Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936

Bücherschau · Carlo Bolaffio

Italien bringt selten originale reine Philosophen hervor. Der bisher einzige ganz große Philosoph italienischen Bluts war der Sizilianer Thomas von Aquin; doch wieweit dieser wirklich Italiener war, ist mir nicht ganz klar. Der besonders ausgesprochene Naturalismus des italienischen Geistes bringt es mit sich, dass sich sein Philosophisches am besten in der Anwendung auf Konkretes äußert: so der Geschichte (Vico, Benedetto Croce), der Politik (Machiavelli), der Ökonomie und Jurisprudenz, auf welch letzteren Gebieten zwar wenig Spitzen-, doch desto mehr Leistungen hohen Durchschnitts vorliegen. Zumal reiner Metaphysiker hohen Ranges war der bisherige Italiener meines Wissens nie: hier äußert sich die Abstammung vom alten Römertum vielleicht am deutlichsten.

Dieses Jahr ist nun ein wirklich echter Metaphysiker im italienischen Kulturkreis auf den Plan getreten: der Triestiner Carlo Bolaffio mit seinem siebenhundert Seiten langen Buch Colui Che Si Chiama Io Sono (Modena 1936, Guanda editore). Ich erfuhr dadurch davon, dass es mir der Verfasser mit einem Begleitschreiben schickte, in dem er sagte, er fühle, trotz aller Unterschiede, eine wesentliche Verwandtschaft zwischen seinen Bestrebungen, eine neue solare Ordnung zu fundieren, und dem, was ich im Buch vom persönlichen Leben zum Ausdruck bringe. Solche Verwandtschaft besteht allerdings, und sie beweist wirklich, wie das Bolaffio meint, dass eine neue überindividuelle Kulturwelle im Anschwellen ist, denn wir beide sind voneinander völlig unabhängig und wussten bis vor kurzem voneinander nichts. Über das, was man Bolaffios System heißen mag, will ich nun nichts sagen, denn alle Systeme sind notwendig verfehlt. Und schon gar seine Voraussetzung einer dem alten Sonnengott entsprechenden Sonne, aus der alles Leben, zumal das geistige, entspringe, kann ich nicht als zwingend anerkennen. Doch von der Grundidee und den Grundzielen unabhängig enthält Bolaffios Buch richtige Offenbarungen, so wie ich dieses Wort verstehe. So kenne ich in der ganzen philosophischen Literatur keine lebendigere Vision dessen, wie die Zeitlichkeit wieder und wieder aus dem Nicht-Zeitlichen hervorgehen mag, und die Existenz aus dem Nichts, wie die Bolaffios. Um dieser Visionen willen verdient sein Werk unter allen Umständen ernste Beachtung. Bolaffio ist übrigens ein heute fünfundfünfzigjähriger praktischer Arzt, welcher vorher nichts Philosophisches geschrieben hat.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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