Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938

Bücherschau · Karl Jasper · Nietzsche, Einführung…

Was ich über Karl Jaspers’ reine Philosophie denke, habe ich, soweit ich mich bisher darüber zu äußern Anlass spüre, in Heft 25 dieser Mitteilungen und in den Kapiteln Weltfrömmigkeit und Wahrhaftigkeit des Buchs vom persönlichen Leben, direkt oder indirekt, explicite oder implicite, gesagt. Als Extremausdruck des Denker-Typus ist er letztlich Nihilist; seinem Denken fehlt der wesenhafte Hintergrund; rein in sich selbst ruhend schwebt er in Wahrheit über dem Nichts. Eben darum wirkt Jaspers’ Denken substantiell im geraden Verhältnis zur Konkretheit dessen, was es betrifft. Der Vordergrund spielt hier also die Rolle des Hintergrundes. Nun kann aber auch das an sich Unzulänglichste unter besonderen Umständen in hohem Grade produktiv werden: dies beweist Jaspers’ letztes Werk, sein Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (Berlin 1936, Verlag Walter de Gruyter & Co.).

Eine erstaunliche Leistung. Hier sammelt Jaspers die vielfältigen, zum großen Teil untereinander in Widerstreit befindlichen Strahlen, die Nietzsches Geist aussendet, wie in einen focus imaginarius. Er konstruiert aus eigener Kraft ein Jenseits des Schillernden und sich Widersprechenden; von diesem Jenseits her gibt er allem und jedem einen besonderen einheitlichen Sinn. Selbstverständlich erfordert solches Unternehmen als Mittel zum Gelingen so manches Hysteron-Proteron: sei es im Sinn eines Schließens von der erwiesenen historischen Wirkung auf die Intention, sei es im Sinn der christlichen Exegese, nach welcher Christus so manches tat, auf dass die Schrift erfüllt würde. Jaspers’ Technik dabei ist zum großen Teil die eines Sophisten. Und dennoch: dieses eine Buch ist das Wesentlichste und Lehrreichste, welches bisher über die Geistesmacht Nietzsches geschrieben ward. Und darüber hinaus eröffnet es eine neue Art von Hermeneutik. In Menschen als Sinnbilder schrieb ich 1925 nach längerem Verweilen beim hier anlässlich Jaspers kurz neuberührten Zusammenhang (im Kapitel Kant der Sinneserfasser, S. 185-189), dass es sinngemäßer ist, die Tatsachen am Mythos, als diesen an jenen zu berichtigen. Dies gilt desto mehr, je wesentlicher historisch eine Gestalt ist, denn die Bedeutung eines Geschichtsfaktors als solchen ergibt sich, ganz unabhängig vom Eigen-Sinn und absoluten Wert, daraus, wie er wirkt und wie er verstanden wird. Wenn nun je ein prophetischer Geist wesentlich historisch war, dann gilt dies von Nietzsche. Darum bedeutet Jaspers’ Deutung des Ursprungs aus der Art des Fortwirkens heraus in bezug auf den Mythos Nietzsche echte Sinneserfassung. Und da Nietzsches tiefste Bedeutung in seiner Gestalt und nicht in seiner Lehre liegt, so darf der Mythos mehr als in den allermeisten Fällen mit der tiefsten Wirklichkeit gleichgesetzt werden.

Für mich war Nietzsche von jeher der Protagonist jener Revolte der Erdkräfte, die dem ganzen derzeitigen Weltgeschehen die Signatur verleiht. Seine Metaphysik ist überhaupt nicht ernst zu nehmen: alle spezifischen Nietzsche-Werte sind Erd-, nicht Geistmotive, und zumal sein Wille zur Macht gehört der Gana-Welt und nicht dem Reich des metaphysisch-Wirklichen in genau dem gleichen Sinne an wie Heideggers Sorge. Was Nietzsches Erkenntnis- und Seinskritik betrifft, so geht ihr Unzulängliches schon aus dem einen Umstande hervor, dass er als Auslegung (Interpretation) versteht, was in Wahrheit souveräne Sinngebung des freien Geistes ist. Rechnet man Nietzsche überhaupt zu den Vermittlern abstrakter Erkenntnis, dann hält freilich der Psycholog, der Philosoph jedoch nur ein wenig tiefer schürfender Kritik überhaupt nicht stand. Wie gewaltig hingegen erscheint er als Prophet der Revolte der Erdkräfte! Von jeher schätzte ich seinen unvollendet gebliebenen Willen zur Macht am höchsten, weil dieser von genialen Visionen und aperçu strotzt, wie keine zweite Schrift des sterbenden neunzehnten Jahrhunderts. Hier nun aber vollendet Jaspers recht eigentlich, was Nietzsche selber nur skizzieren konnte. Aus der Erfahrung der Gegenwart heraus seinen focus imaginarius konstruierend, hat er Nietzsches Prophetisches wirklich so rein herausgeschält, wie dies überhaupt ohne Vergewaltigung möglich ist. Es gibt kaum ein in der Weltrevolution wirkendes Motiv, das nicht auf Nietzsche, wenn nicht als realen geistigen Vater, so doch als schärfsten Formulierer zurückwiese. Darum empfehle ich dieses Buch jedermann zur nachdenklichen Lektüre. Unter dem, was dank Karl Jaspers focus imaginarius zum erstenmal vollkommen deutlich geworden ist, ist nun vor allem die entscheidende Rolle hervorzuheben, die für Nietzsche seine Überzeugung spielt, dass Gott tot ist (s. besonders S. 215). Sah Nietzsche das Weltkriegs- und Nachkriegsgeschehen in phantastischem Grade richtig voraus, so war es, weil er wie keiner bisher verstand, was es bedeutet, wenn die Menschen den Glauben an eine metaphysische Verankerung ihrer Existenz verlieren. Dann muss die Zahl der Mitmenschen die Sicherheit schaffen, die früher ein geglaubter Gott gewährte; dann müssen Menschen vergöttert werden; dann muss das Zeitalter der Titanenkämpfe im Zeichen des dritten Schöpfungstags eine schauerliche Wiedergeburt erleben.

Gott ist nun freilich nicht tot. Die entscheidende Geschichte dieser Zeit spielt sich im Unsichtbaren ab. Gemäß dem Polaritätsgesetz konstelliert die herrschende Gottlosigkeit gerade ein neues tieferes Bewusstwerden des metaphysisch Wirklichen. Nach wenigen Jahrhunderten schon wird die Revolte der Erdkräfte als Einführung einer Revolution des Geists erscheinen, welcher hinausführt über das bisher historisch erreichte Stadium des Einbruchs des Geists. Doch diese Revolution wird besagte Revolte, als deren Prophet allein dann Nietzsche fortleben wird, nicht etwa erledigen. Alles Geschehen ist vieldeutig und vielschichtig. Die Revolte der Erdkräfte bedeutet unter anderem auch einen direkten Weg zu tieferer Vergeistigung. Hier knüpfe ich denn, zum Abschluss dieses Hefts, bei den Betrachtungen des Eingangsaufsatzes wieder an. Was not tut, ist nicht Des-Inkarnation, sondern tiefere Inkarnation des Geists in unser Erdenreich. Das Ideal wäre, dass nicht allein die geistbedingte Seele, auch nicht allein deren erdbedingter Teil, sondern sogar noch die Schicht des Dritten Schöpfungstags vom Geist durchdringbar würde. Hierzu aber bedarf es als Vorstufe einer Rückerhebung des in der christlichen Ära verdrängten Fleisches ins Bewusstsein, im Sinn der Tatsachen sowohl als in dem des Werts.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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