Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939

Bücherschau · Aldous Huxley

Immer wieder habe ich mich gefragt, warum angelsächsische Intellektuelle, falls sie in der Restauration der alt-liberalen Welt kein Heil sehen, trotz allem, was sie an Tatsachen erfahren müssen, so blind sie tun, zum Kommunismus neigen. Heute glaube ich die Antwort zu wissen, und zwar dank der erneuten Lektüre des schärfsten Intellektuellen unter Englands Schriftstellern, Aldous Huxley. Die heutigen intellektuellen Engländer sind ganz wesentlich Pazifisten — und das Urbild des Kommunismus, das die erste christliche Gemeinde gab, war pazifistisch. Ebenso aber ist es das ideale Ziel sogar der Bolschewisten, das Ziel, durch das sie allen Terror und alle Grausamkeit, als angeblich notwendige Mittel zum Zweck, rechtfertigen, pazifistisch. Hier tritt denn ein zweites spezifisch angelsächsisches Motiv hinzu: der Angelsachse hasst alles, was seinem moralistischen Vorurteilen widerspricht. So brutal und grausam und unchristlich er selber vorgehe — er will nicht sehen, dass er es tut; er braucht zu seinem seelischen Gleichgewichte eine Ideologie, die ihm die Dinge anders anzusehen erlaubt, als sie tatsächlich sind; eben hierauf beruht der englische cant. Dieser Selbstbetrug hat andererseits sehr reale Folgen: es wird faktisch so wenig als möglich sichtbarlich in gemeintem Sinn gesündigt; und da solche Sünden im großen Stil begangen schwer verborgen bleiben, so werden sie faktisch seltener begangen als unter anderen psychologischen Voraussetzungen geschähe. Nun ermöglicht die kommunistische Ideologie dem, auch wo er Intellektueller ist, nicht über-logischen Engländer, neben dem Bekenntnis zum heutigen Nationalideal des Pazifismus, dem für englische Begriffe Aufrüstung und Einkreisung anderer keineswegs widersprechen, ein theoretisches Bekenntnis zu den Idealen des cant: daher, noch einmal, die unwillkürliche Sympathie Englands für Sowjetrussland, die sehr schwer durch Enttäuschung zu erschüttern ist. Man braucht ja bloß nicht selber nach Russland zu reisen, und man merkt die Grausigkeit des dortigen Lebens ebensowenig, wie das Grausige so mancher englischer Kolonialmethoden. Dem Kommunismus im Gegensatz zum Fascismus kommt ferner die englische Abneigung gegen first principles zugute: die Idee und das Ideal des Kommunismus fordern nämlich letztendlich die Anarchie und nicht die Planwirtschaft, und der extreme Individualist zieht in tiefstem Herzen, was immer sein Verstand ihm sage, im Grenzfall das Chaos übergroßer Ordnung vor. Der Grund nun, warum gerade Juden und Angelsachsen instinktiv für den Kommunismus und gegen den Fascismus sind, beruht wohl auf einem besonderen Bedürfnis nach psychologischer Kompensation, welches diese zwei Rassen gleichsinnig spüren. Die Angelsachsen und die Juden hängen nämlich von allen Völkern auf Erden am meisten an Besitz und Reichtum: folglich müssen sie, falls sie überhaupt Umsturz wollen, zunächst für die Besitzlosigkeit sein.

Ich skizziere hier nur roh, aber das Wesentliche dürfte hiermit zur Genüge bestimmt sein. Die Füllung des Rahmens bieten die Schriften der meisten jüngeren Angelsachsen. Huxley, als der intelligenteste von allen, die ich hier meine, hat in einem Punkte überdies allgemeingültig Richtiges gesagt: dass der Hauptfehler gar vieler Reformer, den zumal Calvin immer wieder beging, mit dem Bekenntnis zum Jesuiten-Grundsatz zusammenfällt, dass das Ziel die Mittel heilige: tatsächlich kommt es auf die Mittel mehr an, als auf die Ziele, denn sehr selten werden weitgesteckte je für die Dauer erreicht, und so wirkt sich das Karma durch die ganze Menschengeschichte hindurch hauptsächlich von Mittel zu Mittel aus. Alle Vermenschlichung, in welchem Sinn auch immer, von der Abschaffung der Folter bis zur Altersversicherung liegt ja durchaus auf der Ebene der Mittel, denn praktisch hat wohl kein erfolgreicher Reformer jemals an die Möglichkeit der Verwirklichung eines Idealzustandes geglaubt.

Doch auch das Negativste an der angelsächsischen Einstellung ist mir an dieser Lektüre erst ganz klar geworden: der Umstand, dass vor allem Amerikaner (aber hier nähern sich diesen die heutigen Engländer immer mehr) keinen höheren Wert mehr anerkennen als den der kindness, der Freundlichkeit. Dies bedeutet vieles, aber vor allem zweierlei. Erstens natürlich cant: es werde jemand nur freundlich übers Ohr gehauen, dann ist alles gut; gleiches gilt von der guten Miene zum bösen Spiel — wohlgemerkt vom Gewinner aus gesehen; aber die angelsächsische Erfolgsmoral geht ausschließlich vom Gewinnenden aus und fordert vom Verlierer, dass er nichts übelnehme. Zweitens bedeutet das Ideal der Freundlichkeit den Verlust des Sinns für jeden höheren Wert, als den der angenehmen Empfindung. Jeder Wertbewusste nimmt unter allen Umständen Härte als das geringere Übel hin. Insofern bedeutet also das Kindness-Ideal die Negation aller Verpflichtetheit Höherem gegenüber, und damit sehr Schlimmes. Das Schlimme offenbart sich aber vollends als solches, wenn man bedenkt, dass das Kindness-Ideal jedes Schaffen und Aushalten von Spannungen, jede Selbstüberwindung und jede positive Stellung zur Tragik des Lebens entwertet. Da nun gerade in der Höchstbewertung der entsprechenden Tugenden die Größe alles früheren Angelsachsentums lag, so beweist das jüngste Ideal ganz unzweideutig dessen Dekadenz.

In der letzten Auflage des Spektrums (erschienen 1930) hatte ich das England-Kapitel schon in schwerer Sorge um Englands Fortbestand als Werteträger ausklingen lassen. Diese meine Sorgen sind von Jahr zu Jahr gewichtiger geworden. Der Kommunismus führt nun einmal praktisch zum Bolschewismus und dieser ist wesentlich nicht nur welt- sondern selbstzerstörerisch. Die genaue Ausführung und Begründung dieser letzten Gedanken finden meine Leser in meinem Aufsatz Désagrégation et Rénovation, den unsere Bibliothek besitzt.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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