Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

6. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung · Zweitens

Die allgemeine Beziehung, die zwischen Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung besteht, dürfte schon durch diese kurze Betrachtung ganz deutlich geworden sein. Über alles Besondere hat Oscar A. H. Schmitz Sie ausführlich orientiert. Mir erübrigt nur noch, in aller Kürze zwei Punkte zu besprechen, die mir bei meiner eigenen Analyse als besonders wichtig aufgefallen sind. Der erste betrifft die Grenzen einer fruchtbaren und förderlichen Analyse überhaupt, sofern nicht Wiederherstellung eines Normalzustandes, sondern Steigerung Ziel ist, und diese nicht dem Nirvana buddhistischer oder dem jenseits gewisser rein kontemplativer christlicher Mönche zu1. Die Analyse darf da nie bis zur Ausweidung gehen — und gar leicht geht sie so weit. Jede bestimmte Sinnesverwirklichung ist an bestimmte, als solche nicht mehr in Frage gestellte geistig-seelische Voraussetzungen gebunden, genau wie das Leben des Körpers an das heile Vorhandensein bestimmter Organe, die Wirklichkeit eines Gedichts an das als letzte Instanzen anerkannter Begriffe und Bilder, die seine Stimmung zum Ausdruck bringen. Die gemeinten Voraussetzungen können unter Umständen nun sehr wohl, vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, ungelöste Komplexe sein. In beinahe allen Fällen stammen die Spannungen in einem Menschen von solchen her, ohne Spannung aber gibt es keine Produktivität. Selbstverständlich rede ich hier keiner Erhaltung pathologischer Eigenheiten das Wort, aber wer nur das eine weiß, dass ein Gotteserlebnis den Menschen beinahe ausnahmslos durch das empirische Ausdrucksmittel des Vaterkomplexes überkommt, der wird nicht daran zweifeln, dass Auflösung zur reinen Verdürftigung führen kann; gar zu verschwimmend ist die Grenze zwischen Komplex und Organ2. Man bedenke ferner, dass die Unterwelt nur eben als Unterwelt am Platze ist, weshalb es grundsätzlich nicht guttut und nur eben im Falle der Notwendigkeit eines gleichsam chirurgischen Eingriffs geraten ist, gewisse Vorgänge ins Bewusstsein zurückzubeziehen, wo aller bisherige Aufstieg gerade darin bestanden hat, dass jene sich immer automatischer erledigen, wobei weiter zu berücksichtigen ist, dass alle Schöpfung aus dunklem Mutterschoß erfolgt und technisch unmöglich wird, sobald dieser herausgekehrt erscheint3.

Verdrängung an sich ist überhaupt nichts Krankhaftes: zu solchem wird sie erst, wo zwischen Bewusstem und Unbewusstem lebensfeindliche Dauerkonflikte entstehen. Alle bisherige Kultur beruhte recht eigentlich auf Verdrängung, die bisher höchste unter den modernen, die englische, sogar in extremem Grad; erst auf der jüngst von der Menschheitsvorhut erstiegenen Bewusstheitsstufe wird es überhaupt möglich und zugleich erforderlich, die Lebensganzheit auf vollkommener Erkenntnisklarheit zu begründen. — Man bedenke endlich, wie schwer sich die innere Unbefriedigtheit, die Voraussetzung jedes Fortschritts und jedes Aufstiegs, unter allzu glücklichen äußeren Verhältnissen erhält — und zu denen gehört mit in erster Linie die vollkommene psychologische Gesundheit. Nur ganz ausnahmsweise gehören noch so begabte Aristokraten und Reiche zu den Strebenden. Die restlos glückliche Frau entwickelt sich allzu leicht zurück zum Tier. Soll ein Mensch also mehr werden, als er vorher war — nicht bloß gesund oder glücklich oder selig — dann muss man wohl darauf achten, welche Spannungen man ihm löst: es dürfen dies ausschließlich die sein, welche der Höherentwicklung im Wege stehen. Wer hier nicht mit größter Umsicht vorgeht, mag nur allzu leicht das jeweilig einzig vorhandene Verwirklichungsmittel geistiger Werte zerstören; die Analyse mag das Gedicht gleichsam in seine Buchstaben auflösen, wobei das Geheimnis ihres sinnvollen Zusammenhangs verlorengeht. Hierbei kann nun die folgende Regel als bewährt gelten: wo Selbstvervollkommnung in Frage steht, ist Analyse ungefährlich genau proportional der vorhandenen Phantasie, und fruchtbar genau proportional dem Maß, in dem sie die aufgelösten Spannungen nicht endgültig ausgleicht, sondern in höherwertige überführt. Auch hier, wie bei aller Kultur, kann nie Abbau, sondern einzig Höherbau letztes Ziel sein, und wie wir wissen (vgl. Schöpferische Erkenntnis, S. 479 ff.) entsteht jede neue Etage der Realität aus ursprünglich freier Geisteskonstruktion. Phantasie ist der schöpferische Urgrund aller psychischen Wirklichkeit. Je mächtiger jene jeweilig erscheint, desto mehr losem Material ist sie gewachsen, desto fähiger, jeweilig von vorne anzufangen; ein gotthaft-schöpferischer Geist dürfte sich deshalb wohl ohne jede Gefahr in seine letzten Atome zerlegen lassen. Anders steht es mit jedem Menschen, dessen dem Bewusstsein zugänglicher Grund nicht jenseits aller Namen und aller Formen belegen ist; hier mag ein einziger analytischer Schritt zu weit geradezu die Fortschrittsmöglichkeit verwirken. Denn Fortschreiten findet notwendig von einer gegebenen empirischen Basis zu einer anderen statt; wo jede solche verlassen wird (sofern dies möglich ist), entbehrt der Fortschrittsbegriff des Sinns. Daher denn die weitere Forderung, die an die Analyse von unserem Standpunkt aus zu stellen ist, nämlich dass sie keinesfalls endgültig entspannen darf. Empirisch verwirklichtes Leben ist als solches ein Spannungszustand, der auch dort bestehen bleibt, wo sein Träger sich bewusst entspannt. So kann sein Aufstieg einzig darin bestehen, dass hemmende Spannungen gelöst und solche niederen Grads in andere übergeleitet werden, welche tieferen oder umfassenderen Sinneszusammenhängen zum Ausdrucksmittel dienen können. Auch Komplexe sind ja Ausdruck von solchen, nur ist deren Sinn vom Standpunkt des Seelenganzen gewöhnlich ein Widersinn. Aber auch sie brauchen letzteres nicht zu sein. Es ist äußerst fraglich, ob ein Beethoven, ein Hebbel, ein Nietzsche, von einem Rousseau, einem Strindberg zu schweigen, gerade den Sinn ihres Lebens hätten verwirklichen können, wenn man ihnen ihre Komplexe weganalysiert hätte.

Selbstverständlich schafft vollkommene Seelengesundheit allein ein Werk vollkommenen Einklangs. Aber zum Homer, zum Buddha, zum Goethe ist nicht jeder geboren, über sein persönliches Dharma gelangt doch keiner hinaus4, und mir persönlich ist gewiss, dass die Leistung der zuerst genannten Gruppe unbedingt an deren Unerlöstes gebunden war. Als scheinbar Erlöste wären sie nur unfruchtbar geworden, und Unfruchtbarkeit im Empirischen entspricht im Metaphysischen dem Tod. Deshalb ist Analyse, noch einmal, genau nur insoweit ersprießlich, als sie die aufgelösten Spannungen nicht endgültig ausgleicht, sondern in höherwertige überführt. Hierbei tritt nun praktisch mit geradezu unheimlicher Deutlichkeit die magische Bedeutung des rechten Worts zutage. Es hängt, paradox gesprochen, unmittelbar von der Fähigkeit des Analysators, Zauberformeln zu erfinden, ab, ob die Analyse zur Fort- oder Rückbildung des Seelenkörpers führt. Angesichts der medialen Einstellung, in der sich der Analysand notwendigerweise jenem gegenüber befindet, kann ein Satz, ein Wort zuviel, ein Schritt zu weit, die mögliche Wesensvervollkommnung in Rückbildung verkehren. Deshalb dürfte, strenggenommen, nur der geborene und berufene Magier, d. h. der, welcher das rechte Wort instinktiv im rechten Augenblicke findet, das Instrument der Psychoanalyse zu anderen als rein ärztlichen Zwecken verwenden. Deshalb warne ich jeden ausdrücklich davor, sich zum Zweck der Selbstvervollkommnung im Sinn der Schule der Weisheit analysieren zu lassen, falls ihm kein wahrhaft berufener Führer zur Verfügung steht. —

