Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Spengler und Wir

Nichts beweist eindeutiger die Niedrigkeit des modernen Kulturniveaus, als die Art, auf welche die Meisten die gerade wirksamen geistigen Potenzen mit womöglich antithetischen Schlagwörtern abtun. So werden Spengler und ich beinahe durchweg gegeneinander ausgespielt. Bei der Falschheit der Etiketten, welche uns dabei zuteil werden — Spengler, in Wahrheit ein tatkräftigster positivistischer Geist, den modernen Industriekapitänen nahe verwandt, deshalb physiologisch zukunftsfroh, sei der müde Untergangs­mensch, ich hingegen, der sich über das unvermeidliche Ende des Meisten, woran die Heutigen hängen, den geringsten Illusionen hingibt, der in Jahrhunderten denkt und die Jahrzehnte dementsprechend preisgibt, der tröstende Optimist — will ich hier gar nicht verweilen; Gewissenlosigkeit ist immer uninteressant. Ich greife den Fall auf, weil er mir vorzüglich geeignet scheint, auf dem Hintergrunde des besonderen Verfehlten das allgemeine Wahre und Richtige deutlich zu machen; hier also das tatsächliche Verhältnis zwischen Geistern, welche beide positiv einzuschätzen sind und sich doch, auf einer Ebene betrachtet, widerstreiten. Dass an uns beiden etwas dran sein muss, geht aus der Wirkung eindeutig hervor — es wirkt niemand, der keine lebendige Kraft vertritt; so wenig der Erfolg als solcher beweist, so viel beweist die Befruchtung der Geister und Seelen, wo diese vorhanden, die sich in jenem spiegelt. Von mir will ich hier nicht reden. Dass aber Spengler trotz seiner Untergangs­etikettierung auf alle einen lebensfördernden Einfluss ausübt, welche sich ernstlich in ihn versenken, daran kann nur der zweifeln, welcher noch nicht weiß, dass Feindschaft das erste normale Symptom lebendiger Berührtheit bedeutet überall, wo eine positive Reaktion aus irgendwelchen Gründen ausgeschlossen erscheint. Bei Spengler kommt hier hauptsächlich die Feindschaft der Gelehrten in Frage.

Zwei hochberühmte unter solchen haben sich vor mir bitter darüber beklagt, dass Spengler ihnen ein geplantes eigenes Werk vorweggeschrieben hätte; die allermeisten derer, deren Fachgebiet der Untergang des Abendlandes berührt, befleißigen sich mit verdächtiger Eile des Nachweises, wie sehr dessen Verfasser irre. Gleichgültig geblieben ist kaum einer. Die Wahrheit ist nun die: gleichviel, wie oft Spengler im allgemeinen und einzelnen geirrt habe — seine Gelehrtenbegabung, gerade sie, ist so außerordentlich, dass er auf jedem der exakten Wissenschaft zugänglichen Gebiete, das er berührt, neue Wege weisen muss; dank wem hundert Mittelmäßige fortan, die von sich aus auf nichts Neues kommen würden, nach billiger Berichtigung oder Widerlegung Spenglers neue Entdeckungen machen dürften. Das Falsche an Spengler ist deshalb, historisch betrachtet, bedeutungslos. Man kann es auch so sagen: dass Spengler innerhalb der Grenzen der Wissenschaft, die seine Begabung beherrscht, Irriges behauptet, ist Zufall. Bei anderer Vorbildung, bei geringerer mathematisch-konstruktiver Begabung, die ihn zu Anfang seines Schaffens freilich oft verführt hat, hätte er es vermieden, wie denn die sachlichen Kritiken am ersten Band zur unmittelbaren Folge gehabt haben, dass der zweite, soweit ich urteilen kann, nur wenig falsche Daten mehr enthält, dass der umgearbeitete erste insofern dem zweiten nahekommt und sein Verfasser vermutlich als Exaktester unter den Exakten enden wird, soweit dies einem mit historischer Phantasie und dem Genie des kombinatorischen Schauens und analogischen Denkens Begabten, der als solcher das Gegebene notwendig in selbstgeschaffene Zusammenhänge hineinbezieht, deren ideeller Ort grundsätzlich jenseits von wahr und falsch liegt, eben möglich ist. Es muss nämlich ein schiefes Urteil jetzt berichtigt werden, das auch ich auf Grund des ersten Bandes mitgefällt hatte: der erste schien, kurz und schlagwortmäßig gesagt, einen geborenen Mathematiker am Werk zu zeigen, welcher, von freigeschaffenem Ansatz mit ungewöhnlicher kombinatorischer Begabung ausgehend, die wirkliche Welt in seiner vorausgesetzten Gleichung einfing, indem er deren algebraische Buchstaben jeweilig durch historische Tatsachen oder Annahmen ersetzte.

Der zweite hält nun ein Versprechen, das der ursprünglich gefasste erste nicht gab: nämlich, dass Spenglers Einzeleinsichten auch unabhängig von seiner historischen Grundtheorie bestehen könnten; er beweist einen supremen Sinn für Tatsachen und deren Bedeutung im Natur-, und Kulturzusammenhang (also abgesehen von ihrem metaphysischen oder sonst geistigen Wert, auf welchen Punkt ich weiter unten zu sprechen komme). So ist Spengler seiner Geistesanlage nach nicht bloß der große Geschichtsromancier, als welcher allein er schon bedeutend genug erschiene — man bedenke, dass Wells Dichtungen mehr Bedeutung für die Wirklichkeit haben, nämlich als Wirklichkeitsschöpfer, als alle Chronik des 19. Jahrhunderts zusammengenommen —, sondern zugleich ein ganz großer Gelehrter. Er ist zweifelsohne ein Bahnbrecher auf dem Gebiet der Kulturforschung und historischen Morphologie. Wer dies nicht glaubt, der bedenke, dass die Bahnbrecher nicht notwendig die gleichen sind, welche die vollendeten Chausseen anlegen.

Insoweit kann von einem Gegensatze zwischen Spengler und mir nicht die Rede sein. Dankbar freue ich mich der Anregung, die er mir gewährt hat; neidlos bewundere ich die Fähigkeiten, die er vor mir voraus hat. Würde Spengler nicht im Sinn des zu Anfang Bemerkten gröblich missverstanden, gälte er allein als Gelehrter und Geschichtsromancier, so fehlte jede Basis überhaupt zur Gegensatzbildung, denn gerade Gelehrter und Historiendichter bin ich gar nicht, und mein praktisch-reformatorisches Wollen besteht unabhängig von allen nur möglichen Ergebnissen analogischer Zukunftsschau. Die Pioniere der christlichen Ära, die Wegbereiter der faustischen Kultur gehörten ja allem äußeren Anschein nach zu den Verfallserscheinungen der antiken Zivilisation, und erst Spengler ist darauf gekommen, in ihnen Vertreter der jungen magischen zu sehen, die zunächst Jahrhunderte entlang in antiker Pseudomorphose dahinlebte… Spengler und ich bewegen sich tatsächlich auf verschiedener Ebene. Aber freilich: wo wir auf einer Ebene betrachtet werden, dort erscheinen wir allerdings als Antipoden; dort stellt sich allerdings die Frage: er oder ich. So sei hier denn des genaueren ausgeführt, inwiefern die Frage falsch gestellt ist.

Ich will zunächst feststellen, innerhalb welcher Grenzen Spengler auf alle Fälle recht hat. Sie umspannen genau das Gebiet, welches Leo Frobenius’ Schriftchen Paideuma (München 1921, C. H. Beck) umreißt, und von diesem will ich deshalb ausgehen, weil Frobenius’ Ergebnisse schwer überhaupt anzufechten sind. In den Urkulturen, deren letzte Überbleibsel Afrika birgt, tritt völlig unzweideutig zutage, was Spengler auf dem Gebiet der Hochkulturen zu erweisen sucht, und was auch hier grundsätzlich zutrifft, jedoch nicht annähernd so rein in die Erscheinung tritt, nämlich dass Kulturen selbständige, von Volk, Rasse und Sprache nicht bedingte, sondern diese, umgekehrt, sich jeweilig assimilierende Lebensformen sind, welche pflanzenartig keimen, wachsen, aufblühen und schließlich verwelken. In Afrika tragen diese Gebilde so festumrissene Gestalt, dass sich ihre geographischen Grenzen beinahe haarscharf nachweisen lassen und Frobenius den Versuch hat wagen können, auf Grund an der Erfahrung festgestellter symptomatischer Einzelerscheinungen, wie solche der Botaniker, Zoologe und Arzt zur Bestimmung seiner Arten und Gattungen längst als sichere allgemeine Kennzeichen benutzt, Charakter und Grenzen lebender sowohl als längst verblühter Kulturen bis ins Einzelne kartographisch festzulegen (wer sich für diese Probleme ernstlich interessiert, dem wird in den Fortschritt dieser hochbedeutsamen Arbeiten im Afrika-Institut des Nymphenburger Schlosses bei München gern Einblick gewährt). Warum nun lässt sich im Fall der Urkulturen unmittelbar nachweisen, was in dem der Hochkulturen nie unzweideutig dargetan werden kann? Weil in jenem das etwa Übertragbare kaum eine Rolle spielt, in diesem aber eine bedeutende, wenn nicht die ausschlaggebende.

Das Prinzip der Übertragbarkeit ist der Geist, der Logos und er allein (vgl. Schöpferische Erkenntnis, S. 263 ff., 424 ff.). Wo dieser keine oder nur eine bescheidene Rolle spielt, dort entscheidet natürlich das Pflanzenhafte durchaus, und dies geht so weit, dass sich sogar haarscharfe Sprachgrenzen, welche wohlbemerkt keine Staatsgewalt äußerlich behauptet, kartographisch feststellen lassen. Hier nun sind wir an dem Punkte angelangt, an welchem Spengler unrecht zu haben beginnt. Allerdings ist jede Kultur als solche ein seelisch-pflanzenhaftes, weshalb jede, als schöpferische Macht, an eine Landschaft gebunden auftritt und keine als ursprüngliche Lebensform anders übertragen werden kann, denn dass diese selbst das betreffende Volk oder den betreffenden Menschen von innen her ergriffe. Aber das Unübertragbare bedeutet fortschreitend weniger, je mehr der Geist sich entwickelt; es bedeutet in Europa schon heute nicht viel mehr, wie die selbstverständliche Ausschließlichkeit jedes Individuums im Rahmen der Kultureinheit, welcher es zugehört. Desgleichen bedeutet das jeweilige physiologische Alter eines Kulturzustandes heute nicht viel mehr, als das Alter des Individuums im Geisteszusammenhang, innerhalb dessen es wirkt. Mag also Spengler einerseits noch so recht haben, wenn er von der letzten Unverständlichkeit der faustischen Mathematik für einen alten Griechen, sowie der griechischen für uns redet; er hat vor allem unrecht, weil der Bedeutungsakzent nicht auf dem Unübertragbaren, sondern gerade dem Übertragbaren ruht. Insofern nun das Übertragbare immer mehr entscheidet, je mehr das Bewusstsein erwacht und dieses Erwachtsein grundsätzlich mit dem Beginn der Hochkultur im Frobeniusschen Sinn (siehe dessen Paideuma) überhaupt zusammenfällt, kann man weiter sagen, dass die Spenglersche Lokalisierung des Bedeutsamkeitsakzents nur im Falle der Urkulturen richtig ist, während aller Hochkultur gegenüber die bisherige Geschichtsphilosophie, der die Kontinuität der Geschichte als das Wesentliche galt, im Recht verbleibt.

Vollends wird letzteres von der Höchstkultur der Zukunft gelten, deren Fortschritt ich in Spannung und Rhythmus als Übergeschichte bezeichnet habe, und die auch Frobenius im ganzen richtig zu erahnen scheint, so undeutlich er sich darüber ausdrückt. Spengler mag also, noch einmal, die morphologische Tatsächlichkeit der Kulturen als solche noch so richtig sehen und noch so tief verstehen (vom Einzelnen dieser rein wissenschaftlichen Frage sehe ich hier ab): er missversteht und unterschätzt die Bedeutung des Wachseins. In seinen Augen hat das Dasein, also das, was die höchste Kultur mit der primitivsten gemein hat, überall und durchaus das letzte Wort.

Hier nun liegt der Angelpunkt von Spenglers metaphysischer Weltanschauung, und die ist allerdings ebenso unzulänglich, wie seine wissenschaftliche Leistung bedeutend ist. Wer auf jene nur irgendwie den Nachdruck bei Spengler legt, der muss, sofern er irgendeinen großen Philosophen der Geschichte anerkennt, Spengler verwerfen; der muss zumal meinem Erkennen und Wollen entweder verständnislos oder feindlich gegenüberstehen. Alle großen Geister der Geschichte ohne Ausnahme bisher haben in der Aufhellung und Vertiefung des Bewusstseins zugleich einen Weg zu höherem Sein gesehen. Sie kannten eben den λόγος σπεϱματιϰὸς, den Geist, welcher mehr bedeutet als Verstand, dessen Wesen schöpferische Erkenntnis ist. Dessen Wachstum verläuft unabhängig von aller empirischen Morphologie, und dieses zwar so sehr, dass ein morphologisch Letztes zugleich ein metaphysisch Erstes sein kann (Buddhismus, Christentum, Sozialismus). In diesem Geistigen liegt aber das eigentliche Wesen des Menschen, im Unterschied vom Tier. Sein Wachstum verläuft durch die Ablösung der empirischen Formen hindurch, wie beim Individuum durch dessen verschiedene Zustände von der Geburt bis zum Tod, wie innerhalb der Einzelkultur durch deren sich ablösende Träger. Deshalb sind morphologische Feststellungen schon in bezug auf alle bisherige Menschheit, seit deren Erwachen, ohne eigentlich philosophische Bedeutung; die selbstverständliche Ausschließlichkeit jedweder konkreten Form tangiert nie und nirgends die wesentliche Kontinuität des Geistesprozesses. Allerdings stellen sich die faktischen Aufgaben verschieden, je nach dem morphologischen Zustand, in dem eine Kultur sich jeweilig befindet; genau wie der Greis vernünftigerweise nicht Gleiches wie der Jüngling wollen kann, genau so hat Spengler grundsätzlich in vielem von dem recht, was er unser künftiges Schicksal heißt. Er irrt nur ebenso grundsätzlich in seiner Annahme, dass dieses Schicksal ein geistig und seelisch letztes sei: es ist dies genau so wenig, wie der physiologische Prozess vom Kinde bis zum Greis nur irgendwie die Aufgaben des Lebens in sich erschöpft; diese stellen sich vielmehr unabhängig von ihrer naturalen Verwirklichungsbasis. So viel gilt, seitdem es überhaupt ein höheres Wachsein gibt.

Die großen Geister der Geschichte waren sämtlich in erster Linie Überwinder des Spenglerschen Schicksals, insofern als sie geistige Wirklichkeiten dem Geschehen einverleibten, hinsichtlich deren Fortwirkens das Morphologische bedeutungslos erscheint; in bezug auf die Bedeutung Christi und Buddhas ist es irrelevant, wie deren Empirisches morphologisch zu lokalisieren sei. Nun liegt aber die Zukunftsaufgabe darin, das Schicksal vollkommen zu überwinden. Höheres Menschentum überhaupt beginnt damit, dass das Physiologische nicht letzte Instanz bleibt, dass also nicht dessen wechselnde Zustände dem Geist seine Aufgaben diktieren, sondern dieser sich, umgekehrt, des Physiologischen als eines bloßen Ausdrucksmittels bedient. Ein höherer Menschheitszustand ist erst von da ab denkbar, wo auch die geschichtsmorphologischen Probleme im gleichen Sinne als Probleme zu existieren aufhören werden. Damit wird freilich auch die Geschichte in ihrem bisher üblichsten Verstande zu bestehen aufhören; sie wird in Übergeschichte einmünden, wie ich dies im Vortrag Spannung und Rhythmus näher ausgeführt. Aber Geschichte ist ebensowenig ein Letztes für uns, wie der physiologische Prozess. Wohl war sie von jeher mehr als dieser, weil nicht Tatsachen als Solche, sondern allein bedeutsame Tatsachen geschichtlich sind (vgl. Die Symbolik der Geschichte in Schöpferische Erkenntnis und Vom Interesse der Geschichte in Philosophie als Kunst). Aber die Bedeutsamkeit bezog sich konkret bisher nur auf eine bestimmte Kultur, welcher Umstand das eigentlich Historische doch wieder unauflöslich mit dem Nur-Morphologischen verquickte, woraus sich auch erklärt, dass alle bisherige Geschichte, wo immer sie morphologisch abschloss, tatsächlich, Spenglers Lehre gemäß, in Fellachisierung ausklang, d. h. in einem schlechthin anorganischen Zustand. Dies war aber nur deshalb der Fall, weil das Bewusstsein nicht weit genug erwacht und vertieft war, um sich grundsätzlich über das Morphologische zu erheben. Ebendies kann und soll jetzt beginnen. Beginnt es jetzt aber in so breiter Front, dass von einer Menschheitsbewegung die Rede sein kann, dann werden die alten Probleme sich erledigen, neue sich stellen, und die Physiologie der Kulturseelen wird nicht mehr bedeuten, wie die des leiblichen Menschen. Wohl werden neue Kulturseelen immer erneut entstehen, aber diese werden immer um fassendere Organismen darstellen als die bisherigen und zugleich immer weniger scharf gegeneinander abgrenzen. Sie werden stetig und unaufhaltsam ineinander übergehen, sich eben damit verjüngend, und der Tod einer wird schließlich nicht viel mehr bedeuten, wie das Ende einer Zelle im Menschenleib. Umgekehrt wird in der Menschheit von übermorgen die Geburt einer neuen Kultur nicht anders mehr begrüßt werden, als die eines Kindes — freudig freilich, doch in seinem bloßen Sosein nie mehr als Endzweck. Seine ausschließliche Eigenart wird nur als willkommenes Mittel gelten, das allgemeine Werk der Menschheit fortzuführen.

Wir sind, als Menschen, wesentlich schöpferische Geister, nicht pflanzenhafte Seelen, die nur ihr Schicksal erfüllen. Wie konnte Spengler dies so ganz verkennen? Weil er als Geist nur Verstand kennt, weil er persönlich kein vom lambda;ογος σπερματιχος Begnadeter ist. Ihm fehlt persönlich jegliches Verständnis für Metaphysik, ja für Philosophie überhaupt; so hat er Kant nie lesen können, findet er Bergson nur flach. Er ist durchaus Tatsachenmensch, Positivist. Eben deshalb bekennt er sich ausdrücklich zum Irrationalismus; ebendeshalb ist ihm das Schicksal letzte Instanz. Nur tiefer als er im Geist Verwurzelte gelangen verstehend-erlebend dorthin, wo der Verstandesmensch, der den Verstand doch als begrenzt erkennt, was heute aus objektiven Wissensgründen kaum vermeidlich ist, das Geheimnis setzt. Ein Mensch wie Spengler könnte bigott oder abergläubisch enden.

Wie verträgt sich diese Kritik Spenglers nun mit meinem positiven Verhalten zu ihm? Sie verträgt sich so, dass ich seine Metaphysik und alles, was mit dieser zusammenhängt (hierzu gehört ganz besonders seine Stellung zum Idealen auf dem Gebiet der Politik), als reine Entgleisung auffasse und diese damit entschuldige, dass ein gescheiter und gebildeter Mann im heutigen Deutschland überaus schwer auf die Aufstellung einer persönlichen Metaphysik verzichtet; heute ist jeder Deutsche aus den gleichen allgemeinen Gründen Metaphysiker, wie er im Mittelalter Gläubiger war. Spenglers Gesamtwerk könnte nicht allein ohne die mit ihm verquickten metaphysischen Anschauungen bestehen — es stände ohne sie viel fester da. Denn morphologische Wahrheiten sind völlig unabhängig von metaphysischen; Tatsachenerkenntnis ist möglich ohne Spur von Wesenserkenntnis. Hier wären wir denn so weit, das grundsätzliche Problem, um dessentwillen ich diese Sonderbetrachtung anstellte, zu lösen. Spenglers und mein Werk liegen auf verschiedener Ebene. Zieht man beider Positives allein in Betracht, so besteht überhaupt keine mögliche Gegensatzstellung. Angenommen, Spenglers morphologische Ideen seien durchaus richtig bestimmt (worüber ich hier, noch einmal, gar keine Meinung äußere), so könnte ich sie von meinem Standpunkt ohne weiteres anerkennen. Das gleiche müsste mutatis mutandis von Spengler gegenüber jedem geborenen Metaphysiker gelten. Dass dieses offenbar nicht der Fall ist — hierin liegt Spenglers großer Fehler. Er stellt sich selbst nicht richtig ein in den Totalzusammenhang des Geistes. Nur deshalb beeinträchtigt seine Einseitigkeit seinen Wert.

Auf unseren Tagungen, besonders der letzten (Herbst 1922), haben es alle Teilnehmer persönlich erfahren können, dass richtig eingestellte Einseitigkeit ein vollkommenes Sinnbild ist der Totalität. Unmittelbar nebeneinander konnten da ein orthodoxer Jude und ein preußischer Offizier sich zu ihrem Sosein bekennen, ohne dass dies irgendwelche Gegensätzlichkeit ergab: sie wirkten vielmehr als Teilausdrücke einer höheren Einheit, welche, ihnen selber unbewusst, unmittelbar durch sie hindurchschien. Dies taten sie, weil im Rahmen eines Gesamtthemas jeder als lebendige Persönlichkeit genau so eingestellt war, wie er eingestellt sein musste, damit sein persönlich-Positives rein positiv auch objektiv zur Geltung kam. Als echtes Sosein ist jeder irgendwie im Recht; es gilt nur, dieses wie zu bestimmen, d. h. die Einstellung zu finden, in welcher, und die Grenzen, innerhalb deren sein Sonderwesen durchaus sinnvoll dasteht.

Der eine ist Grundton, der andere Oberton. Der eine hat die erste Geige zu spielen, der andere die Klarinette oder die Posaune. Auf unseren Tagungen erlaubt der besondere Charakter der Veranstaltung ohne weiteres, jedem genau die Rolle zuzumessen, die ihm gebührt; deshalb wüßte ich grundsätzlich niemand, den ich nicht in Darmstadt sprechen lassen könnte und der nicht dank der hier verlangten Einordnung gerade in seiner persönlichen Selbständigkeit gesteigert erschiene. Aber was hier einmal jährlich geschieht, sollte jedem Einzelnen zum ständigen Vorbild dienen. Schlechthin jeder ist auf genau bestimmte und bestimmbare Weise, sofern er positiv wirken soll, in den Sinneszusammenhang des Kosmos eingegliedert. Schlechthin jeder verkörpert überdies ganz bestimmte Grenzen. Diese beiden Momente muss er klar erfassen. Dies ist der Lebensweisheit erste Voraussetzung. Er darf sich weder in der Einstellung irren, welche er einnimmt, noch in der Einschätzung seiner Grenzen. Sobald er nun das in diesem Sinne Richtige tut, erfolgt dreierlei.

  • Erstens steht seine Einseitigkeit dermaßen gerechtfertigt da, dass sie als solche nicht mehr gespürt wird: sie ist zum unmittelbaren Ausdruck der Totalität geworden.
  • Zweitens hört alle mögliche innerliche Gegensatzstellung zu anderen Einstellungen und Begrenzungen auf, da eben die eine die anderen unmittelbar verlangt; es kann jeder jeden andern gelten lassen, nur eben an seinem Platz.
  • Drittens — und dies ist das Wichtigste — erwacht der Sinn für die Hierarchie der Geister. Es ist unsinnig, auf einer Ebene zu betrachten, was verschiedenen angehört. Wenn Plato und Goethe einer annähernd gleichen angehören, so sind beide mit Christus und Lao Tse, welche viel tiefer wurzelten, nicht zu vergleichen, gehören wiederum Kant und Bergson zusammen, Beethoven, Dostojewski und Rembrandt, Heraklit und Nietzsche.

Die Unterschiede in der Erscheinung, auch der Begabung, präjudizieren nichts über das Niveau; andererseits ist Niveau, Ungleiches überhaupt nicht zu vergleichen, weil der Bedeutungszusammenhang, welcher die Einzeleigenschaft trägt, ein jeweilig verschiedener ist. Jeder steht, im Geisteskosmos, an einem ganz bestimmten ideellen Ort, welcher seinerseits einer bestimmten Bewusstseinslage entspricht. Diesen ideellen Ort muss er finden. Hat er ihn nun gefunden, dann — aber nur dann — befindet er sich in Harmonie mit der gesamten Geisteswelt. Dann kann er nicht mehr darauf verfallen, auszudrücken, wozu ihn seine Einstellung nicht befugt. Denn dann ist er sich selbst überlegen geworden. Ebendies zu lehren, ist ein Hauptziel der Schule der Weisheit. Der barbarische Zustand muss endlich ein Ende nehmen, wo jeder von seinem Gesichtspunkt aus alle Probleme lösen zu können wähnt, wo einer, weil er den Rettich kennt und übersieht, eine Welt vom Standpunkt des Rettichs als entsprechende Weltanschauung zu servieren wagt. Dass Spengler sich selbst noch nicht überlegen ist und deshalb Anschauungen vertritt, welche er nie und nimmer verträte, wenn er verstünde, dass sein lebendiger Gesichtskreis die betreffenden Probleme überhaupt nicht einschließt, dass er sich, mit einem Wort, noch Ansichten gestattet, ist die alleinige und grundsätzlich abstellbare Ursache dessen, dass wir ihn von unserem Standpunkt überhaupt bemängeln müssen. Denn seine wissenschaftlichen Irrtümer als solche interessieren uns nicht. Die werden bald genug berichtigt werden. Uns liegt einzig daran, dass sich sein Positives rein positiv auswirke.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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