Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · René Guénon

Die Paläontologie ist grundsätzlich nicht die Geschichte der Lebewesen auf Erden, sondern die der zufällig gefundenen Fossilien. Nicht viel anders steht es mit der Kulturgeschichte; nur dass hier das gleiche Phänomen auf putzige Weise spezialisiert erscheint. Es liegt in jedem Menschen, das, was ihn just ergreift, zu überschätzen; in diesem Sinne hat so manche anerkannte Werteskala mit und auch solch zufällige Unter- und Hintergründe. Diese bestimmen offenbar desto mehr, je weniger der Inhalt des objektivierten Wissens einer Zeit dem Umfang nach dem Inbegriff der Wirklichkeit entspricht. Diese eine Erwägung erklärt das Sosein der mittelalterlich-europäischen Weltanschauung, sowohl was Tatsachenschau wie Wertakzentlage betrifft. Nicht anders aber steht es letztlich mit jedem individuellen Geist: unwillkürlich artikuliert ein jeder seine persönlichen Herausstellungen entsprechend dem, was er persönlich weiß und was ihm persönlich etwas gab. Und es ist ausgeschlossen, dass hier nicht in schlechthin jedem Fall viel Zufall mitspielte.

Mir kamen diese Gedanken, als ich, durch Leopold Zieglers nachdrückliche Empfehlung René Guénons neugierig gemacht, nachdem ich vier seiner Werke in der Bibliothek der Schule der Weisheit fand, dieselben las in der immer ungeduldiger werdenden Erwartung, bei der Lektüre auf Bedeutendes zu stoßen: mit der einen Ausnahme des Buchs Introduction Générale à l’Etude des Doctrines Hindoues (Paris 1930, Editions Didier et Richard) sind seine mir bekannten Bücher (Les Etats Multiples de l’Etre, Le Symbolisme de la Croix, L’Homme et son Devenir selon le Vêdânta) ganz einfach schlecht. Nicht dass sie ungelehrt und inhaltlich falsch wären: das Wissenschaftliche an diesen Büchern ist zum großen Teile richtig und vieles ist auch gut verstanden. Ja, vielleicht darf man sogar sagen: ganz unzulänglich sind lediglich Guénons Darlegungen über Buddhismus und Symbolismus. Nichtsdestoweniger bedeuten diese Bücher nichts Besseres als schlechte typisch-französische popularisierende Gelehrtenarbeit. Damit aber will ich das folgende sagen: ein Minimum eigener Gedanken wird im Körper nicht tief durchdrungenen Stoffes vorgetragen und nicht zwar aus geistigem Impulse heraus, als welcher sich immer von sich aus den ihm entsprechenden Ausdruck schafft, sondern im Rahmen äußerlich vorauskonstruierter konventioneller Form. Wobei zumeist aufs Sagen dessen, was zu sagen gerade am gegebenen Ort entscheidend nottut, verzichtet wird, unter dem Vorwand, hier sei nicht der Ort dazu, oder, das würde uns zu weit führen, oder, davon soll später die Rede sein; wobei die mögliche Tiefe der Durchsichtigkeit der Exposition geopfert wird; und wobei das (vorausgesetzte) eigene höhere Niveau nicht durch entsprechende Leistung behauptet wird, sondern durch Verunglimpfung aller anderen Orientalisten als Ignoranten und der europäischen Philosophie überhaupt als einer oberflächlichen Angelegenheit — welche Verunglimpfung nicht einmal durch treffende Charakteristik begründet erscheint. Ich kenne viele Geister gerade im Westen, die den Osten tiefer verstanden haben, schärfer urteilen und sehr viel besser schreiben als Guénon. Ein mit der Leistung anderer Orientalisten vergleichbares Niveau hält unter den mir bekannten Büchern René Guénons einzig die Introduction Générale à l’Etude des Doctrines Hindoues ein, insofern hier in einigen Kapiteln wirklich ziemlich scharf und gut östliche Eigentümlichkeiten von westlichen differenziert werden. — Woher nun Leopold Zieglers Panegyrikus? Der Grund kann kein anderer sein als einer der zu Anfang angeführten. Zufällig hat Ziegler gerade Guénon gelesen und andere nicht. Zufällig hat er eigene Gedanken im Franzosen wiedergefunden. Zufällig ist auch Leopold Ziegler, wie Guénon, religiös unbegabt und hat kein persönliches Verhältnis zu Symbol und Ritus, obschon gerade diese Probleme ihn interessieren. Zufällig imponiert wohl auch Leopold Ziegler, als gutem Deutschen, das Fremdländische als solches mehr als vergleichbares Deutsches. Und für sich hat Ziegler bei allem Fehlurteilen vielleicht auch recht gehabt. War es nicht Nietzsche, der den Deutschen empfahl, gelegentlich besonders schlechte Bücher zu lesen? Auch mir hat aus dem angeführten zufälligen Grund mehrere Male im Leben ein an sich unzulängliches Buch mehr gegeben als viele gute. Aber darum habe ich sie doch nicht als unbedingte Werte empfohlen. Der Gelehrtentypus liegt mir bekanntlich überhaupt nicht. Wie selten bleibt ein solcher höherer Schuster bei seinem Leisten! Anstatt Philologie zu treiben, die er wirklich kann, urteilt da ein metaphysisch überhaupt nicht Interessierter über Metaphysik; peroriert ein wesentlich amusischer Mensch über Kunstwert, ein nur grammatikalisch Begabter über Sinn. In solcher Befugnis-Überschreitung sehe ich groben Unfug. Wieviel höher stand da mein Jugendfreund, der Orientalist Alexander Stael von Holstein, der mir seine Akribie bei der Entzifferung nur ihm bekannter drei Sprachen aus dem Wakhan dahin erklärte: man müsse an sich Sinnloses, jedoch zur Arbeit Geist Erforderndes als Beschäftigung haben! Welcher zugab, bei aller Einstellung auf Sanskritistisches und Sinologisches nie auch nur das geringste Interesse für Metaphysik und Religion empfunden zu haben! Der sich über den bedeutenden Gelehrten in sich täglich totlachte — wieviel höher stand Staël, der seit dem Kriege in Peking lebt und wirkt, als der übliche todernste Kathederfürst! Auch Adolf Harnack kannte ähnliche Selbstbescheidung: er wusste genau, dass er kein religiös begabter Mensch war, und schämte sich infolgedessen nicht, insofern zu Johannes Müller von Elmau aufzuschauen.

