Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Geistliche Körper

In letzter Zeit fand ich zum ersten Male Zeit und Gelegenheit, mich eingehend mit dem Phänomen der Therese Neumann von Konnersreuth zu beschäftigen. Die Literatur über dasselbe ist gewaltig; ich möchte vor allem, wegen der offenbaren Echtheit und inneren Wahrhaftigkeit des Schreibers, das gelehrte und gewissenhafte Werk von Bischof Teodorowicz Konnersreuth im Lichte der Mystik und Religion (Salzburg, Verlag Pustet) empfehlen. Auf die Tatsachen will ich hier überhaupt nicht eingehen; diese sind so sicher festgestellt, als in solchen Fällen überhaupt möglich ist. Ich will hier nur meinen persönlichen Eindruck und meine Deutung desselben mitteilen. Und da muss ich sagen, hier liegen völlig einwandfrei erforschte und erwiesene Erscheinungen vor, die nach dem bisherigen Sprachgebrauch als übernatürlich bezeichnet werden müssen. Ich nenne vor allem Theresens Sühneleiden und ihr nun schon jahrelang geführtes Leben ohne Speise und Trank mit der einzigen Ausnahme der täglichen Einnahme der Hostie. Wird diese ihr einmal nicht rechtzeitig gereicht, dann zeigt Therese alsbald Verhungerungssymptome.

Katholische Freunde fragten mich, als sie von meinem Interesse für dieses Phänomen und meiner Überzeugung von seiner Echtheit hörten, wie ich denn solch positiver Einstellung fähig sei, wo ich nicht Katholik bin und wo die Eucharistie mir persönlich nichts bedeutet. Diese Frage gibt mir willkommene Gelegenheit, eine Wahrheit, die schon im Reisetagebuche ausgesprochen steht, doch erst im Kapitel Abgeschiedenheit der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit ihren abgeklärten Ausdruck gefunden hat, an einem konkreten Beispiel ganz deutlich zu machen. Die gemeinte Wahrheit enthält der Satz:

Das Göttliche offenbart sich jedermann
im Rahmen seiner intimen Vorurteile.

Kein christlicher Visionär, der nicht Christliches schaute, kein buddhistischer, dem seine persönliche Offenbarung nicht seinen Glauben bestätigte, kein islamischer, ja kein religiös Erlebender einer beliebigen höheren Religion, von dem nicht Gleiches gelte. Die einzigen Ausnahmen bilden die Fälle, in denen ein unbewusst zu einer neuen Religion bereits Bekehrter dieser Veränderung erst in ekstatischem Zustande oder sonst plötzlich gewahr wurde. Aus dem Behaupteten folgt nun aber nicht, dass solche bestimmte Schauungen nicht Wirklichkeitserkenntnis vermittelten, sondern dreierlei: erstens, dass metaphysische Wahrheit niemals und grundsätzlich nicht Wahrheit im Sinn der Naturwissenschaft oder Geschichte ist; zweitens, dass sie an sich jenseits von Name und Form west; drittens und vor allem aber, dass es der Glaube als solcher ist, dank welchem metaphysische Wahrheit diese oder jene Form annimmt und mittels dieser ihre Wirklichkeitsgemäßheit weil Wirksamkeit beweist.

Jede hohe Religion verdammt den Zweifel als solchen. Zu einem von ihm Geheilten sagte Jesus: Dein Glaube hat dir geholfen. Tief Gläubige haben wieder und wieder Gebetsheilungen vollzogen, Therese Neumann gar lebt buchstäblich, im körperlichen Verstand, von der geistlichen Nahrung des Sakramentes, an welches sie mit schlichter Einfalt glaubt. Mir scheint: die ganze christliche Glaubenslehre ist in diesen wenigen Sätzen nicht nur enthalten, sondern durch dieselben auch erklärt. Richtig verstanden, behauptet jene Lehre mit keinem Satz, dass Glaubenswahrheit mit wissenschaftlicher Richtigkeit zusammenfalle. Und das philosophisch Bedeutendste am empfohlenen Buch von Teodorowicz ist der Nachweis, dass die mögliche historische Unrichtigkeit von Theresens Visionen deren religiöser Bedeutung und Wahrheit nicht im mindesten Abbruch täte. Der Glaube, wie ihn das Christentum versteht, ist für echte Christen eben der Weg, um am metaphysisch Wirklichen Teil zu gewinnen und dieses ins Empirische überzuleiten. Es ist notabene nur für Christen der Weg. Diese bestimmte Art Glauben kennen weder Brahmanisten noch Buddhisten noch Taoisten, und doch finden wir unter deren Größten mehr und tiefere Realisierer des metaphysisch Wirklichen als unter den metaphysisch weniger gut begabten christlichen Abendländern. Sogar das islamische Glauben, so nah verwandt es dem christlichen sei, ist nicht dasselbe Glauben. Hier verlangt Wahrhaftigkeit, genau so scharf und deutlich zu unterscheiden wie zwischen verschiedenen Tierarten. Aber das christliche Glauben ist für christliche Gläubige wirklich, realiter, der Weg, religiöse Wahrheit innerhalb von Name und Form zu realisieren. Wer als Christ über Name und Form hinaus ist, für den gilt dieser Satz natürlich nicht mehr ganz, wenngleich auch er in seinen Bildern, die ihm spontan aufleuchten, an seine Tradition gebunden bleibt.

Von hier aus begreift man ganz, was die Begriffe eines Corpus Mysticum, Corpus Christianum, einer Gemeinde der Heiligen, der Una Sancta, ja der Kirche überhaupt an Gültigem besagen. Therese Neumann gehört mit seltener Ausgesprochenheit, Einseitigkeit und zugleich Transparenz, wie man vielleicht am besten sagt, um zu bekunden, dass hier die bestimmte Gestalt trotzdem nicht letzte Instanz ist, dem Corpus Catholicum an. Darum bestätigt all ihr Erleben und Wirken die Lehre der katholischen Kirche und sie allein.

Gleichsinnig gehört aber jeder Religiöse von seiner historisch bedingten Psyche — dem Äquivalent der Art und Gattung auf dem Gebiet des Körperlichen — her irgendeinem Corpus an. Fühlt er sich gedrungen, sich von einem zu einem anderen zu bekehren, so bedeutet dies, dass er sich vorher nicht zu seinem eigentlichen Körper bekannt hatte, oder dass in der Sphäre der kollektiven Psyche für ihn — und darum zugleich für unzählige andere — eine Mutation fällig ist. Diese Wandlung verdeutlicht am besten der Prozess der Christianisierung des Abendlandes und insonderheit die Bekehrung Pauli. Auch der Griechenglaube hatte jahrtausendelang metaphysisch Wirkliches offenbart; von einem bestimmten kritischen Punkte an vermochte er es, außer in ganz seltenen Ausnahmefällen, nicht mehr… Genau gleichsinnig können heute sehr viele echt Religiöse nicht mehr Christen sein. Das ändert aber nichts an der Wahrhaftigkeit des konkreten Erlebens solcher, die physiologisch dem Corpus Christianum angehören und wie Therese Neumann alles Einzelne im Rahmen bestimmter Dogmen erleben. (Ganz anders liegt es natürlich bei denen, denen ihr ererbter Glaube bloße Sicherung im Sinn der Wissenschaft und Technik oder eine bloß physiologische Notwendigkeit in Sinne von Diät bedeutet und denen die Sakramente zu Zaubermitteln geworden sind; so waren auch die letzten heidnischen Priester nur mehr Hygieniker, Techniker und Zauberer, und deren Gemeinde glaubte an sie wie heute viele an verjährte wissenschaftliche Theorie, deren Aufgeben ihnen ihren letzten inneren Halt nähme.) Dass die Dinge so und nicht anders liegen, wusste übrigens Jesus selbst: sicher ist die antithetische Lehre der Bergpredigt so zu akzentuieren, wie dies Johannes Müller-Elmau tut: ich aber sage Euch, d. h. denen, die zu mir gehören. — Selbstverständlich erschöpfen diese kurzen Betrachtungen nicht im aller entferntesten den ungeheuren Problemkreis, welchen allein schon das Phänomen von Konnersreuth umfasst. Aber mehr will ich heute und hier nicht sagen. Zeitlebens habe ich Durchschauen der Gestaltung gelehrt. Hier kehre ich die Perspektive einmal um: ich möchte zeigen, wie man gerade vom Durchschauen her die unbedingte Bedeutung und Geltung des Einmaligen einsehen kann.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME