Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

4. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922

Bücherschau · Henry Adams, W. R. Inge

Es ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache, dass es im Deutschen keine Bücher ersten Ranges über Plato und den Platonismus gibt. Der deutsche Geist ist umfassendsten Verstehens fähig. Aber da er an sich nicht Form noch formschaffend ist, so findet er seine Grenze überall dort, wo sich der geistige Gehalt von der seelischen Form ohne Verfälschung nicht loslösen lässt. Aus diesem Grunde hält der Deutsche den Franzosen meist für oberflächlich; aus genau dem gleichen missversteht er in der Regel die griechische Philosophie, zu der vielleicht Nietzsche allein, unter Deutschen, das richtige Verhältnis fand. Deren Durchschnitt beurteilt dieser typischerweise so, wie die Kantsche und Hegelsche mit Recht beurteilt wird, d. h. rein nach dem Wahrheitsgehalt und dem logischen Körper, der ihn zum Ausdruck bringt. Aber so darf Plato nicht, so darf erst recht kein Platoniker beurteilt werden: Plato war die bisher größte abendländische Synthesis von Seele und Geist, die Tradition des Platonismus aber perpetuierte diese in erster Linie, keine bestimmte Theorie: wie soll da ein einseitiger Gelehrter — und diesem Typus gehörten die meisten Deutschen an, die bisher über Plato schrieben — dem großen Griechen und seiner Schule gerecht werden? —

Von allen Europäern gelingt dies seit den italienischen Humanisten weitaus am besten solchen Engländern, in denen die Kulturtradition von Oxford und Cambridge schöpferisch wird: diese Tradition bedeutet ihrerseits die einer Synthesis von Seele und Geist, und zwar einer solchen, die uns mittelbar von der des Humanismus abstammt; dort lebt insofern klassischer Geist in britischer Verkörperung fort. Deshalb findet der hochbegabte Engländer leichter als der Deutsche den Weg zu lebendigem Verständnis der Antike, so sehr dieser ihn gewöhnlich im exakten Wissen um sie übertrifft. Die Verwandtschaft jenes mit dem antiken Menschen ist, in der Tat, trotz aller Unterschiede unter allen Modernen die größte. Auch das englische Ideal ist das einer Kalokagathie: auch der Engländer ist Formenmensch, d. h. ihm bedeutet die angemessene Form das Leben; auch er ist mehr seelisch als geistig zentriert. Mag er deshalb an Verständnis des Rein-Geistigen am Griechen dem Deutschen nachstehen, dessen Lebendiges versteht er, noch einmal, sehr viel besser. (Aus dem gleichen Grunde hat er, nebenbei bemerkt, ein viel tieferes Verständnis für das Alt-Französische in allen dessen Ausdrucksformen als der moderne Franzose: auch der gotische Mensch lebt westlich vom Rhein nur mehr im Engländer fort, ich meine den Menschen als bestimmte geistig-seelische Einheit verstanden. So muss man Swinburne und Walter Pater lesen, um sich ins mittelalterliche Frankreich zurückzuversetzen, oder unter neueren Autoren Henry Adams: dessen Monumentalwerk Chartres and Mont Saint Michel bedeutet in vielen Hinsichten eine bisher unerreicht lebendige Evokation, obgleich Adams, als Amerikaner, unser Mittelalter aus einer ähnlich übergroßen Distanz beurteilt, wie wir die Kultur der Inkas, und seine Aussprüche deshalb das Europäerohr vielfach beleidigen.) Deshalb liest man Plato besser in Jowettscher als in der besten deutschen Übersetzung, wenn man der Originalsprache nicht mächtig ist. So bedeutet Walter Paters Buch über Plato und den Platonismus, trotz seiner Ästhetenhaftigkeit, ein Gegenständlicheres, als die exakteste Arbeit über den gleichen Gegenstand, die je aus deutscher Feder floß. — Diese Erwägungen verringern die Verwunderung darob, dass die meines Wissens erste Arbeit über Plotin, welche den Geist dieses letzten großen Griechen tatsächlich beschwört, jetzt in englischer Sprache vorliegt.

Sie ist von W. R. Inge, dem Dean of St. Paul’s verfasst und unter dem Titel The Philosophy of Plotinus bei Longmans, Green & Co. in London erschienen. Seit sehr langer Zeit kam mir kein ähnlich bedeutendes Werk in die Hand1. Inge, ein hoher Kirchenwürdenträger und Philosoph zugleich, hat sich so vollständig, wie das überhaupt denkbar scheint, in jene neuplatonische Bewegung eingelebt, mit der die antike Geistigkeit, ihren Höhepunkt überschreitend, in Schönheit sterbend, als Lebensblut gleichsam in den nunmehr christlichen Kulturkörper einströmte. Inge ist nicht bei der Beherrschung des Buchstabens von außen her stehengeblieben: im Studium ist er selbst zum Neuplatoniker geworden, weshalb es ihm gelingt, nicht allein die dunkelsten Sätze des Alexandriners im Zusammenhang richtig zu deuten, sondern den Sinn, den Plotin meinte, wo solches nottut, mit modernen Begriffsmitteln doch unverfälscht wiederzugeben. Dabei wird einem nun klar, wie nahe gerade die neuplatonische Weisheit unserem besten Wesen liegt; sie bedeutet keine Orientalisierung des Hellenentums, sondern umgekehrt — der Platonismus verwestlicht sich in ihr, wie denn das, was wir als westlich empfinden, erst nach dem Ende der mediterraneischen Kulturperiode zu erwachsen begann. Und gleichzeitig erkennt man, wie vollkommen griechisch die Logos-Seite der Seele des Christentums ist, so dass dieses jetzt vollends als legitimer Erbe der griechischen Weisheit gelten darf. Mich hat die Lektüre des Ingeschen Buchs besonders deshalb ergriffen, weil es mir das endgültig bestätigte, was ich im Vortrag Antikes und modernes Weisentum — dem dritten unseres Eröffnungszyklus — erstmalig ausgeführt habe: dass erst jetzt und eben jetzt das historisch möglich wird, was die antike Weisheit anstrebte. Damals musste der Logos der Philosophie dem religiösen Eros das Feld räumen. Heute kann jener zum Urquell einer neuen höheren Kultur werden.

Warum konnte Dean Inge gelingen, was so manchem besser ausgebildeten und wohl auch besser begabten Philosophen bisher misslang? Weil Inge nicht bloß ein bedeutender Geist, sondern ein allseitig ausgebildeter, auf seiner Ebene überlegener Mensch ist; weil er Kultur nicht nur kennt, sondern verkörpert. Bei seiner Lektüre kam mir Paul Natorps Plato-Buch in den Sinn: so gelehrt und zum Teil auch belehrend dieses sei, gerade am Wesen Platos sieht dessen Verfasser ganz vorbei. Dies liegt am Unterschied im Typus; nur Gleiches kann Gleiches verstehen, und zwar Niveau-Gleiches; Gleichheit der Anlagen genügt noch nicht dazu. Dies wurde mir besonders deutlich, als ich Natorps Stunden mit Rabindranath Thakkur las (Jena, Eugen Diederichs). Zwischen dem Inder und dem Marburger besteht eine gewisse Seelenverwandtschaft. Aber jener ist, trotz seiner lyrischen Veranlagung, seinem ganzen Wesen nach regierender Fürst, staatsmännisch überlegen, in höchstem Maß und Sinne Aristokrat; dieser Idealist im Geist der Freideutschen Jugendbewegung, Demokrat im Sinn der Bevorzugung des beschränkten Zustands, der weltlichen Größe feind. Deshalb sieht Natorp Tagore so, wie er wäre, wenn es sich eben — nicht gerade um Tagore handelte: der Palast erscheint ihm als Hütte. In allem Einzelnen mag er recht haben — das Gesamtbild ist, so sympathisch es gezeichnet sei, verfehlt, weil eben das äußerlich Gleiche anderes bedeutet, je nach dem Niveau. Wenn Tagore den kleinen Mann dem hochgestellten vorzieht, so tut er’s eben als Fürst; Diocletians Kohlbauen bedeutete anderes als das eines freigelassenen Gärtners; wenn Hoch und Gering der Gottheit gleich gilt, so beruht dies auf deren Weltüberlegenheit2. Werden die Deutschen nie dahin gelangen, Niveaufragen als die entscheidenden zu begreifen? Bevor sie soweit nicht sind, und seien sie sonst noch so begabt und noch so gelehrt, so werden sie im Verstehen großer Menschen wieder und wieder von Vertretern sonst unter ihnen stehender anderer Völker übertroffen werden.

1 Es sollte schleunigst ins Deutsche übertragen werden. Im Fall von zwei fremdsprachigen Werken, die ich in diesen Mitteilungen empfahl, ist letzteres zu meiner Freude indessen geschehen. Die deutsche Ausgabe von Wells Outline of history erscheint, mit einem Geleitwort von mir versehen, in der Berliner Verlags-Gesellschaft für Politik und Geschichte, und des gleichen Verfassers Salvaging of Civilisation erscheint im Münchener O. G. Recht, Verlag.
2 Vgl. hierzu den für das Verständnis der Ziele der Schule der Weisheit besonders wichtigen Vortrag Weltüberlegenheit in Schöpferische Erkenntnis. Insofern das Niveau überall letztlich entscheidet, lege ich im Vortrag Das Ziel dar.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME