Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

2. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1921

Bücherschau · Sorel, Foerster, Wells

Zu den interessantesten Schriften, die mir letzthin in die Hände kamen, gehören die Réflexions sur la Violence von Georges Sorel, jenem Bergsonianer, der zu Bergsons größter Verstimmung aus dessen Theorien umstürzlerische Konsequenzen zog. Sorel ist nämlich zwar Syndikalist, jedoch nicht so einseitig, wie die meisten seiner Gesinnungsgenossen, die nur ihrer Klasse, d. h. den syndizierten Arbeitern, Daseinsberechtigung zu, erkennen: er sieht im Klassenkampf das Mittel, die Gesamtheit neu zu vitalisieren. Seiner Ansicht nach müssen die Arbeiter am Mythos des mörderischen allgemeinen Ausstands, welcher faktisch schwerlich je zu verwirklichen sein wird, festhalten, um die Kapitalistenklasse energisch zu erhalten; das Gewaltprinzip müsse wieder zu Ehren kommen, auf dass die Menschen nicht zu Schlafmützen würden. Ungefähr gemäß Sorels Vision entwickelt sich die Welt. Nie waren die Aussichten der Pazifisten geringer als gerade heut; nie standen die Aktien des Schlappen schlechter.

Und wenn die deutschen Unternehmer neuerdings nicht allein eine Initiative, sondern Erfolge aufweisen, die in der ganzen Geschichte ihresgleichen suchen, so liegt dies vor allem an der doppelten Bedrohung durch die Entente und die Arbeiterschaft. Tatsachen bedeuten in der Geschichte immer nur soviel, wie man aus ihnen zu machen weiß. Die umstürzlerische Bewegung dieser Zeit kann noch zum reinen Segen werden, wenn sie dem Geist des Aufbaus neue Wege weist. In diesem Sinne verfolge ich die Tätigkeit von Hugo Stinnes mit ungeheurer Spannung: hier kann es sich, falls dieser fähig ist, seine praktischen Ziele im Geiste tieferer Einsicht zu verfolgen, um das Werden eines völlig Neuen handeln, das mit keinem überkommenen Begriffe zu fassen gelingt…

Doch davon ein andermal. Heute möchte ich nur noch einmal davor warnen, das Heil von irgendeiner Bewegung zu erwarten, hinter der kein schöpferischer Impuls steht, und die folglich nicht mit den gegebenen Kräften und Mitteln rechnet. Jede Schöpfernatur trägt ihr Ideal in sich und kümmert sich daher wenig um die Verwirklichung von fertig Herausgestelltem (Programmen, Theorien). Wer sich an diesen orientiert, stellt sich dadurch außerhalb des lebendigen Zusammenhangs hin, weswegen nicht allein Ideologen, sondern überhaupt sogenannte Geistige, wie man sie neuerdings in Deutschland heißt, im tiefsten Sinne ohnmächtig sind und politisch bedeutungslos bleiben, seien ihre Gedanken im übrigen noch so klug, und würden sie auch zeitweilig zu Ministern berufen. Sie verstehen eben nicht, dass Fortschreiten allein im Medium des Zeitlichen möglich ist, und dass, wer dessen Charakter und Kräftegleichgewicht verkennt, den gleichen Fehler begeht wie der Dichter, der für seine Stimmung oder Intuition nicht die angemessenen Rhythmen, Reime und Worte findet. So hat der Pazifismus gerade hinsichtlich der Verwirklichung seines Ideals bis auf weiteres keine Zukunft: gerade seine Gesinnung wird den Frieden auf Erden nicht herbeiführen. Dass z. B. F. W. Foerster es für möglich hält, sein Ideal unter den heutigen Umständen durch ein Werk wie die Aufsatzsammlung Mein Kampf gegen das nationalistische und imperialistische Deutschland (Verlag Friede durch Recht, Stuttgart 1921) zu fördern, beweist einen Mangel an Blick für die Wirklichkeit, die ihn als politischen Denker verurteilt. Heinrich Schurtz, ein begeisterter Achtundvierziger, erkannte nach dem Scheitern dieser Revolution, dass sein Ideal eines geeinigten Deutschlands unter den neuen Umständen nur auf neuem Wege verwirklicht werden könne, erklärte seinen Revolutionsfreunden offen, dass er ihre Rolle nunmehr für ausgespielt halte, verzog nach Amerika und begrüßte später von dort aus, aus den gleichen Motiven wie vorher die achtundvierziger Führer, den Genius Bismarcks. Dank dem Gewaltfrieden von Versailles ist ein rechtbestimmtes Europa keinesfalls mehr auf dem Wege herzustellen, wie dies etwa 1916, als beide Seiten noch annähernd gleich stark waren, durch vernünftiges Übereinkommen möglich gewesen wäre, oder noch 1918 und 1919 dank supremer Weisheit der Alliierten. Jetzt spielt die Entente die Rolle, wie vormals das blinde Deutschland, und die realen Mächte sehe ich nicht, dank denen sich in absehbarer Zeit ein abstrakter Rechtsgedanke durchsetzen könnte. Jetzt kann das Recht nur dadurch schließlich siegen, dass Deutschland sich nicht ausbluten lässt. Also verlangt gerade das Ideal, das Foerster vertritt, heute heroisch nationale Gesinnung. Er aber vermag dies nicht zu sehen; sein Mangel an praktischem Blick verdunkelt auch sein metaphysisches und ethisches Bewusstsein. Es ist unzulässig, das Vorgehen der Entente seit 1918 dadurch zu rechtfertigen, dass Deutschland früher Schlimmeres vollbracht und im Fall eines Siegs keinen besseren Frieden diktiert hätte. Die Ebene der Guten ruht oberhalb der des Vergeltungsgedankens. Mit dem Augenblick, wo die Entente den Frieden im Geist der Gier und Rache schloss, war ihre moralische Überlegenheit dahin. In der Geschichte gibt es nur lebendige Gegenwart. Foerster ist, was er auch sage, auf seine Art ein Reaktionär. Er glaubt an das endgültig tote vorbismarcksche Deutschland, verkennt die organische Notwendigkeit von Bismarcks Werk, bei dem alle bessere Zukunft, gerade im Sinne Foersters, anknüpfen wird, und wähnt aus der Erkenntnis vergangener Fehler als solcher sein Volk zu erneuern. Diese Erneuerung kann ausschließlich aus heroischem Zukunftsstreben heraus geschehen, allein durch Kräfte, welche Neues an die Stelle des sterbenden Alten setzen. Wie, wenn die friedliche Vereinigung Europas durch die Weitsicht einiger Großindustriellen geschähe? Ich sage nicht, dass es so kommen wird, aber dieser Weg ist wahrscheinlicher, als jeder von weltfremden Ideologen gewiesene.

Ich drücke mich hier aphoristisch und fragmentarisch aus, nur um den Leser zum Selbstdenken anzuregen. Axiom ist: ein Ideal lässt sich immer nur durch vorhandene und den Umständen gemäße Mittel verwirklichen. Heute kann ein geeinigtes Europa nur auf die eine Weise zustandekommen, dass kein einzelnes Volk Vergewaltigung duldet, ebenso wie ein gerechter Ausgleich der Klassengegensätze nur noch dadurch erfolgen kann, dass keine Klasse sich knechten lässt. Wir leben nicht am Ende, sondern am Beginn eines ehernen Zeitalters. — Und doch wirkt nach wie vor das universalistische Ideal. Wann, wie wird es verwirklicht werden? Die Blindheit ist allerseits so groß, dass man mit sehr langen Zeiträumen rechnen muss. Heute stellt die Schweizerische Eidgenossenschaft den Prototyp dessen dar, was Europa günstigstenfalls einmal sein wird. Aber sie hat fünf Jahrhunderte dazu benötigt, um so weit zu kommen, kaum ein möglicher Fehler der einzelnen Klassen und Kantone blieb unbegangen derweil und ohne Napoleons Machtspruch wäre die Schweiz vielleicht heute noch nicht vereinheitlicht. Ein geeinigtes Europa setzt Europäer voraus: gibt es die schon? — Es gibt Einzelne. Möchten diese recht bald bedeutungsbestimmend werden. In diesem Sinne wünsche ich in angelsächsischen Landen dem neuesten Werk von Wells An outline of history den weitesten Erfolg. Dieses Buch kann epochemachend werden in der englischen Geistesgeschichte. Zum ersten Mal wird hier den Briten gezeigt, dass die Welt vom insularen Standpunkt aus nicht mehr zu verstehen ist, wird ihnen ferner gezeigt, wie dieses Kriegszeitalter sich, angemessen durchlebt und geistig verarbeitet, als notwendige Vorstufe der Völkervereinigung, herausstellen kann. Auch Deutsche sollten dieses Buch lesen. Wissenschaftlich beurteilt, scheint sein Inhalt alles eher als einwandfrei, und manche Behauptung, die es enthält, stände besser in einem kurzlebigen Feuilleton; für manches Große fehlt ihm jedes Verständnis. Aber die Gesinnung, die es atmet, scheint mir in Vielem vorbildlich. Wells ist über- nicht unternational, wie die meisten kosmopolitischen Deutschen, das heißt sein Weltbürgertum setzt zugleich die Vorliebe für das eigene Volk und Land. Er ist praktisch genug, um überall mit den Tatsachen zu rechnen, macht sich keinerlei Illusionen über die Menschennatur. Deshalb trägt seine Zukunftsschau an keiner Stelle den Stempel weltfremder Ideologie. Wells weist den Weg dazu, wie man Geschichte erleben muss, oder genauer, welche innere Richtung dabei einhalten, damit das Menschheitsideal allendlich verwirklicht würde. Das Produktivste ist die Rückwärtsschau im Licht einer möglichen besseren Zukunft. Hier wird kein notwendiges Fortschreiten konstruiert, es wird gezeigt, wie sehr es vom Menschen abhängt, wie die Welt erscheint. — Es ist, gerade in seiner Rückwärtsschau ein prospektives Buch, ein Ansporn zum Bessermachen. Wer Geschichte in diesem Geist betreibt, fördert sich und andere, auch wenn er sonst Irrtum auf Irrtum häuft. Die Irrtümer von Spengler und Chamberlain, beides bedeutenderen Geistern, als Wells einer ist, schädigen die mögliche günstige Wirkung. Warum? Weil beide Theoretiker sind und doch praktische Impulse erteilen. Also fühlen sie sich praktisch unverantwortlich. Das Gegenteil gilt von Wells. Weshalb hier theoretische Irrtümer keine wichtige Rolle spielen. — Es kommt eben auch bei Büchern weniger auf das, was sie sagen, an, als in welchem Geist sie es tun.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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