Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939

Realisierung und kritische Philosophie · Integrale Offenbarung

Dieses Ziel hat seinen reinen Erkenntnisaspekt: ihn hieß und heiße ich integrale Offenbarung. Vollkommene Gott- und Welt-Offenheit würde mit Naturnotwendigkeit zu einem Weltbilde oder einer Lehre führen, welche den Sinn gemäß dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck, selbstverständlich innerhalb der Grenzen des jeweiligen Ausdrucksmittels, vollkommen wiedergäbe. Zu beweisen wäre die Richtigkeit solchen Weltbilds und solcher Lehre selbstverständlich nicht, denn ein Beweisen gibt es nur auf der Ebene des objektivierenden Intellekts; logische Stichhaltigkeit beweist auf diesem Gebiete nichts. Aber sie würde sich dem offenen Geiste unmittelbar als wahr erweisen, so wie sich die strahlende und wärmende Sonne dem offenen Auge als wirklich erweist und den festlegenden Nach-Weis würde die Wirkung erbringen. Doch das Gesagte gilt nur grundsätzlich: praktisch wird es wohl nie vollkommene Gott- und Weltoffenheit geben, wie es sie denn bisher noch nie gegeben hat (daher die Beschränktheit aller bisheriger Offenbarungen), und insbesondere fordert das für alle Geistverwirklichung auf Erden gültige Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck in einer Welt steten Werdens und Wandels gerade keine einfürallemalige Wahrheit, sondern von Kairós zu Kairós die, welche dem jeweiligen Gesamtzustand entspricht. Wer sich selbst wirklich verwirklichen will, der wird jedes Jetzt immerdar nur als Ausgangspunkt für Höheres und Tieferes ansehen. Doch andererseits: die Entwicklung geht so langsam vor sich, dass geistige Gestaltungen als Ausdrücke des metaphysisch-Wirklichen alle viel längere Zeit als echte Offenbarungen wirken. Daher das lange Leben der hohen Religionen. Daher das Jahrtausende dauernde tief-Wirken von Metaphysiken, die dem Wortlaut und den empirischen Vorstellungen nach, die ihrerzeit zu ihrer Formulierung führten, eigentlich nicht mehr einleuchten sollten: je tiefer ein Geist, desto mehr ist alles, was er sagt, und drücke er sich noch so abstrakt aus, konkretes Sinnbild, und war dieses echt als Ausdruck des gemeinten Sinns zu seiner Zeit, so durchschaut es der Spätere und vielleicht geistig Entwickeltere und liest also hindurch durch alle verjährten Begriffe und alle zeitbedingte logisch-dialektische Konstruktion. Unter allen Umständen sind alle Metaphysiker Offenbarer und keine Denker. Sie drücken aus, was in ihnen zur Verwirklichung strebt, und erwecken es damit zum Leben auf dem empirischen Plan. Ihre Vorstellungen aber werden zu Offenbarungen im Gegensatz zu dem, was sie gewöhnlich sind, nämlich Verfälschungen, dadurch, dass sie durch konsequentes Lassen der ursprünglich gegebenen Vorstellungswelt, durch Hinein- und Zurücknehmen dessen, was sich gewöhnlich pseudopodienhaft nach außen zu projiziert, ihr Vorstellungsvermögen umschaffen von einem Mittel zur Überschichtung der Wirklichkeit in ein direktes Aufnahmeorgan, wie solches die Sinne darstellen. Solche Menschen sehen das geistig-Wirkliche vollkommen unmittelbar. Neue Organe sind in ihnen erwachsen. Diese höhere Organisation zu erreichen, ist nun ganz offenbar des geistbestimmten Menschen Fortschrittsziel. Sonst wäre er nicht zutiefst religiös. Sonst bekennte er sich nicht lieber zur primitivsten Metaphysik, als dass er gar keine hätte.

