Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938

Von der echten Liebe

Noch einmal komme ich auf das Buch Daisetz Teitaro Suzukis zurück, mit dem sich der vorhergehende Aufsatz befasste. Der Appendix II dieses Buchs (S. 186 der in Japan gedruckten englischen Ausgabe) beschäftigt sich mit einem der tiefsinnigsten Noh-Spiele Alt-Japans, betitelt Yamauba; es ward zu unbestimmbarer Zeit wahrscheinlich von einem buddhistischen Mönch zur Propagierung der Zen-Lehre gedichtet. Der Name Yamauba bedeutet wörtlich das alte Weib aus den Bergen, und dieses hat, dem äußeren Anschein nach, mit unserem Rübezahl nicht geringe Ähnlichkeit. Doch der Sinn dieser Gestalt ist ein völlig anderer:

Sie stellt, schreibt Suzuki, das Prinzip der Liebe dar, das geheim in jedem von uns waltet. Meist sind wir seiner nicht bewusst und wir verkennen und missbrauchen und lästern es alle Zeit. Die meisten von uns bilden sich ein, dass die Liebe ein dem Ansehen nach Schönes ist, jung, zart und reizvoll. Aber in Wahrheit ist Liebe das gar nicht: sie arbeitet hart, unbemerkt und unerkannt und doch ohne Auflehnung; was wir bemerken, ist das äußerliche Ergebnis dieser Arbeit, und dieses finden wir schön — was ja natürlich ist, denn das Werk der Liebe muss schön sein. Die Liebe selbst jedoch gleicht einer hart arbeitenden Bäuerin; sie sieht eher abgehärmt aus; vor Sorge für andere ist ihr Gesicht voller Runzeln, ihr Haar weiß geworden. Ihr Leben ist eine Serie von Mühen und Leiden, die sie jedoch freudig trägt. Sie wandert von einem Ende der Welt zum anderen Ende der Welt, rastlos, ohne Erholung, ohne Unterbrechung.

Die wunderbare Fabel des betreffenden Noh-Spiels lese man im Buche selber nach. Wie ich mit ihr bekannt ward, war ich ergriffen wie lange nicht mehr. Welch wunderbare Ergänzung stellt diese Legende zu denen dar, welche die Liebe in irgendeiner Abwandlung der Venus oder Maria abbilden! Und ist es nicht letztlich geistgemäßer, sich alles Tiefe und Positive im Sinnbild des selbstlosen Alters als in dem der selbstsuchenden Jugend vorzustellen?…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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