Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

35. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1944

Zum Horizont der Kuh

Von Kind auf habe ich Verehrung für die Kuh gespürt, nie jedoch für das Pferd. Und es kam mir nur natürlich vor, wenn ich später von vergöttlichten Rindern las — bei den Indern, Persern, Ägyptern — und nirgends von zu Göttern erhobenen Rossen, außer im einen Fall des wahnsinnigen Caligula. Für mich gibt es kein einleuchtenderes Sinnbild zu reinem Trieb verstofflichter kosmischer Männlichkeit als den Stier; keinen mächtigeren Ausdruck in sich gekehrter Allmütterlichkeit als den Blick der Kuh. Wogegen der Gestalt des Pferdes, auch des edelsten, jedwede innere Beziehung zum Transzendenten fehlt.

So habe ich nie an der Kuhäugigkeit der Hera Anstoß genommen und immer tiefe Sympathie zum Mithras-Kult gefühlt. So war mir Reitermentalität von jeher Sinnbild der Seelenlosigkeit. Kürzlich nun las ich eine Verherrlichung der Kuh von einem mir neuen Gesichtspunkte her. Sie sei das Genie der Verdauung. Kein Gehirn, so mächtig und differenziert es sei, leiste ähnlich Großartiges wie der Magen und Darm des verdauenden und wiederkäuenden Rindes. Darüber hinaus aber behauptete der gleiche seltsame Mann, der offenbar besonderer Innenschau fähig war, dies: die Kuh schaue aus ihrem tiefsten Mittelpunkte heraus das Wirken ihres Stoffwechsels, die Verwandlung des Toten in Lebendiges, die Einbeziehung der Außenwelt in das Innere, mit gleichsam ehrfürchtigem Verstehen, und genieße das Erlebnis dieses Geschehens ähnlich wie ein Johannes Kepler die Harmonie der Sphären. Indem sie aber alles deutlich wahrnehme, was innerhalb des Körpers vorgehe, erlebe sie eine ebenso weite Welt, wie der zum Himmel hinaufschauende und in Funktion des Unendlichen denkende Mensch.

Selten hat mich Evokation fremdartigen Erlebens so sehr zum Weiterdenken angeregt. Zunächst gedachte ich der vielen mir bekannten Frauen, welche den Zustand der Schwangerschaft als weihevoll empfinden und inniger genießen, als die Gegenwart des geborenen Kindes: diese leben bewusst im kosmisch — stofflichen Werden drin. Gleichsinnig leben viele Frauen in inniger Teilnahme das Sterben und damit den Prozess stofflicher Auflösung mit. Dann aber löste sich meine Vorstellung von der reinen Stofflichkeit, und nun fiel mir ein: Ist der anscheinend kosmisch-weite Welthorizont des sehenden und denkenden Menschen nicht auch eine Projektion des Innerlichen auf die Außenwelt, wie die erlebte Weltweite der verdauenden Kuh? Sicher ist dem also zunächst in dem allgemeinen Sinn, dass jeder nur Innerliches erlebt und dieses erst in zweiter Instanz herausstellt; das primär Herausgestellte erlebt er nicht. So hörte das Erleben des Firmamentes auf mit dem Ende der Astrologie. Und sicher erlebt der Mensch primär alles in Projektionen auf die Außenwelt. Zieht er diese auf höherer Wachheitsstufe in sich zurück, spürt er den Gott inwendig in sich, schaut er im Inneren der Seele, was frühe Zeiten aus den Sternen herauslasen, so ist es nicht eigentlich so, dass er in sich zurückgeht, denn er verließ sich nie; seine Perspektive hat sich verändert. Und kein Zufall ist es, dass sich gleichzeitig mit diesem psychologischen Prozess die Welt der Atome als ebenso weiter und ähnlich geordneter Kosmos enthüllte, wie andersgearteten Menschen der Himmel allein. Doch am Sinnbild der ihren Verdauungsprozess als weltumfassend erlebenden Kuh ist noch viel mehr zu lernen. Vor allem dies: Wenn eine Frau, nachdem ihre Liebe sich fixiert hat, alles und jedes auf den oder die Geliebten bezieht und so das Weltall im kleinsten Kreise erfüllt erlebt, so dass ihr der ganze Weltprozess seinen gesamten Sinn vom Wohl und Wehe einzelner Menschen erhält — was tut sie anderes als die verdauende Kuh? Und was tun wir Menschen, Männlein und Weiblein, Philosophen und Praktiker, alle anderes, wenn wir mittels weniger uns einmal gegebener oder selbstverständlicher oder einleuchtender Koordinaten die Unermeßlichkeit des Weltgeschehens bestimmen? Wenn wir für einen Glauben, ein Vaterland, ein Volk, ein Ideal zu sterben bereit sind, weil dessen Niederlage oder Verlust unserem Leben seinen ganzen Sinn nähme? Wir können doch nicht mehr erleben, als was wir eben tatsächlich erleben. Wer Gott nicht spürt, hat keine Religion, was immer er konstruiere; wem das Weltgeschehen nicht von Natur aus problematisch ist, für den gibt es tatsächlich keine Probleme, für den sind sie objektiv nicht da. Die Bedeutung schafft auch hier den Tatbestand. Die Dinge liegen nun aber nicht so, wie die meisten meinen, dass der Horizont der einen eben weit, derjenige anderer eng ist, sondern: alle Horizonte sind für den Erlebenden weltenweit. Was immer der Mensch erlebt, erlebt er ins Universelle transponiert. Klar hätte dies Jedem bei seinem ersten großen Liebeserlebnis werden können, weil jeder in diesem ein kosmisches Ereignis sieht; oder an der Anschauung des Mädchens, das in der Hingabe gerade an diesen oder jenen Mann ein Ereignis von größerer Bedeutung sieht, als in einer Kriegserklärung zwischen Großmächten. Tatsächlich halten aber Erlebnisintensität und kosmische Weite einander überall die Waage, oder sie entsprechen sich. Eng ist die Welt nur dem nicht oder schwach-Erlebenden. Wohl die engste aller Welten ist die des abstrakten Denkers, dem die dem Verstande innewohnende Verallgemeinerungsmöglichkeit das ganze und einzige Vehikel seiner Universalität ist. Der steht im Grunde gleichgültig zu allem, außer zum Allermateriellsten, dem letzten Halt und Hort seiner ganzen Wirklichkeit, welches er auch entsprechend ernst nimmt. Die Diners vieler deutscher Philosophie-Professoren waren berühmt, und sicher war in diesen mehr erlebte Wirklichkeit angelegt, als in ihren Systemen. Schon der Geschäftsmann großen Stils ist universeller als der abstrakte Denker. Mit Bewunderung beobachte ich im Lauf zweier Weltkriege die Mentalität großer Kriegsgewinnler. Nur ihren schmutzigst — persönlichen Vorteil haben diese im Auge, selbstverständlich. Doch mit grabwespenartiger Sicherheit ziehen sie diesen von Fall zu Fall aus dem richtiggesehenen Weltgeschehen heraus, so dass man sagen kann: ein großer Schieber erlebt die Welt intensiver, als jeder, der sie bloß nach-denkt. Er lebt in wirklicher Gemeinschaft mit ihr, was sich schon daraus ergibt, dass er unwillkürlich das für ihn Sinngemäße tut; man kann aber überhaupt nur wirklich, was man unwillkürlich kann, denn da allein geschieht alles Einzelne aus dem großen Ganzen heraus. So lässt sich von jeder besonderen Interessenrichtung her das Weltganze erfassen und umspannen. Dabei aber kommt auf die Intensität alles an. Die Extension ist die Resultante dieser, nicht umgekehrt, genau wie das Geld dem zwangsläufig zuläuft, welcher richtig disponiert, oder wie sich die Welt dem freiwillig unterordnet, der persönliche Überlegenheit erreicht hat. Und immer und überall spiegeln sich Inneres und Äußeres, steht das eine für das andere, weist das andere auf das eine zurück. Wer da sagt: Gott lebt im Himmel, oder inwendig in mir, behauptet gleiches, sofern er es wirklich und intensiv erlebt.