Was ist nun nach dem Vorhergehenden über die Metaphysik als Wissenschaft zu sagen? Dass sie ein Ding der Unmöglichkeit, ein hölzernes Eisen ist. Seine Grundeinstellung verbietet es dem Denker geradezu, zur metaphysischen Erkenntnis zu gelangen. Er kann immer nur darüber reden, worüber überhaupt nichts auszusagen ist. Hiermit ist einmal mehr über Denker-Metaphysiken, wie es heute die von Heidegger und Jaspers sind, der Stab gebrochen. Metaphysiken sind möglich und sinnvoll allein, insofern sie Offenbarungen bedeuten. Auf den Begriff der Offenbarung hat die Religion absolut kein Monopolrecht. Alle Erfahrung beruht auf Offenbarung; wird einem begnadeten Geiste den allermeisten unzugängliche direkte Erfahrung aus anderen Welten zuteil, so bedeutet solche Erfahrung technisch und erkenntniskritisch geurteilt nie anderes wie Natur-Erfahrung. Der Betreffende verfügt nur über Erfahrungsorgane, welche den meisten fehlen, die aber andererseits doch soweit keimhaft in ihnen vorhanden sind, dass ihnen die religiöse Wahrheit unwillkürlich einleuchtet. Dass der Bereich des Offenbarungsbegriffes bisher so sinnwidrig eng gefasst worden ist, liegt daran, dass die allermeisten Menschen zutiefst Erlösung im Sinn des Durchbruchs des metaphysischen Wesens anstreben, dass sie normale Erfahrung als Selbstverständlichkeit empfinden, dass sie sich für reine Erkenntnis wenig interessieren und dass die emotionale Ordnung bei ihnen die entwickelteste Seelenschicht ist. Das letztere wiegt darum schwer, weil bei den allermeisten der Begriff von Offenbarung mit denen der Überraschung und Erschütterung unlöslich verknüpft ist, und diese beziehen sich auf emotionale, nicht auf erkenntnismäßige Tatbestände. Nun sollte klar sein, dass Metaphysik nicht weniger zu bedeuten braucht als Religion. Letztere stellt eine spezifische Form der Beziehung zum metaphysisch-Wirklichen dar. Sie ist mitnichten die einzig mögliche.

Der metaphysisch so tief bewusste Osten war nie religiös im christlichen Verstand, und ich kann mir wohl denken — habe es in der Tat schon mehrere Male ausgesprochen —, dass die fernere Zukunft einer ganz neuartigen Beziehung zwischen metaphysischer und empirischer Wirklichkeit gehört.

Was bleibt nun dem wissenschaftlichen Geiste, den es zur Metaphysik hinzieht, als Betätigungsfeld? Nur eins die Kritik im kantschen Verstand der Grenzbestimmung und der Vollendung des Ausdrucks der Offenbarung im Sinne der Herstellung restloser Befolgtheit des Korrelations­gesetzes von Sinn und Ausdruck dort, wo dieser Ausdruck der Intellekt- oder Vernunft-Ebene angehört. In dieser einen Hinsicht wird kritische Philosophie immerdar ihre Berechtigung behalten, weil eben der Ausdruck metaphysischer Offenbarung der intellektuellen Vernunftssphäre angehört und Fehler im Ausdruck die Wahrheit jener verfälschen können. Die Aufgabe des Kritikers ist gegenüber der des Offenbarers selbstverständlich eine sehr bescheidene, denn ist der Sinn wirklich erfasst, so leuchtet er auch durch ungenauen Ausdruck hindurch, wogegen kein bloß-Kritiker das Allermindeste über metaphysische Wirklichkeit als solche auszusagen vermag. Da ich nun im Buch vom persönlichen Leben so scharfe Stellung gegen die Futilitäten der leider noch nicht ausgestorbenen wissenschaftlichen Metaphysiker genommen und den Typus des Denkers als solchen erledigt habe, soweit dies in meinen Kräften liegt, möchte ich diesesmal zum Schluss auf eine kritische Leistung hinweisen, die im Rahmen der Möglichkeit philosophischer Kritik auch dem, der vom metaphysisch-Wirklichen durch echte Offenbarung weiß, von größtem Nutzen sein kann. 1910 und 1911, in den Prolegomena und den ungefähr gleichzeitigen Aufsätzen in philosophischen Fachzeitschriften, stellte ich als einzige bedeutende Ästhetiker der Metaphysik, wie ich den Typus, den ich diesesmal kurz Kritiker heiße, damals benannte, Kant und Bergson hin. Im Buch vom persönlichen Leben ließ ich als letzte deutsche Fach-Philosophen, die noch Wesentliches vorzubringen haben, Scheler und Driesch gelten, wobei ich damals erklärte, dass die wahre Triebfeder bei diesen die Leidenschaft für über das Denken Hinausgehendes war. Bei Scheler ist dies das metaphysisch-Wirkliche, das er nie wirklich erlebte, außer vielleicht beim Sterben, wo er dämonische Erlebnisse gehabt zu haben scheint, bei Driesch die Welt des Organischen. Beide sind insofern keine reinen Denker. Driesch hat nun viel rein-Denkerisches geschrieben. Ich gebe a priori zu, dass diese Leistungen auf ihrer Ebene gut sind, denn Driesch eignet eine seltene Klarheit, ja Anmut des Denkens. Aber vom wesentlichen Standpunkte sind Ordnungslehren und ähnliche Systematiken Futilitäten. Bis vor kurzem stand und fiel Drieschs Bedeutung mit seiner Kritik des organischen Lebens, also der Anwendung seiner logisch-systematischen Befähigung zur intellektuellen Meisterung konkreter Wirklichkeit. Nun hat er auf seine alten Tage ein Buch geschrieben, das einen sehr anderen und würdigeren Titel verdient als den, unter dessen Flagge es in die Welt hinaus gesegelt ist: Alltagsrätsel des Seelenlebens (Stuttgart 1938, Deutsche Verlagsanstalt). Dieses kleine und unprätentiöse Büchlein stellt nämlich eine kritische Leistung ersten Ranges dar, insofern es, ähnlich derjenigen Kants, eine kopernikanische Wendung vollzieht: es versucht (ich ziehe kurz und darum karikierend in einem Satz zusammen), das Psychische aus dem Parapsychischen, das Normale aus dem für abnorm Geltenden, das Sehen aus dem Hellsehen, die Erinnerung aus der Telepathie heraus zu verstehen, wobei das Gehirn zu einem bloßen psychometrischen Objekte wird: es hilft zum Erinnern, wie der getragene Ring dem Hellseher Kontakt mit unbekannten Persönlichkeiten vermittelt. So wie ich es hier karikierend zusammenfasse, klingt Drieschs neue Lehre arg paradox. Ich kann aber versichern, dass sie mir kritisch besser fundiert erscheint als alle anderen mir bekannten — was bei mir freilich leicht erklärlich ist, da ich hier Drieschs Vorgänger bin: schon im Reisetagebuch und zumal in meinem Beitrag Die richtige Einstellung zum Okkulten zum Buch Das Okkulte (1921 geschrieben, 1922 veröffentlicht) welche Darlegung Driesch eigentlich hätte zitieren müssen, wenn er überhaupt einen einzigen anderen Menschen zitierte1, habe ich die gleiche Grundfragestellung angewandt.

Diese kritische Leistung ist — genau analog derjenigen Kants — darum von größter Wichtigkeit, weil sie dem Verstande und der Vernunft ermöglicht, die Möglichkeit dessen anzuerkennen, was über deren Sphären hinausreicht. Dies aber wiederum ermöglicht ein Lassen von Falschem genau im gleichen Sinn, wie wir es früher auf dem Wege zur Realisierung als unumgänglich notwendig erwiesen. Ob Drieschs Theorien die bestmöglichen sind, ist dabei irrelevant: mehr als Gerüste, wie sie der Architekt zum Bau verwendet, bedeuten wissenschaftlich-philosophische Leistungen nie; aber obschon sie dazu bestimmt sind, abgetragen zu werden, ermöglichen sie doch den Bau. Und hier komme ich, zum Schluss, auf das Schönste bei Driesch zu sprechen. Sokrates’ ungeheure positive Wirkung beruhte vor allem darauf, dass er wieder und wieder sein Nicht-Wissen betonte. Die Produktivität dieser Haltung beruhte nicht vornehmlich darauf, dass er sich weniger als andere auf Falschem festlegte, auch nicht darauf, dass sie ein Maximum an Welt- und Gott-Offenheit ermöglichte (die sich ja bei Sokrates gar nicht ausgewirkt hat, da ihm die betreffenden Anlagen fehlten), sondern auf der richtigen Einsicht in den Beruf des Kritikers. Diese Einsicht machte ihn zum Vater der europäischen Wissenschaft, deren tiefster Sinn ja darin besteht, durch Kritik Zutreffendes von Unzutreffendem zu scheiden. Driesch nun erklärt und bekennt häufiger als irgendein mir seit Sokrates bekannter Geist, dass er über dieses oder jenes Problem nichts sagen kann; dass die Voraussetzungen nicht gestatten, eindeutige Schlüsse oder überhaupt Schlüsse zu ziehen; dass über dieses oder jenes nichts Sicheres gewusst werden kann. Diese Grundeinstellung, die Bescheidenheit im einzig wertvollen Sinn bedeutet, und sie allein hat es Driesch ermöglicht, auf dem ungeheuer lebenswichtigen Problemgebiet der Beziehung des Geistigen zum Nicht-Geistigen, des Vergänglichen zum möglichen Unvergänglichen als Erster Grenzregulierungen vorzunehmen, die erklären, inwiefern metapsychisches Erleben, um mit Kant zu reden, überhaupt möglich ist und die dem Verstand- und Vernunftbefangenen den Weg weisen zum Lassen dessen, was er lassen muss, wofern er sein eigenes Wesen realisieren will.

1 Driesch, den ich persönlich seit 1907 sehr gut kenne, der viel in Darmstadt war und meine Werke sicher gelesen hat, der mir persönlich die anerkennendsten Briefe schreibt, behandelt mich in der Öffentlichkeit überhaupt, wie soll ich sagen, stiefmütterlich: so wird in seiner Wirklichkeitslehre meine Unsterblichkeit nicht zitiert, wo ich in diesem Jugendwerk vieles von den Betrachtungen, das Drieschs Lehre enthält, lange vor ihm gleichsinnig formuliert habe.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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