Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

3. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922

Von der Grenze der Gemeinschaft

Goethe schlug einmal vor, man solle den Deutschen dreißig Jahre lang verbieten, das Wort Gemüt auszusprechen — dann könnte vielleicht etwas aus ihnen werden. Nun, das Gemüt birgt für die Deutschen von heute keine Gefahr mehr; wohl aber tut es ein anderes: das Postulat der Gemeinschaft. Kein Name wird heute so oft und so unnützlich geführt; kein Begriff steht wesentlichem Fortschritt so oft im Weg.

Dove si grida, non è vera scienza, meinte Leonardo da Vinci. Dementsprechend deutet der dauernde Ruf nach Gemeinschaft zunächst und vor allem daraufhin, dass diese fehlt. In der Tat: keine Menschheit war je atomisierter als die unserige, keiner tat folglich allerdings lebendiger Zusammenschluss so ernstlich not. Insofern haben die Gemeinschaft Fordernden durchaus recht. Nur irren sie ebenso durchaus in der Annahme, dass Gemeinschaft gemacht werden könne: durch äußere Vereinigung, Statuten, Tagungen, Aussprachen und ähnliches mehr; sie kann allein erwachsen. Dieses aber — hier liegt der springende Punkt — gelingt am schwersten dort, wo man unmittelbar auf Gemeinschaft hinzielt.

Denn solche bedeutet innere, nicht äußere Einheit. Insofern ist es zunächst belanglos, ob sie äußerlich überhaupt zutage tritt; von den wesentlichsten, tiefsten hat die Menge noch nie das mindeste gemerkt. Dann aber: wie entsteht innere Gemeinschaft? Allein dadurch, dass die Tiefen sich finden. An der Oberfläche tobt unabänderlich der Daseinskampf; dort ist Konkurrenz Gesetz, lebt ein Wesen notwendig auf anderer Kosten; man zergliedere, so scharf man nur kann, das Getriebe der Natur: keinerlei Gemeinschaftssinn lässt sich in ihr entdecken, der nicht durch inneren, organischen Zusammenschluss begründet wäre, also durch etwas, was jenseits der unmittelbaren Erscheinung liegt. Folglich kann Gemeinschaft allein von innen nach außen erwachsen. Soweit dürften viele zustimmen. Nun aber kommt die Hauptfrage: Kann solche überhaupt erwachsen, wo das Innere dem Bewusstsein unerschlossen blieb? Sie kann es nicht. Also beruht das Scheitern aller Gemeinschaftsbestrebungen, wie wir dies täglich zumal innerhalb der Jugendbewegung erleben, auf dem einen entscheidenden Umstand, dass die Betreffenden ihre eigene Tiefe nicht entdeckt haben. Wer wahre Gemeinschaft will, muss zuerst nach Selbstverwirklichung streben, nicht unmittelbar nach jener; denn nur im Innersten hängt die Menschheit wesentlich zusammen. Weshalb denn die Weisheit aller Zeiten und Völker lehrt, wer sein Selbst gefunden habe, der werde eben dadurch selbstlos, zu einem Borne reinen Gebenwollens, reiner Liebe. Demgegenüber hat kein Tiefer je die Meinung vertreten, dass Vergesellschaftung als solche vertiefe. So gelangen wir denn zu einer Einsicht, die zunächst paradox klingen mag. Allerdings ist das Fehlen jeder Gemeinschaft unter den Menschen das Grundgebrechen dieser Zeit; es ist der eigentliche Exponent ihrer Oberflächlichkeit. Aber um zur Gemeinschaft zu gelangen, dürfen wir, sofern wir oberflächlich geworden, nicht unmittelbar nach ihr streben; wir müssen vielmehr Fühlung gewinnen mit unserem einsamen Selbst; wir müssen uns einsam auf uns selbst besinnen. Das Tiefste im Menschen ist zunächst ein schlechthin Einsames; niemand kann von ihm aus kommunizieren im üblichen Verstand, wo der Zusammenhang dadurch zustande kommt, dass man aus sich selbst in eine andere Einheit hinaustritt. Die wahre Kommunion entsteht nur dadurch, dass sich eine tiefere Einheit in einem selbst erschließt, jenseits, nicht diesseits der letzten Einsamkeit. Also ziele, wer die Gemeinschaft will, zunächst auf Abgeschiedenheit.

