Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

29. - 30. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1940

Bücherschau · C. G. Jung

Inzwischen habe ich natürlich mancherlei gelesen, nur eben im Zusammenhang mit meinem eigenen Schaffen; deswegen kann ich meine Betrachtungen darüber nicht herausstellen, ohne dessen Prozess zu stören. Immerhin sind einige Ausnahmen möglich. Deren erste betrifft C. G. Jung. Anlässlich des diesen betreffenden Kapitels las ich seine wichtigsten Werke wieder und kam dabei unter anderem zur folgenden Beleuchtung seiner Persönlichkeit:

Nicht nur psychologisch, mythologisch und theologisch, auch geistesgeschichtlich ist Jung wahrscheinlich der gebildetste Mann seiner Zeit — ich sage gebildet und nicht gelehrt, weil ich ausdrücken möchte, dass ihm sein Wissen jederzeit als Werkzeug zwecks schöpferischer Tat zur Hand ist. Er wusste früh, was ihre Erlebnisse den religiösen Schauern bedeuteten, und der Psycholog in ihm wusste natürlich von je, dass im Seelenleben eben die Bedeutung über die Wirklichkeit entscheidet. Aber andererseits ist Jung ebenso wesentlich, wie er Psycholog ist, auch vergleichender Forscher, insonderheit Religionsforscher, und wer überhaupt von Vergleichen Wesentliches erwartet, dem muss, solang er in dieser Einstellung verweilt, der Sinn für das schlechthin Einzige, welches andererseits der einzige Exponent des unbedingt Universellen hier auf Erden ist, abgeblendet werden. Es ist eins der größten, wenn nicht das größte Hindernis auf dem Wege zur Wesenserkenntnis, wo letztere angestrebt wird, von Vergleichen Einsicht zu erwarten. Vergleiche sind möglich nur auf der Ebene des Äußerlichen, und dort sind sie freilich sinnvoll; so sind z. B. alle Einzelmenschen zweifelsohne Menschen überhaupt. Doch was ist durch solche Fragestellung für die Erkenntnis der Wirklichkeit der Seele gewonnen, welche in jedem Fall an erster und letzter Stelle einzig ist? Seit Jahrzehnten predige ich es anscheinend tauben Ohren: der empirische Exponent des Universellen ist das Einzige und nicht das Allgemeine. Und beinahe ebenso irreführend wie die Frage nach der Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit ist die nach der Ursache. Wird unter letzterer die raison d’être, die ratio essendi verstanden, dann mag die Frage hingehen, wenn es auch immer einsichtsfördernder ist, zunächst auf alle und jede kausale Fragestellung zu verzichten und einfach das Sosein, die haecceitas, innerlichst zu assimilieren. Doch die allermeisten suchen empirische Ursachen, wo sie die Frage überhaupt stellen, und da ist die Fragestellung unter allen Umständen futil, da kein Geschehnis weniger als Milliarden von Ursachen hat und es allemal einen Willkürakt bedeutet, eine einzige davon ausschließlich zu betonen. Von diesen beiden professionellen Gebrechen des Forschers ist Jung nie frei geworden. So ist er auch über ein Schwanken hinsichtlich der letzten Deutung nie hinausgekommen. Am sichersten wirkte Jung in Libido, da er noch in hohem Grade an seinen ersten Lehrer glaubte. In den Psychologischen Typen rettete er gewissermaßen seine Sicherheit durch Einstellung auf das, was die Erkenntnistheorie in bezug auf behauptende Metaphysik bedeutet; so rettete sich Kant. In seinen späteren Schriften nun rang er sich immer mehr zu einer ähnlichen Grundeinstellung durch, wie ich sie von der Schöpferischen Erkenntnis (1922) ab methodisch vertreten habe, und damit ward es ihm möglich, die Autonomie der Seele immer schärfer zu erkennen und immer unbefangener anzuerkennen und so von Jahr zu Jahr immer mehr Einblicke ins Metaphysisch-Wirkliche zu gewinnen. Aber auch hier ward ihm nie wirklich wohl; darum betonte Jung immer mehr und mehr die Unmöglichkeit, genau zu wissen, bekannte er sich immer ausschließlicher zu seinem Forschertum. Aber tatsächlich strebte er anderes an, was von außen her nicht zu sehen und zu beurteilen, nur innerlich zu realisieren ist. So wirkt Jung, alles in allem, als dank einer eigentümlichen Ungeschlachtheit, gepaart mit sehr großem Fein- und Spürsinn, paradoxal ergreifende Geistesgestalt. Dies findet in seinem Körper eine selten getreue Verkörperung. Jung ist als Körper ein Bär, ungeschlacht und stark und behend zugleich, ohne Grazie; seine Bewegungen entsprechen seiner selten ungepflegten, ja ungehobelten Ausdrucksweise; doch dieser moles ist ein Kopf mit einer der feinsten Nasen aufgesetzt, welche ich gesehen, und die kleinen Augen haben einen nicht nur scharfen, sondern raffinierten Ausdruck. Ins Mythisch-Bildliche übertragen ist Jung als psychophysische Gestalt ursprünglich ein Bergmann, welcher Steinbrüche sprengt und Blöcke zunächst nur grob behaut. Aus dem einen oder anderen meißelt er aber doch einen vielversprechenden, im einzelnen wunderbar ausgeführten Torso heraus, und zwar hat er hierbei verschiedene Stile, welche sich eigentlich ausschließen; eine vereinigende Synthese oberhalb dieser gelang ihm nie. So war Jung in verschiedenen, voneinander nahezu unabhängigen Einstellungen praktischer Diagnostiker, Arzt, Naturforscher im Sinne des 19. Jahrhunderts, Erkenntniskritiker, Geisteswissenschaftler, vergleichender Mythenforscher, Bahnbrecher und Wegbereiter einer neuen Seelenkunde und Aspirant zu eigenem religiösen Erleben. Doch es dominiert in ihm in allen Einstellungen letztlich der Empiriker und der vergleichende Forscher.
…Das Geschilderte tut nun freilich dem geistigen Werte seines Werkes Eintracht, wenn es als Vollendetes beurteilt werden soll. Aber das darf es gar nicht. Je älter Jung wird, desto mehr verwahrt er sich selber dagegen. Sein Werk ist vor allem ein gewaltiger geologischer Aufschluss, auf dem Gebiet der Seelenkunde wohl der gewaltigste aller bisherigen Geschichte.

