Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

34. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1943

Seiende und Sehende

Das gleiche Grundthema, wie das vorhin behandelte, sei jetzt aus einem anderen Gesichtswinkel beleuchtet. Jedermann weiß oder könnte es wissen, dass parapsychisch veranlagte Menschen als Persönlichkeiten außerordentlich oft bedenklich sind, und dass die klügsten Gelehrten als Substanzen den Vergleich mit echten Edelleuten, d. h. ihrem persönlichen Wesen nach Adeligen, Kriegern und sogar reinen Praktikern des Lebens selten aushalten. Das liegt daran, dass das Sehen im weitesten Verstand, wozu auch das Hören, Wissen und Verstehen gehört, über das Sein gar nichts präjudiziert, ja dieses sogar bei starker Begabung leicht in der Höherentwicklung hindert; daher die Seligpreisung der Armen im Geist. Wer durch äußerliches Mehr-Erfahren innerlich weiterkommen will, erreicht dann allein einigermaßen sein Ziel, wenn es ihm gelingt, seine Erfahrung seinen tief-unbewussten Bildekräften einzubilden, wozu neben der Meditation, wie dies besonders Otto J. Hartmann einleuchtend gemacht hat, eine hohe Ausbildung der Kunst des Vergessens gehört; und die ist äußerst selten anzutreffen, weil ja die meisten auf ihr Wissen mehr als auf alles andere stolz oder eitel sind. Wer in anderer Einstellung als in der auf inneres Weiterkommen durch Wandlung mittels bewussten Vergessens noch so viel Wissenswertes erfährt, wird dadurch nicht weiser, als wie ein Telephon, durch welches Gott spräche, dadurch mehr würde als ein beliebiger Fernsprechapparat. Das Wichtige ist nun, dass aller wesentliche Fortschritt ausschließlich auf Seiende und nicht auf Sehende zurückgeht. Dem ist so, weil nur Sein überhaupt auf Sein wirkt und darum nur Polarisierung mit großen Seienden, ganz einerlei, wie viel diese im üblichen Sinne wissen, Höherentwicklung einleiten und fördern kann. Dieser eine Satz erklärt, warum kein Okkultist als solcher je seinssteigernd gewirkt hat; sie alle waren und sind ausschließlich auf Wissen eingestellt, das ihre Jünger alsdann bewusst als Glauben festhielten. Nun hat sich der substantielle Geist trotzdem zu aller Zeit, so oder anders, in Form dessen der Welt der Erscheinungen eingebildet, was der Grieche Logos hieß, und alles Logoshafte verkörpert natürlich Wissen. Aber es verkörpert es eben, es spiegelt dasselbe nicht nur oder schaut es nur von außen an. Daher die von derjenigen der Seher und Gelehrten so gänzlich verschiedene Wirkungsart substantieller Geister. Erstens einmal steht das, was diese vertreten, im Sinn des vorhergehenden Aufsatzes jenseits von Richtig und Falsch. Zweitens stellt es eine lebendige Kraft dar, in bezug auf deren Eigenart gleichgültig ist, ob und inwieweit sie sich ihrer selbst bewusst ist. Drittens ist es unmittelbarer Ausdruck ,von Geist, gleich wie der Körper Ausdruck des Lebens ist, kein Ergebnis von Abstraktion und Herausstellung auf die Ebenen der Welt der Künstlichkeit und des Zwischenreichs. Viertens ist es niemals Theorie, d. h. Mittel zum Begreifen von außen her, der Begriffswelt zugehörig, sondern Sinnbild von Seiendem. Endlich ist das von substantiellen Geistern vertretene Wissen von allem sonst so genannten dadurch toto genere verschieden, als es Äußerung von unmittelbarem Selbst-Bewusstsein, somit eines Innerlichen im Gegensatz zum Bewusstsein von Äußerlichem ist. Doch noch einmal: auf das Bewusstsein kommt es hier sogar im Fall von Erkenntnis am wenigsten an, sondern nur aufs Sein.

In mythischen Zeiten wurde darum alles echt-Geistige auf Inspiration von Göttern, auf Ausstrahlung von deren Sein zurückgeführt. Aber was einst die Götter waren oder für das Bewusstsein vorstellten, ist heute das schöpferische Selbst, das hinter allem Ichbewusstsein west. Eines der wichtigsten Ergebnisse der vergleichenden biologischen Forschung ist die Erkenntnis, dass sich das Leben im Verlauf seiner Höherentwicklung immer mehr verinnerlicht. Dieser Prozess beginnt mit der Elementargeschöpfen unbekannten Gastrulation, hat seinen prototypischen physischen Ausdruck darin, dass dem nach-außen-Geranke der Pflanzenzweige der eingestülpte Darm mit seinen Windungen entspricht und findet seinen Höchstausdruck in der abgeschlossenen Selbst-Zentriertheit des höchstentwickelten Menschen. Das Selbst verkörpert und bedeutet diesem eben das, wie die Sonne der Pflanze. Dieses persönliche einsame Selbst als letzte Instanz gab es nicht immer; die großen Religionen und Mythologien haben noch alle einen überpersönlichen Hintergrund. Aber eben darum waren die damaligen Menschen auch noch keine Seienden im heutigen Verstand. Heute gibt es kein Zurück mehr vom Zustand der Ichzentrierung, möglich ist nur ein Darüber-hinaus. Es gibt darum auch kein Heil mehr in einem Diesseits, sondern nur in einem Jenseits des Egoismus. Aber eben den Weg dahin kann nur noch weiter vorgeschrittenes Sein weisen und keinerlei Wissen um Werden und Gewesenes, kein Sehertum, keine Wissenschaft, kein Schauen überhaupt. Letztlich ist es gleichgültig, ob diese oder jene Welt- und Entwicklungstheorie nun mehr oder weniger zutrifft, ob es ein Karma-Gesetz gibt, inwiefern u.s.f.; was immer man nur schaut, bleibt außer einem, und schauen kann man überdies nur die Erscheinung und damit die Oberfläche. Von der noch so deutlich herausgestellten Vorstellung zum innerlichen Sein gibt es keinen direkten Übergang; den Übergang kann nur das noch so dunkle und dumpfe, noch so unverstandene Erleben schaffen. Darum gilt es letztlich niemals zu schauen; sondern persönlich zu leben. Und wenn höherentwickelte Geister einen hierbei fördern können, so ist es nicht, insofern sie mehr wissen oder richtige Theorien aufstellen, sondern insofern sie mehr sind, und ihr Sein im Prozess der Polarisation auf andere übertragen und es damit verwandeln.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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