barcelona hielt ich eines Abends einen Vortrag über Rhythmisches und skandiertes Schweigen: bei diesem handele es sich in allen seinen Aspekten grundsätzlich um Gleiches, wie bei der dichterischen Formung; auch ein Gedicht unterscheide sich von formloser Rede wesentlich dadurch, dass vieles nicht gesagt wird, dass Rhythmus und Versmaß ein positives Nicht-Sein schaffen, welches Negativ das eigentliche Ausdrucksmittel des sonderlichen Positivs der Dichtung sei. Schweigen und Warten ziehen heran und heraus, während die Rede den Sonder-Sinn, den ein Individuum meint, aufdrängt und Ungeduld den Anspruch einschließt, mit dem freien Willen oder dem Sonder-Tempo des Nicht-Ich brauche nicht gerechnet zu werden.

Nun lebt Geist ausschließlich in der Dimension des freien Willens und der freischaffenden Einbildungskraft. Es ist ganz unmöglich, ihn zu zwingen, ohne ihn zu schwächen und auf die Dauer aus der Welt zu schaffen. Es gibt nicht eine Äußerung substantiellen Geistes, die nicht den Normen gehorchte, die es dem Welterlöser unmöglich machten, dem Schächer am Kreuz, der sich vor ihm verschloss, die Tore des Himmels zu öffnen. Überall hier ist das Freiwillige, nicht das Wahre oder das Richtige, das Entscheidende. Geistig Richtiges oder Gutes gezwungenermaßen tun, fördert das Geistwesen weniger, als freiwillig zu irren und zu sündigen. Es ist schlechterdings unmöglich, das Geistwesen im Guten zu zwingen oder auch nur suggestiv zu beeinflussen. Man kann es nur wecken, indem man die Freiheit des anderen durch das rechte Wort wachruft. Deswegen war kein geistiger Führer jemals Diktator. Nie wollte er überreden: überzeugte er, so tat er es, indem er frei-stellte und frei-machte; nämlich die eigene persönliche Wahrheit des anderen. Deswegen ist es schon schwer, feste geistige Richtlinien zu geben. Seien diese noch so richtig gezogen: wirken sie im allermindesten zwingend, dann verführen und versklaven sie. Grundsätzlich kann man überhaupt nur auf eine Weise in positivem Sinne Richtung geben: auf die Weise, wie der Dichter seinen Sinn durch Rhythmus und Versmaß gleichsam kanalisiert, so dass nun auch andere Wasser ihrem freien Gefälle folgend in der gleichen Richtung strömen können. Nun besteht aber alles dichterische Fassen mehr im Auslassen und Ausschließen als im Sagen. Insofern entspricht alle echte Geistwirkung mehr dem Sinn des Schweigens als dem Sinn der Rede. Insofern wirkt jeder Sagende am meisten durch das, was er nicht sagt — wovon die Anregung, zwischen den Zeilen zu lesen, nur einen geringen Sonderaspekt bedeutet. Insofern gibt es auf geistigem Gebiete überhaupt nichts geistig Höheres als Anregung — sobald vollständig ausgeführt wird, hat die Möglichkeit freien Fortdenkens für andere aufgehört und Mechanisierung und damit Geisttötung eingesetzt. Das alles aber hat seinen tiefsten Seinsgrund darin, dass Geist wesentlich frei ist und dass nur primäre Rücksicht auf seine Freiheit ihn übertragbar macht. Jeder Zwang löst hier schicksalsmäßig Gegenbewegungen aus, in denen sich schließlich der ganze vorhandene freie Geist verkörpert.

In einer Zeit erdumspannender Organisation und schrankenloser Suggestionswirkung ist nun klar, dass lebendiger Geist mehr als jemals früher nur durch das, was auch rein äußerlich nicht Organisation und nicht Suggestion ist, wirken kann. Schon sieht man es überall der dynamischen Erweckung von außen her begegnet immer größere Stumpfheit. Die geforderte Dauerenergie löst wachsende Passivität aus. Gerade geistige Aktivität entsteht dort nicht, wo sie erwartet und gefordert wird. So kann gerade der Geist, welcher die neuauferstehenden Erdkräfte zu beseelen berufen ist und damit organisch zur Weltrevolution gehört, nur von anderer Seite gefördert werden, als bisher im Großen versucht ward. Das ist die Seite der Intensivierung nach innen zu, ohne jeden Aus- noch Seitenblick auf das, was in bezug auf das persönliche Selbst äußerlich und Nicht-Ich ist. Es ist die des bewussten Schweigens inmitten der Lautheit, der Einsamkeit gegenüber der Massenhaftigkeit, der Selbstgenügsamkeit gegenüber dem Wettbewerb. Natürlich sind es wenige, die ein inneres Recht auf die erforderliche Haltung haben. Aber gerade auf diese wenigen kommt es an. Denn da nur ihre Haltung die geistgemäße ist in dieser Zeit, so sind es diese wenigen, noch so wenigen, mit denen das ganze Schicksal des Geists in unserer Zeit auf Gedeih und Verderb verknüpft ist. Nur sie vermögen in der heutigen Weltkonstellation den Geist als Macht in das historische Geschehen ein- oder zurückzubeziehen. Das Stille und Schweigsame allein übt heute schon tiefe Fernwirkungen aus, gleichwie alles Lichte und Mächtige der christlichen Ära in den Katakomben geboren ward und ohne sie ungeboren geblieben wäre.

Dieses einmal klar zu formulieren, halte ich für ausschlaggebend wichtig. Kein Zweifel: aufrichtigster Kulturwille beseelt heute schon an sich auf Äußeres gerichtetes Wollen. Aber noch wird der polare Charakter des lebendigen Lebens selten deutlich eingesehen. Noch wird verkannt, dass ein Totalitätsanspruch dann allein erfüllbar ist, wenn er den Gegensatz zum Satz hinzurechnet und damit als ihm zugehörig anerkennt. Wenn eine neue Ausdrucksform für das Urverhältnis von Kreuz und Adler, d. h. von dem, was man im Mittelalter den geistlichen und den weltlichen Arm hieß, gefunden wird. Denn beide Pole sind grundsätzlich auf keinen Generalnenner zu bringen. Nichts Lebendiges ist je auf einen Generalnenner zurückzubeziehen oder von diesem her zu verstehen. Im Massenzeitalter nun hängt das geistige Schicksal aller Völker, die Kulturvölker sein wollen, davon ab, dass sie deutlicher, als jemals früher der Fall war, einsehen, dass Einheit nur oberhalb der Sphäre, wo Satz und Gegensatz einander naturnotwendig bekämpfen, in positivem Sinne möglich ist. Dass insofern jeder echte Stille, der zur Zeit nicht in der Bewegung steht, mehr mitschafft am Neuwerden des Volkes als jeder Mitläufer.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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