In seinem letzten, dieses Jahr bei Rascher & Co. in Zürich erschienenen Buch Psychologie und Religion dominiert nun der vergleichende Imaginolog, als welchen ich den Forscher in Jung in meinem Jung-Kapitel bezeichnet habe, mehr denn jemals früher. Das ist wohl als Alterserscheinung zu deuten: normalerweise neigt jeder gegen Lebensende dazu, sich selber in den Zusammenhang des Menschheitserbes, in den das Wesentliche seiner Persönlichkeit bald aufgehen wird, einzuordnen. Höchst Interessantes enthält dieses kleine Buch, in dem die Einstellung, welcher Wandlungen und Symbole der Libido ihren Ursprung danken, eine Wiederverkörperung auf neuer Ebene erlebt, über die lebendige Bedeutung der religiösen Symbole; besonders bemerkenswert ist das völlig neue Licht, welches Jung auf die Problematik der Alchemie wirft. Sehr wichtig ist auch, was Jung hier über die Zurückziehung der Projektionen (S. 149), die Metamorphose der Götter (S. 151/153), die Wahl der Götter (welche Menschen allemal selber vornehmen, dagegen schaffen sie sich ihre Götter nie) und zumal Nietzsches paradoxalen Glauben an einen toten Gott (S. 154) und überhaupt, die Bedeutung des Göttertodes (S. 162, 171) vorbringt. Aber eine Klärung des bei Jung früher problematisch Verbliebenen bringt dieses Buch nicht. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass Jung in allen wesentlichen Fragen immer mehr zu Goethes Ehrfurcht vor dem Geheimnis als letztem Worte neigt.

Dafür hat Jungs langjährige Mitarbeiterin Fräulein Toni Wolff in der bei Julius Springer in Berlin veröffentlichten Festschrift zu Jungs 60. Geburtstag (1935) Die kulturelle Bedeutung der komplexen Psychologie unter dem Titel Einführung in die Grundlagen der komplexen Psychologie eine erkenntniskritische Situierung und gedankliche Durchdringung von Jungs psychologischen Erfahrungen und Intuitionen unternommen, von der ich nur sagen kann, dass ich die beiden ersten Teile Methodologie und Struktur mit Bewunderung las. (Der dritte Teil Der psychologische Energiebegriff ist weit schwächer, der vierte Die kulturelle Bedeutung der komplexen Psychologie fällt gegen die beiden ersten vollends ab. Das Problem, welches der dritte Teil behandelt, hat Jung selbst übrigens so vollkommen gelöst, als von seinem Standpunkt möglich ist: seine Energetik der Seele, welche ich jetzt erst las, ist seine gedanklich bei weitem beste Leistung. Allerdings offenbart dieses Buch auch wie kein anderes Jungs Grenzen: kam der Begründer der Psychoanalyse vom mechanistischen Denken nie frei, so ist Jung innerlich festgelegt als Energetiker im Sinne Wilhelm Ostwalds, also gleichfalls Kind des 19. Jahrhunderts). Die Arbeit ist beinahe ungeheuerlich abstrakt geschrieben. Doch soweit Jungs Einsichten begrifflich zu fassen sind, hat Toni Wolff sie wirklich gefasst, und zwar (bis auf die angeführte eine Ausnahme) besser als Jung selber, dem sie kritisch-philosophisch erheblich überlegen scheint. Da sie nun aber andererseits Jungs famula ist, jahrelang, wie es in analytischen Kreisen heißt, dessen unentbehrliche Mitarbeiterin war und an Jungs Lehre offenbar wie an ein Evangelium glaubt, so bietet ihre Arbeit wirklich das, was Jung bieten möchte, jedoch zu leisten persönlich außerstande ist. Wer immer Jung begrifflich verstehen will, der studiere diese Arbeit. Sie ist äußerst mühsam zu lesen, jedoch die Mühe lohnt. Da Toni Wolff, Jungs Anschauungen restlos teilt, so gilt das, was gegen diese letztlich anzuführen ist, natürlich auch von den betrachteten Darstellungen. Andererseits aber leuchtet das, was bei Jung als gesicherte Erkenntnis gelten darf, aus ihr mit letzter Klarheit ein.

Weniger eine Durchdringung als eine klar zusammenfassende Darstellung von Jungs Gesamtlehre auf dem Niveau von dessen eigener letzter Denkinstanz bietet Frau Dr. Jolan Jacobis, gleichfalls bei Rascher & Co. in Zürich erschienenes Büchlein Die Psychologie von C. G. Jung. Diese Arbeit wirkt noch abstrakter als diejenige Toni Wolffs, weil die Verfasserin nicht aus der Vollmacht langjähriger konkreter Erfahrung schreibt, sondern, was sie zu sagen hat, aus Jungs Schriften kürzend abstrahiert. Und abstrakter als der abstrakteste Mann zu schreiben, wofern sie überhaupt abstrakt schreibt, scheint das Schicksal jeder vornehmlich denkenden Frau zu sein — was wohl, wie ich für Kenner von Jungs Psychologie bemerken möchte, vom Animus-Problem her zu verstehen ist. — Aber andererseits ist Frau Jacobis Arbeit, im Gegensatz zu derjenigen Fräulein Wolffs, leicht verständlich; sie gibt eine vollständige Synopsis von Jungs Lehre, die zudem den Vorzug hat, durchaus richtig und von Jung auch als richtig anerkannt zu sein. So ist sie als bisher beste Einführung in Jungs Schaffen allen zu empfehlen, die dessen Hauptschriften noch nicht kennen und gewohnt sind, von Verstandesbegriffen her an die seelische Wirklichkeit heranzutreten.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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