Ich für meine Person kann als Typus überhaupt nur den des chinesischen Gelehrten als höheren Menschentypus gelten lassen. Denn ihm allein unter allen Gelehrtentypen der Erde bedeutet das Wissen in erster Linie einen Weg, um als Mensch ein höheres Niveau zu ersteigen, aus welcher Voraussetzung sich ganz von selbst primäre Einstellung auf den Sinn, im Unterschied vom Buchstaben, ergibt. Kultur des Gelehrtentums war und ist in China überdies, wie die im Vorliegenden vorhergehenden Betrachtungen dieses Heftes wieder einmal zeigten, wesentlich eine Kultur des Kunstsinns und der Schönheit. Darum war er es auch in China allein bisher, dass die Anerkennung des Gelehrtenstandes als höchsten Stands und die Besetzung höchster Regierungsstellen durch ihn kein Unheil gezeitigt hat. Im Spektrum persiflierte ich den deutschen Gelehrten, wie ihn das 19. Jahrhundert gestaltet hat, und habe dem nichts hinzuzufügen. Aber wo im durch Revolutionen nicht verjüngten Europa, mit der einzigen Ausnahme Englands, herrschen nicht Gelehrte? Eben darum und darum allein bedeutet Theorie so viel, wird so sachlich gedacht, von der Seele so gar keine Ahnung verraten, das furchtbare Leiden der Menschen so gar nicht gespürt, so wenig Entschlusskraft und vor allem so wenig schöpferischer Geist bewiesen. Wer überhaupt vom Wissen ausgeht und nicht vom persönlich unmittelbaren Inne-werden der Wirklichkeit, so wie sie ihn faktisch affiziert, muss unzulänglich bleiben. — Zur Zeit, da ich dies schreibe, führen Deutschland, allen guten Geistern sei Dank dafür, Nicht-Gelehrte. Doch man hüte sich, die Krise darum schon überstanden zu glauben. Die überwältigende Mehrzahl aller Deutschen sieht auch heute noch, was immer sie in Worten behaupte, im Wissen und nicht im Sein ihr Ideal. Und bestimmen heute sehr viele Deutsche ohne akademischen Wissensballast, so ändert das doch wenig an der traditionellen Gesinnung. Im Gegenteil: gerade sie sehnen sich nach Wissen und laufen im genau gleichen Sinn Gefahr, nachdem sie Kämpfer waren, als Schriftgelehrte zu enden, wie alle deutschen Sozialdemokraten unaufhaltsam dem Kleinbürger zustrebten.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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