Worauf beruht nun letztlich der Unterschied, zumal der Wertunterschied zwischen dem Weiten und dem Engen, so wie man die Begriffe gewöhnlich versteht? Inwiefern ist der Weltweise der Kuh vielleicht dennoch überlegen? Der Unterschied hat seinen Gradmesser am Reichtum der Anlagen und Elemente. Man kann nicht sagen, dass die Kuh den Weltprozess weniger tief erlebe als jener; als in den Stoff versenktes Leben erlebt sie ihn sogar zweifelsohne tiefer. Keinem menschlichen Bewusstsein ist das Wunder der Verwandlung des Toten in Lebendiges zugänglich.

Aber die Kuh erlebt nur mit wenigen Elementen des Weltwesens, allzuviel schließt sie aus. So tut es aber auch die in ihrer Liebe aufgehende Frau. So tut es der einseitig Gläubige. So kommt es denn letztlich auf den Inhalt und Gehalt dessen an, was einer tief zu erleben fähig ist. Hier setzt denn der Unterschied zwischen spirituellem, geistigem, emotionalem und materiellem Erleben ein. Das Unendlichkeitserleben des Darms ist dem des Herzens und der Seele und des Geists nicht ebenbürtig. Nichtsdestoweniger steht die tieferlebende Kuh höher als der, welcher nur mit Abstraktionen rechnet. Damit gelangen wir zu einem neuen Begriff der Universalität. Am schlechtesten fährt bei dieser Neubestimmung der Abstraktling. Dementsprechend ist die äußerlich unendlich weite Welt des heutigen mechanisierten Europäers und gar Amerikaners tatsächlich enger als die seiner abergläubischen Vorfahren. Für letztere war alles Geschehen sinnvoll, für ersteren hat gar nichts Sinn. Im Erleben der Sinnerfülltheit liegt aber der Gradmesser der Wirklichkeit für alle Wesen, welche des Sinnerlebens fähig sind. Darum lässt sich durch echten Aberglauben hindurch die Wahrheit fassen, aus richtig urteilender Gleichgültigkeit heraus nichts. Alles Echte ist durchschaubar, es liegt wirklich Wesentliches dahinter; vom Verdauenserleben der Kuh her ist tiefstes Weltverstehen möglich. Das Unechte ist allezeit opak, und hinter ihm liegt nichts.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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