Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936

Bücherschau · Michael Prawdins, Rupert Donkans, Herbert Melzigs

Zum Ende der Herstellung des endgültigen druckfehlerfreien Texts des Reisetagebuchs las ich im vergangenen Sommer das ganze Werk wieder. Und da war mir sehr interessant, dass ich in dessen Abschnitt Amerika die Fortentwicklung dieses Landes falsch, dafür aber unter falscher Etikette richtig diejenige Europas vorausgezeichnet habe. Aber 1912 konnte wohl keiner, außer einem richtiggehenden Hellseher, wissen, dass die Kausalreihe biologischer Ermüdung oder Entartung diejenige des Fortschritts von verjüngter Basis her durchkreuzen würde. Und ebenso unvoraussehbar war damals die dank Weltkrieg und Weltrevolution erfolgte radikale Verjüngung der eigentlichen Zukunftsträger unter Europas Völkern. So projizierte ich damals mein unmittelbares, den Zustand meines eigenen Unbewussten spiegelndes Wissen auf die neue Welt. Heute erscheint Europa viel jünger als Nordamerika. Bedingen drüben Katastrophen keine rechtzeitige Mutation, dann mag der heutige Nordamerikaner geradezu als biologischer Typus aussterben, und dies zwar schneller als man denkt.

Auf Europa übertragen war nun meine Vision des Jahres 1912 von der Entwicklung der Westwelt in allen wesentlichen Hinsichten Wirklichkeits-gerecht; insofern ist das Reisetagebuch heute aktueller, als es bei Erscheinen war. Mich freute besonders, das wiederzulesen, was ich dort und damals über das Positive der Barbarisierung verlautbarte. In diesem Zusammenhang möchte ich nun heute auf vier besonders lehrreiche Bücher hinweisen: die beiden bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart erschienenen Bücher Michael Prawdins Tschingis-Chan und Das Erbe Tschingis-Chans, und das Buch Rupert Donkans Die Auferstehung Arabiens (Bern und Leipzig, Wilhelm Goldmann Verlag); endlich Herbert Melzigs Resah Schah, der Aufstieg Irans und die Großmächte (Stuttgart 1936, Union Deutsche Verlagsgesellschaft).

Zum Verständnis dieser Zeit und ihrer nächsten Zukunfts­möglichkeiten kenne ich kaum überhaupt Lehrreicheres als die beiden erstgenannten in jeder Hinsicht ausgezeichneten Werke, denn einzigartig klar illustrieren sie das mögliche Produktive und der Kulturverhaftetheit Überlegene begabten Barbarentums. Dschingis Khan war von Hause aus vollkommen ungebildet und unzivilisiert. Nichtsdestoweniger hat er vor 1220 so weit als technisch überhaupt möglich die Schnelligkeit des 20. Jahrhunderts in Zugriff und Nachrichtendienst vorweggenommen; insgleichen dessen Denken und Wirken mit und in weitesten transkontinentalen Zusammenhängen. Endlich führte er zuerst Artillerie und Giftgase als Kriegsmittel ein.

Wie war das möglich? — Nun, unbelastet durch Kultur-Tradition, seine hohe Intelligenz ausschließlich auf deren ursprüngliches Ziel, das vital-Nützliche richtend, konnte er den rein praktischen Sinn dessen, was er erfuhr, reiner fassen, als irgendein Kultur-Belasteter, und gleichsinnig, mutatis mutandis, rein-Zweckmäßiges erfinden und durchführen. Die Chinesen kannten längst das Schießpulver, benutzten es aber nur zu Feuerwerk, und ihre Giftgase nur zu Überfällen und zur Verteidigung im kleinen Stil. Dschingis Khan begriff sofort die weiten Möglichkeiten, die in diesen Erfindungen lagen, und zwang Chinas Chemiker und Ingenieure, diese für ihn zu verwirklichen. Im gleichen Sinne steigerte er die ursprüngliche Schnelligkeit und Organisationsfähigkeit der Mongolen und arbeitete diese zu einem Mittel der Weltbeherrschung aus, so wie dies heute Rundfunk und Flugzeug sind. — Haben nun die barbarischen Bolschewiken nicht ganz im gleichen Sinn, wenn auch in viel geringerem Grad, die Errungenschaften alter Kulturvölker besser ausgenutzt, als diese es vor ihnen vermochten? — Hochbegabte Barbaren sind tatsächlich geeigneter, Weltwenden auch im aufbauenden, nicht nur im zerstörerischen Sinn herbeizuführen, als die Erben alter Kultur. Und dies gilt nicht nur in politischem, sozialem, zivilisatorischem, sondern sogar in kulturellem Verstand. Schon die Enkel großer Barbaren sind meist überzeugtere Kulturförderer, als die satten Erben gebildeter Vergangenheit; denn wie kein Erbe erlebt der homo novus unmittelbar, was Kultur bedeutet, und amortisiert Machtstellung bei ihm das Minderwertigkeitsgefühl, dann gilt sein ganzes Sinnen und Trachten bald deren Schaffung und Förderung. So war schon der Enkel Dschingis Khan, Kubelai, als Chinesenkaiser einer der größten Kulturförderer. Nun war Tschingis-Chan nie so destruktiv, wie es heute die Bolschewiken sind. Aber Timur (Tamerlan), der Mann der Schädelpyramiden, war es noch mehr als sie. Nichtsdestoweniger war schon sein Enkel, Babur, nicht nur ein Staatengründer, sondern ein Troubadour-artiger Minnesänger. Und dessen Sohn Akbar war der größte Kaiser aller bisherigen Geschichte überhaupt und Ahnherr der großartigsten bekannten Herrscherdynastie.

Nicht anders nun erwuchsen aus Mohammeds wilden Horden gar bald die Sarazenen. Vorher aber schon bewirkten sie die Wiedergeburt des persischen Geists, in dem sie gleichsam zu allzu verfeinerten Haarstrichen den Grundstrich lieferten. Dies bringt mich zum dritten der hier zu betrachtenden Bücher, der Auferstehung Arabiens. Die Wahabiten stellen eine Wiedergeburt des ursprünglichen puritanischen Mohammedaner-Typus dar. Doch mit ihrem heutigen großen König, Ibn Saud, sind sie bereits in die Reihe echter Kulturentwicklung eingeschwenkt. So spricht alles dafür, dass dank diesen ursprünglich wildesten unter den heutigen Nomadenstämmen jene neue islamische Kultur erwachen wird, die ich schon in der Neuentstehenden Welt als nahe bevorstehend prophezeite. Ich glaube, in der Tat, immer fester, an eine Renaissance des Arabertums. Es werden fortan überhaupt viele alte, aber lange schlafende Völker historisch wieder an der Reihe sein. Deren Kraft aber wird seinen Gradmesser an ihrer Glaubenskraft haben. Es ist die ursprüngliche russische Religiosität, die dem Bolschewismus zur Weltmacht verholfen hat. Auch die Araber sind ein glaubensmächtiges Volk, desgleichen die nördlichen Inder. Während es hierin mit den Europäern sehr viel weniger gut bestellt ist… Auf der von diesen bewohnten Halbinsel sind zur Zeit, da ich diese letzten Zeilen schreibe, September 1936, die halbafrikanischen Spanier die einzigen, deren moralische Kraft den Vergleich mit Nichteuropäischem aushält. Schon oft bekannte ich meinen Glauben an die Zukunft der iberischen Welt, und im Winter 1935 sagte ich in Madrid öffentlich, ich sähe im Spaniertum die moralische Reserve Europas. Eine so herrliche Bestätigung dessen, als die in den letzten Monaten erfolgenden, hätte ich nie erwartet. Was die Kadetten, Frauen und Kinder im Alcazar von Toledo leisten, reicht hoch, hoch über die berühmte Thermopylentat hinaus; noch nach Jahrtausenden wird man von diesem Heldentum singen und sagen. Doch bei dem, was ich meine, handelt es sich nicht um Toledo allein und auch nicht bloß um die nationalen Truppen: das Wunderbare ist, dass hier jeder einzelne, wo immer er stehe, für seine persönliche Überzeugung lieber stirbt, als dass er sie preisgibt und sich so oder anders gleichschaltet. Dort kämpft wahrhaftig der Geist, dessen Exponent überall immer nur die persönliche Einzigkeit ist. Eine sehr kluge Spanierin, die gerade dem Terror entkommen war, schrieb mir:

Es ist ein Wunder. Wir alle (sie gehört dem Ortega-Kreise an) hielten unser Volk für erschöpft; es reagierte auf nichts mehr. Und nun ist auf einmal die ganze wilde Energie der Mauren- und Religionskriege wieder da1.

Dort bricht in der Tat ein Volk auf zu neuer Größe. Das Ökonomische, überhaupt vom Zweckbegriffe her Begreifbare hat noch nie letztendlich entschieden. Deutschland hat es ja bewiesen: ökonomisch kann sich das verarmteste Land von jahrzehntelanger Misswirtschaft in wenigen Jahren erholen. Worauf es letztlich ankommt, ist der Glaube und der Geist. So muss aus dem spanischen Heldenkampf von heute, so schauerlich die Unterwelt an ihm beteiligt ist, auf die Dauer Lichtes und Herrliches geboren werden.

