Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

29. - 30. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1940

Bücherschau · Reise durch die Zeit

Die Bücherschau dieses Jahres wird spärlich ausfallen, denn im Dezember 1939 kam die Muse, von der ich für lange Zeit, wenn nicht für immer, Abschied genommen zu haben glaubte, vielleicht eben deshalb plötzlich und unerwartet auf so überwältigende Weise über mich, dass ich in drei Monaten nahezu zwei Bände im Umfang des Reisetagebuchs eines Werks, das, falls ich lange genug lebe, viele Bände umfassen wird, in einem Zuge niederschrieb. Und indessen fehlte zu der Art distanzierten und absichtsfreien Lesens, welche der Stil unserer Bücherschauen voraussetzt, die innere Möglichkeit. Es handelt sich hierbei um das Werk, das ich schon im Jahre 1937 in Heft 26, dieser Mitteilungen unter dem Titel Zeitgenossen voranzeigte und von dem ich damals auch die Einführung, wie ich sie damals plante, veröffentlichte. Nur hat sich der Plan seither vollkommen verändert, obwohl ich vieles aus den bereits 1937 und 1938 geschriebenen Kapiteln in den neuen Text habe herübernehmen können. Das auf Zeitgenossen eingestellte Erinnerungsbuch hat sich in eine Reise durch die Zeit — dies ist der endgültige Titel — verwandelt, welches das Gegenstück und zugleich die Ergänzung jener Reisen durch den Raum bedeutet, welchen vier meiner Hauptwerke Ursprung und besonderen Stil danken. Jedes Kapitel ist eine Einheit für sich: es umfasst ein sonderliches geistig-seelisches Kraftfeld zugleich universellen (im historischen wie kosmischen Verstand) und allerintimsten Charakters, damit die Korrespondenz von Makro- und Mikrokosmos exemplifizierend, um den Brennpunkt einer als Sinnbild gemeinten erlebten Persönlichkeit oder Gruppe oder auch um ein ebenso sinnbildlich gemeintes allgemeines Problem verdichtet. Jedes Kapitel stellt gleichzeitig ein rückhaltloses Bekenntnis, ja eine Beichte dar. Da also die Korrelation von Allgemeinstem und Persönlichstem das eigentliche Thema ist, so gibt es buchstäblich nichts, was ich im Rahmen dieses Werkes nicht behandeln könnte. Bis an mein Lebensende werde ich selbständiges Kapitel auf selbständiges Kapitel, für sich bestehenden und lesbaren Band auf für sich bestehenden und lesbaren Band folgen lassen können, in notwendigem und doch wieder losem Zusammenhang, da eben jedes Kapitel eine selbständige Einheit für sich bildet. Das ganze Werden meiner Zeit, meine ganze persönliche Entwicklung, das ganze Leben des Geistes und der Geister, an denen ich teilhatte und -habe, wird so auf die Dauer um verdichtende Brennpunkte herum gesammelt werden. Der erste, bereits vollendete Band enthält die Kapitel Vorfahren, Zeitgenossen, Houston Stewart Chamberlain, Rudolf Kassner, Wolkoff, Meister des Gedankenstils, Kosmopathische Seelen, Städter und Urnaturen, Leo Tolstoi und Mütter; der zweite jedenfalls (es können noch mehr hinzukommen) die Kapitel C. G. Jung, Roman von Ungern-Sternberg, Puritaner, Schule der Weisheit, Bernard Shaw, Miguel de Unamuno und Verhärtete und Wiedergeborene. Auch vom dritten Bande sind schon mehrere Kapitel wenigstens skizziert.

Die Bände sollen nicht auf einmal, sondern nach und nach erscheinen, als zusammenhängende Serie, von denen jedoch jeder einzeln gelesen werden kann; insofern besteht formelle Ähnlichkeit mit Romain Rollands Jean Christophe und Jules Romains Hommes de bonne volonté. Dieser Selbständigkeit entsprechend wird auch jeder Band unter dem Grundtitel Reise durch die Zeit einen besonderen Untertitel tragen; so der erste Ursprünge und Entfaltungen, der zweite Abenteuer der Seele.

Wann wird nun der erste erscheinen? Das weiß ich nicht. Ich persönlich interessiere mich für diese Frage wenig. Denn dieses Buch ist nicht mehr ein Geisteskind, so wie es meine früheren Bücher waren: sein Schreiben gehört vielmehr zu jenem Loslösen vom Ich zum Zwecke letzter Inkarnation des mich von innen her treibenden Geistes, über welches ich in Heft 27, dieser Mitteilungen S. 4-6 das Wesentliche gesagt habe. Von jeher wurde ich das, was ich herausgestellt hatte, eben dadurch innerlich los. Nun möchte ich meine ganze Geschichte loswerden zwecks endgültiger Polarisierung mit dem zeitlos Seienden zum Ziele vollkommenen Frei-Werdens. Insofern ist mir das Schreiben sehr viel wichtiger als das Veröffentlichen. Zu letzterem wird es ganz von selbst kommen, wenn einmal die Zeit reif ist dazu, d. h. wenn weiteste Kreise wieder einmal dringend nach mir verlangen und äußere Hindernisse von selber zu sein aufhören. Gern hätte ich den ersten vollendeten Band zur Feier meines Eintritts in das konfuzianische Alter meinen Freunden vorgelegt: aber auch diesen Wunsch erkannte ich rechtzeitig als Versuchung und ließ vorläufig alle äußeren Pläne. Einstweilen mögen unsere Mitglieder in die zwei Fragmente Einsicht nehmen, die ich in der Januarnummer der Monatsschrift Der Deutsche im Osten (zu beziehen vom Verlag des Danziger Vorposten, Danzig) und der Juninummer des XX. Jahrhunderts (Eugen Diederichs Verlag, Hauptschriftleitung München 9, Schönchenstraße 25) vorveröffentlicht habe. Deren erstes führt den Titel Vorfahren, deren zweites Verhärtete und Wiedergeborene. Sollten zu dem Zwecke, als allen Mitgliedern zugute kommendes Geburtstagsgeschenk für mich und zugleich zur Feier des zwanzigjährigen Jubiläums unserer Gesellschaft, genügend große Spenden einlaufen, worüber in den Mitteilungen des Sekretariats Näheres zu lesen steht, so werde ich gern ein oder zwei Extrahefte des Wegs zur Vollendung, je nachdem, mit größeren Fragmenten ausschließlich für unsere Mitglieder herausbringen. Mehr soll vorläufig nicht geschehen. Dieses Buch ist restlos unpolitisch, betrachtet alles vom Standpunkt der Seele: Kriegszeiten sind seinesgleichen nicht hold.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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