Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936

Bücherschau · Nicolai Hartmann, Henri Bergson

Daß Schulphilosophie mir persönlich wenig bedeuten kann, wird jedem Kenner meines Schaffens und Wollens selbstverständlich sein. Bei der Buchstabengläubigkeit der Deutschen war es vielleicht sogar ein Fehler, dass ich mich je Philosoph nannte, denn seither beurteilen mich die meisten darnach, ob meine Wirklichkeit ihren von ganz anderen Typen abgezogenen Begriffen entspricht oder nicht… Letzthin nun aber las ich ein schulphilosophisches Buch, das ich sogar von meinem Standpunkt aus empfehlen kann: das ist Nicolai Hartmanns Problem des geistigen Seins (Berlin 1933, Walter de Gruyter & Co.).

Ich kann es empfehlen, weil es sich hier um ein Schulbuch solcher Perfektion handelt, wie ich es mir vorher nicht hatte vorstellen können. Wenn irgendeiner je ein Götterrecht auf ein Universitätsordinariat hatte, dann ist es Hartmann. In seinen Problemstellungen und -lösungen hält er nämlich mit, soweit meine Literaturkenntnis reicht, unvergleichlicher Scharfsichtigkeit die genauen Grenzen ein, die der Philosophie als Wissenschaft und der Philosophie als allgemein übertragbare Lehre von der Natur der Dinge her gezogen sind. Nicolai Hartmann geht überall von äußerlich feststellbaren Tatsächlichkeiten aus, seine Kritik bewegt sich überall im Rahmen wirklich möglicher allgemeingültiger Diskriminierung und Grenzbestimmung, so dass das Buch tatsächlich in allem, was an ihm wissenschaftlich ist, dem gegenwärtigen Stand als Ausdruck des erkennenden objektiven Geistes entspricht. Es ist voll von Richtigem und Richtigkeiten, voll lehrreicher durch Elimination von als falsch erwiesenen zustande gekommenen Feststellungen; über den Sinn des objektiven Geistes, an welchem jeder teilhat, die Beziehung dieses zum persönlichen Verstehen, des historisch toten zum lebendigen Geist, über Sinn und Wesen der Wissenschaft kenne ich überhaupt nichts Besseres. Überdies aber erfreut durchaus eine klare und scharfe Linienführung, die sich bei Scheler z. B., welchem Hartmann ursprünglich nahesteht, ganz vermissen lässt. Auf Einzelheiten mag ich hier nicht eingehen: wer überhaupt Sinn für Philosophie solcher Artung hat, der lese das ganze Buch.

Soll ich nun aber davon reden, was Nicolai Hartmann als persönlicher Geist bedeutet, dann kann ich mich freilich nicht gleich lobend äußern. Dann muss ich in gesteigertem Maß die Einwände erheben, die ich schon kurz gegen Jaspers und Heidegger vorbrachte. Was Hartmanns Vorzug als Schulphilosophen darstellt, beeinträchtigt eben das, was den eigentlichen Philosophen (so wie nicht nur ich ihn verstehe, sondern wie es alle zeugenden und erfüllenden Philosophen der Geschichte gewesen sind) macht. Um so von außen her, wie Wissenschaft es verlangt, an schlechthin alles herantreten zu können, muss Hartmann auch dem Geiste gegenüber einem Empirismus huldigen, wie solcher nur der Außenwelt ganz gemäß ist. An keinem Satze Hartmanns spürt man das Teilhaben an innerer Offenbarung, an keinem metaphysisches und religiöses ursprüngliches Erleben. Seine ganze (im übrigen von seinem Standpunkt im großen ganzen richtige) Geisttheorie sieht von der Eigenwirklichkeit des Geists recht eigentlich ab. Deswegen ist die Verwandtschaft, die manche seiner Theorien mit meinen zeigen, z. B. hinsichtlich der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit und der Letztgeschaffenheit der geistigen, rein äußerlich. Ich habe Hartmann vor Sommer 1936 nicht gelesen, doch hätte ich’s getan, so hätte er mir als Onto- und Kosmolog nichts geben können. Denn was Nicolai Hartmann den lebenden objektiven Geist heißt, kommt C. G. Jung mit seiner Theorie vom kollektiven Unbewussten ungleich näher. Und dem wesentlich schöpferischen Geist, von welchem Hegel erlebnismäßig so viel wusste, gleichviel, wieviel an seinen Theorien haltbar sei, wird Hartmann überhaupt nicht gerecht. Er hat an ihm eben nicht teil. Deswegen kann seine Philosophie nie mehr bedeuten, als ein freilich ganz ausgezeichnetes Schulungsmittel; ihr fehlt die Eigensubstanz. Eben deshalb fehlt Hartmanns schriftlichem Ausdruck auch jeder Stil. Diese Philosophie ist wirklich nichts als Wissenschaft.

Nachdem ich Nicolai Hartmann gelesen, wurde mir Henri Bergsons ganz unvergleichliche Bedeutung wie nie früher klar. Auch er ist kein eigentlicher Metaphysiker. Auch er ist wesentlich Kritiker und Grenzbestimmer. Aber dieser dringt bei ihm dermaßen tief ein, dass er die Grenzen des Tiefsten so bestimmen kann, dass jeder, welcher erlebnismäßig von ihm weiß, sich selbst nachträglich als Bergsonianer bestimmen müsste. Dann aber ist Bergson in so unerhörtem Grade ausdrucksfähig, wie es seit Plato kein Philosoph mehr war. Keiner dürfte so viele Sätze hinterlassen haben, die sich als unsterblich erweisen werden. Da nun die Sprache der ursprüngliche Ausdruck des verstehenden Geistes ist, so kann schriftstellerische Genialität bedingen, was die fragliche denkerische Begabung nie zustandebrächte. So enthält der letzte Sammelband, den Bergson herausgebracht hat, La Pensée et le Mouvant (Paris 1936, Felix Alcan), meiner Überzeugung nach mehr zum Fortleben und -wirken bestimmtes Geistesleben, als die ganze sonstige wissenschaftliche Philosophie seit Kant.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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