Und nun, zum Schluss dieses Abschnitts, zu Persien. Melzigs Buch über Besah Schah ist lange nicht so lebendig-evozierend wie die drei entbetrachteten. Dafür illustriert gerade die knapp-sachliche, bloß die großen Linien der Politik herausarbeitende Darstellung der Auferstehung Irans besonders eindrucksvoll, inwiefern es Renaissancen gibt. Über das Problem der Renaissance überhaupt habe ich im Kapitel Morts et Renaissances von Sur l’art de la Vie von meinem Standpunkt so weit Abschließendes gesagt, dass ich mir weitere Erörterungen sparen kann. Doch die Auferstehung gerade Irans bedeutet für das leichtsinnige und leichtfertige Europa ein so ernstes Menetekel, dass dieser Spezialfall besonderen Meditierens wert ist. Iran war in der bisherigen Geschichte schon ganze drei Male die Großmacht von größtem Prestige, was meines Wissens kein anderes Volk von sich behaupten darf. Alle diese Male ging neuer Größe schwere Dekadenz voran, und alle diese Male ward diese durch die lebendigen Schöpferkräfte innerhalb des Volksganzen im gleichen Sinn und Geiste überwunden. Das eindrucksvollste Beispiel dessen bedeutet die Iranisierung von Islam und Arabertum: Glaube und Schriftsprache blieben da arabisch, und doch drückte sich bald Irans Seele echter denn je durch das ursprünglich fremde Medium aus. Nun sind die Völker des Ostens ganz allgemein viel langlebiger als diejenigen Europas. Sie sind zäher, haben bessere Nerven, auf welches allgemeine Problem ich hier nicht näher eingehen möchte. Aber der Fall Irans ist überdies einzig. Die persische Grundanlage umfasst, mit nur geringer Übertreibung ausgedrückt, indischen Tiefsinn, althebräisches Ethos, altgriechische Dichtfreudigkeit und französischen esprit auf einmal; fürwahr, einen einzigartigen Reichtum. Diese Naturanlage besteht nachweislich schon durch Jahrtausende unverändert fort; überdies aber ist die Erinnerung an die Zeiten hoher Kultur nie ausgelöscht worden. Wie nun, wenn solch hochbegabtes altes Volk eine Neuvitalisierung erlebt und sich die Errungenschaften jüngerer Völker aneignet? Nun, dann besteht nicht die Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass sich das alte Blut dem jüngeren für die Dauer überlegen erweist. Auf die Dauer hat sich nämlich nichtentartetes Kulturblut allemal als stärker als unkultiviertes, haben sich Zeiten des Stillstandes, ja der Stagnation bei vorhandenem reichen Erbe als segensreiche Inkubationsperioden erwiesen. So mag es sehr wohl kommen, dass die Welthegemonie in absehbarer Zeit den Völkern zurückgewonnen wird, die sie vor Jahrtausenden besaßen. Nur dadurch können sich meines Erachtens die relativ so jungen Westvölker ihre heutige Stellung erhalten, dass sie sich ebenso tief bilden, wie es China, Indien, Mesopotamien und Iran in deren großen Zeiten taten, so dass der Schatz der Tiefe durch alle Schicksalsschläge hindurch bestehen bleibt. Legen wir fortan allen Nachdruck auf das Junge und Jugendliche, so werden uns die neuvitalisierten alten Kulturvölker ganz sicher besiegen. Und legen wir allen Nachdruck gar auf körperliche Leistung im Zeichen des Sportrekords, dann werden uns gar die Neger überlegen werden…

1 Zum Verständnis des jetzigen spanischen Bürgerkriegs dürften Deutschen wenige Lektüren förderlicher sein, als die von Reinhold Schneiders Philipp II. oder Religion und Macht (Verlag Jakob Hegner, Leipzig). Nie ist das Entscheidende bei einer Bewegung oder einer Bewegtheit die Idee oder das Programm, sondern die innere Kraft, welche diese auslösen. Wie ich nun nach Niederschrift des Textes das empfohlene Buch las, da staunte ich über die Identität des heutigen mit dem philippinischen Spanien. Heute wie damals ist der letzte Einsatz der Person, aller Welt, allem man zum Trotz, die bewegende Kraft. Im Spektrum schrieb ich: möglicherweise würde Spanien aufhören, christlich zu sein, aber katholisch würde es bleiben. Dies gilt heute von beiden Parteien. Es ist die ungeheure philippinische Jenseits-Sehnsucht, die gleiche Nicht-Achtung des Irdischen als solchen, die diesen Bürgerkrieg in Gang erhält. Seinerzeit vertat Spanien die Reichtümer Amerikas, weil ihm nur an der Seele lag. So vertut es dieses Mal die Möglichkeiten des sozialistischen Wohlfahrtsgedankens. Aber gerade darum ist Spaniens Bedeutung heute mindestens so groß, als sie’s in seiner Glanzzeit war. Dort zuerst erwacht aufs neue das Bewusstsein des Erd-unabhängigen Geists. Und ist heute kein bestimmter positiver Glaube mehr die Hauptmacht, ist das heutige tiefe Spanien häufiger nadistisch (Unamuno) als katholisch, so liegt gerade darin die größte Gewähr einer Neuverknüpfung des Lebens mit dem metaphysischen Geist: aller Weg zum Geist führt, in der Tat, über das irdische Nichts.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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