1 Letzteres ist das persönliche Ziel von Oscar A. H. Schmitz; deshalb hat er für seinen Typus wahrscheinlich recht, sofern er restlose Analyse verlangt. Man beachte in diesem Zusammenhang besonders die letzten 10 Seiten seiner Psychoanalyse und Yoga, auf denen er seine Auffassung gegen die meine abzugrenzen sucht. Dieser Abgrenzung gegenüber habe ich das Folgende zu bemerken: Mir scheint nicht richtig, dass Schmitz sich als Introvertierten dem angeblich extravertierten Keyserling in diametralem Gegensatzverhältnis gegenüberstellt. Mein Geistwesen ist m. E. rein introvertiert — die Außenwelt ist diesem entweder Ausdrucksmittel oder Reaktiv, als selbständige Tatsache existiert sie für dieses gar nicht; was ich unmittelbar erfahre, ist immer und überall allein der Sinn, den ich, rein technisch betrachtet, nur aus eigener Tiefe hervorholen kann. Nur als Trieb und Wille bin ich nach außen zugekehrt. — Ferner scheint mir nicht sachgemäß, dass Schmitz seinen Weg und sein Ziel mit demjenigen Buddhas gleichsetzt. Rein dem Buchstaben nach betrachtet, sind beider Ich- Zerstörungsmethoden und -ergebnisse allerdings verwandt. Eine Wesensverwandtschaft fehlt gleichwohl durchaus, weil die Zerstörung in Buddhas Falle Überwindung, im Schmitzschen Auflösung bedeutet. Daher hier endgültige Entspannung das Ergebnis ist, dort jedoch Höchstspannung. Wer das nicht glaubt, der versenke sich genügend lange Zeit ganz in die Persönlichkeit Buddhas, wie diese uns durch Karl Eugen Neumanns Verdeutschung seines Vermächtnisses so herrlich wiedererstanden ist: gerade aus dem Frieden der Letzten Tage Gotamo Buddhos (so heißt ein Band der in handlichem Taschenformat bei R. Piper in München erscheinenden Neuausgabe, die schon der vollendeten Sprache wegen in keinem deutschen Hause, dem es um ernste Dinge zu tun ist, fehlen sollte; von dieser Neuausgabe der Neumannschen Übertragung liegen außer genanntem Band bisher die Reden der mittleren Sammlung [dreibändig], der Wahrheitspfad [Dhammapadam] und die Lieder der Mönche und Nonnen vor) spricht ein unmittelbar sich auf jeden Empfänglichen übertragender, freilich nicht auf triebhafter, sondern rein geistiger Ebene belegener Zustand der Höchstspannung (wie denn der Erdkreis bei Buddhas Tod erzittert haben soll), der zum Gewaltigsten gehört, was ein Mensch erleben kann und mit Erlöstheit im landläufigen Sinne, die immer mehr oder weniger gemütlich vorgestellt wird, rein nichts gemein hat. — Aber freilich haben viele, vielleicht die meisten Buddhisten ihren Meister nicht viel anders aufgefasst wie Schmitz. Über dessen rein buddhistische Phase gibt sein Dionysisches Geheimnis (München, Georg Müller) höchst interessanten Aufschluss.
2 Entsprechen z. B. nicht die meisten nicht ganz bestimmten Instinkte der Tiere, zumal auf dem Gebiete der zweckmäßigen Angst, unseren Komplexen?
3 Vgl. hierzu mein Reisetagebuch S. 347 ff.
4 Vgl. hierzu die Ausführungen im Vortrag Indische und chinesische Weisheit der Schöpferischen Erkenntnis.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME