Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

31. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1941

Bücherschau · Frank Thiess · Das Reich der Dämonen

In Heft 26, Seite 44, dieser Mitteilungen versuchte ich dazu beizutragen, dass Frank Thiess’ wirklich gewaltiges Epos Tsushima richtig gesehen werde. Originales richtig-Sehen scheint unter Menschen zum Seltensten vom Seltenen zu gehören; kaum einer unter Zehntausenden gewahrt an Geistesschöpfungen anderes, als was entweder er selber zu sehen erwartete, oder was andere ihm darüber vor-sagten; sogar der Geist des Widerspruchs, dieser häßliche Embryo — aber eben doch Embryo — wenn nicht der Selbständigkeit, so doch der Haltung des Selbstverantwortlichen, schwächt das hiermit gegebene Verhängnis für das Schicksal geistiger Originalität nur wenig ab. Daher das an sich so gänzlich unverdiente, ja lächerliche Prestige der Nachwelt. An sich bedeutet Nach-Leben fortschreitendes Vergessen und völlige Gewissenlosigkeit gegenüber dem, was einmal war; die meiste Überlieferung ist Geschichtsfälschung. Doch unter den Nach-Lebenden findet sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte meist ein verstehender und urteilsfähiger Geist von Prestige und Popularität, welchem ein Verkannter kongenial ist; dank dem wird das Fehlurteil der Zeitgenossen dann revidiert. Leider ist aber auch solche Revision selten eine gerechte: nur zu häufig bedeutet sie Vergötterung aus neuem ehrlichem Falsch-Sehen heraus, oder — was leider häufiger vorkommt — aus der Sucht, im Namen eines als groß gepriesenen anderen Eigenes zu sagen und auf diesem Umwege selber groß zu erscheinen. Daher — dieses daher bezieht sich wieder auf der meisten Urteilslosigkeit — die ungeheure Verantwortlichkeit des Kritikers. Leider aber spürt nicht einer vom Hundert der Beurteiler von Profession echte Verantwortung. Letztere kann nur dieses zeitigen: innere Verpflichtetheit gegenüber der Blindheit der allermeisten Leser, welche Verpflichtetheit an erster Stelle die Aufgabe bedingt, die Bezeichnungen richtigzustellen. Der Kritiker hat einen Geist oder eine Leistung so hinzustellen, dass ihr wahrer Charakter und ihre wahre Bedeutung auch für sich Blinden, jedoch des Sehens nach erfolgter Zeigung doch Fähigen, einleuchten. Doch was tun statt dessen die allermeisten Kritiker? Sie benutzen die ihnen zuerkannte Tribüne besten Falls dazu, von der Voraussetzung der Bekanntheit der Persönlichkeit oder des Werkes her — wo doch die erste einzuhaltende Spielregel aller Kritik fordern sollte, dass so geschrieben werde, als hätte kein Leser je ein Wort vom Besprochenen früher gehört —, Einzelnes zu beanstanden oder zu loben; schlimmeren und leider! ungleich häufigeren Falles benutzen sie ihre Tribüne völlig gewissenlos zur Perpetuierung von Vorurteilen, zur Sicherung der Stellung der Clique, welcher sie angehören, wenn nicht zum Vortäuschen ihrer Überlegenheit gegenüber dem Gegenstand, den sie behandeln. Ich nun habe in diesen Bücherschauen seit nunmehr einundzwanzig Jahren ein Beispiel dessen zu geben versucht, was positive Kritik ist. Sehr viele bisher verkannte Geister sind dank ihnen fortan dauernd richtig gesehen worden. Und mag ich meine Sache im Einzelfalle noch so schlecht gemacht haben: ich weiß, dass mein Bemühen als solches, noch so langsam, reformatorisch wirkt.

Diese allgemeinen Bemerkungen, die im übrigen vielleicht den einen oder anderen zum ersten Male ganz verstehen lehren werden, was meine Bücherschauen bedeuten und welchem Zweck sie eigentlich dienen (es ist doch eigentlich grotesk, anzunehmen, ich befasse mich mit Bücherrezension, schon gar als Selbstzweck!), möchte ich dem vorausschicken, was ich über Frank Thiess’ neues Buch Das Reich der Dämonen (Wien 1941, Paul Szolnay Verlag) zu sagen gedenke. Es darf überhaupt nicht mit Tsushima verglichen werden. Erstens ist es immer ungerecht, ein Buch mit anderen des gleichen Autors zu vergleichen, sie sind alle Einzigkeiten für sich; jedes entspricht einer sonderlichen Phase des Verfassers. Zweitens ist nichts gleichgültiger und unerheblicher als das Ergebnis von Vergleichen überhaupt: Verstehen beginnt mit der Wahrnehmung von Einzigkeit. Drittens und endlich ist davon auszugehen, dass Frank Thiess’ höchste Begabung die des Epikers ist; nur wenn er sich als reiner Epiker darstellt und alles andere, sowohl an seinen Gaben als an den Gegenständen seines jeweiligen Interesses, ins Epische hineinbezieht, kann er sein Bestes geben. Sonst exzelliert Frank Thiess im Dialog und gelegentlich in der lyrischen Episode. Hier nun aber hat Frank Thiess ein Werk geschrieben, das zu vier Fünfteln gedanklichen Charakters ist. Nur die Kapitel über Justinian und Theodora, ja eigentlich nur das, was letztere phantastisch-große Frauengestalt betrifft, sind episch im Geist des besten Frank Thiess. Das nimmt aber diesem Buche nichts von seinem außerordentlichen Interesse. Frank Thiess ist ein sehr kluger, sehr scharf beobachtender und nach dem Tiefsten strebender Mensch. Meine Meditationen öffneten ihm, wie er gern selber zugibt, die Tore zu den Untergründen des Lebens. Und von dort her hat er es unternommen, die dämonischste aller Gestaltungen der Geschichte Europas, diejenige von Byzanz, an das Tageslicht modernen Sinn-Verstehens hineinzubeschwören. Betrachtet man sein neues Buch nun aus diesem Gesichtswinkel, aus dem allein heraus es richtig gesehen werden kann, dann bietet es der Anregungen die Fülle. Es wird einem wie nie früher klar, welch dämonische Untergründe das Griechentum überhaupt — nicht nur das byzantinische hatte (das erste Fünftel des Buchs betrachtet auch das heidnische Hellas in gleichem Zusammenhang); und hier handelt es sich um sehr viel Abgründigeres und Furchtbareres als das, was Nietzsche unter seinem Dionysischen verstand. Oft habe ich mir ausgemalt, wie viel tiefer Nietzsche erschiene, wenn er von der Apokalypse und nicht nur vom Parnass und seinen Mänaden her die Gegenwelt zum Apollinischen zu beschwören fähig gewesen wäre. Von Thiess’ Standort aus entrollt sich nun ein unheimliches Panorama, innerhalb welches alles Bekannte einen neuen geistigen Ort erhält: die Religionskämpfe, die Dogmenstreitigkeiten mit ihrem Korrelat im Zirkus, die in Europa beispiellose Synthese von Feinsinn und Grausamkeit, von unermeßlichem Reichtum und bodenloser Armut, von imperialer Gesinnung und Alkoven-Macht; und das Ganze doch zur Einheit zusammengefasst und gleichsam überwölbt, gleich wie die Kuppel der Hagia Sophia die ungeheure Basilika überwölbt, von echt christlicher Carität im Glanze überirdischer Schönheit.

Mehr will ich nicht sagen. Es lese jeder dieses Buch und denke dabei gelegentlich auch an persönlich Erfahrenes. Nur eines vermeide er nach Möglichkeit: zu urteilen. Je älter ich werde, desto unnachsichtiger empfinde ich gegenüber allen denen, welche nach der Lektüre weniger Seiten dekretieren: dieses Buch ist gut, jenes ist schlecht geschrieben. Ist es im Fall von Büchern von reichem Gehalt nicht völlig gleichgültig, welches Urteil ein Mensch von nicht goethischen oder platonischen Dimensionen fällt? Was ihm gefällt und was ihm nicht gefällt? Hat der so hochmütig Urteilende denn gar nichts zuzulernen? Ich glaube von byzantischer Geschichte von mir aus erheblich mehr zu wissen als die meisten. Nichtsdestoweniger habe ich dank dem Reich der Dämonen gewaltig zugelernt. Und um des Positiven willen das, was sich gegen das Buch als Kunstwerk sagen ließe, kaum bemerkt.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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