Hieraus ergibt sich denn die völlige und grundsätzliche Verfehltheit der meisten modernen Gemeinschaftsbestrebungen, so edel deren Ziel immer sei. Nie auf ein Wohin, allein auf ein Woher hin ist Gemeinschaft möglich. Es ist völlig gleichgültig vom Standpunkte dieser, ob zwei gleiches erstreben, wofern sie aus verschiedenen inneren Regionen kommen. Es ist völlig und grundsätzlich verfehlt vom Standpunkt des Einzelnen, wenn er, einen bestimmten inneren Trieb verspürend, in einen Bund entsprechenden Programms eintritt, der nun im Zusammenleben und in der Aussprache das Innere zu fördern hofft. Solches Vereinswesen kann dieses nur schädigen. Das Ausgesprochene wirkt nicht mehr im Innern fort, das Tiefe wird an die Oberfläche gezogen, hinausprojiziert, das Besprochene eben dadurch zerredet1. Sehr jungen Schülern, die ihrem Alter entsprechend Anlehnung suchen und dazu nach Gesinnungsgenossen ausschauen, rate ich allemal, sich doch, ganz unbefangen, auf Grund ihrer Jugend zu vergesellschaften und die Frage gleichen geistigen Strebens in diesem Zusammenhang möglichst ungestellt zu lassen. Lernten sie von diesem zu schweigen, im übrigen Sport treibend, tanzend, wandernd nach Herzenslust, so wären sie eben dadurch dem Gemeinschaftsziel erheblich nähergerückt.

Gibt es demnach gar keine mögliche Wesensförderung durch äußere Vereinigung? O ja; doch genau nur insoweit, als diese die Einsamkeit befruchtet. Dies vermag jedes schon bestehende höhere Niveau, ob in einem Einzelnen oder einer Atmosphäre verkörpert; dies vermag aber auch nur ein Höheres, dem man sich unterordnet. Nur Vorhandenes kann wirken. Ein vorhandenes höheres Niveau pflanzt sich, als solches erkannt, auf andere fort. Wo aber nichts vorliegt, kann nichts Positives erfolgen. Die meisten schließen sich auf Grund von nicht Vorhandenem zusammen, auf ein ersehntes, noch unerlebtes Ziel hin. Solche Bünde verflachen. Es vertiefen indessen die und die allein, die sich um kein Wohin, sondern ein Woher herum gruppieren. Gemeinschaft ist möglich nur im Schein eines schon brennenden inneren Lichts. Zu seiner Entzündung aber führt nicht Verkehr, sondern allein die Abgeschiedenheit.

So steht es auch mit der Gemeinschaft um die Schule der Weisheit herum. Jede bloße Vergesellschaftung bekämpfen wir; keine Aussprache, kein Zerreden wird begünstigt. Darmstadt soll für jeden, welcher herkommt, eine Retraite bedeuten. Zunächst lernt er schweigen. Aber eben deshalb, weil der äußere Zusammenschluss erschwert wird, ist heute schon eine echte Gemeinschaft im Entstehen. Sie setzt sich aus allen denen zusammen, in denen die hier gepflegte Einstellung lebendig geworden ist. Diese bilden einen immer mehr sich erweiternden inneren Kreis, der nach außen hin überhaupt nicht in die Erscheinung tritt, da es sich um lauter viel einsamere Einzelne handelt, als von den meisten Menschenkindern gilt, der aber einen desto echteren Kreis bedeutet, weil seine Glieder jenseits ihrer Einsamkeit die — Einheit entdeckt haben.

1 Man vgl. hierzu meine für diese Frage grundlegende Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst und den Aufsatz Von der einzig förderlichen Art des Aufnehmens im zweiten Heft dieser Mitteilungen.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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