Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

7. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924

Vom sinnbildlichen Leben

Sinnbildliches Leben ist als sakrales Leben jeder Kirche oder sonstigen Kultgemeinschaft von jeher bekannt. Hier bedeutet es das Nachleben einer vorgegebenen Heilsordnung. Indem der Christ im Lauf des Kirchenjahrs den Rhythmus des Heilsweges in sich aufnimmt und für sich vertritt, indem er im Ritus die Wandlung vom Natürlichen zum Übernatürlichen im Gleichnis durchmacht, wird sein Erdenleben überhaupt zum Sinnbild des Ewigen. Dieser Vorgang ist aber nicht bloß Darstellung oder Schauspielerei (oder braucht es doch nicht zu sein, so oft er es ist), weil Vorstellung Wirklichkeit schafft und der Glaube an die Wirklichkeitsgemäßheit des Gleichnisses dessen Rhythmus, sofern dieser wirklichkeitsgemäß, dem Leben tatsächlich einbildet. Insofern ist sinnbildliches Leben der Weg zur Sinnesverwirklichung. Derselbe Prozess nun, der bei einer Gemeinde oder, allgemeiner, Gefolgschaft nur in Form von Nachleben denkbar ist, entrollt sich beim geistigen Führer in der Form von Vorleben. Im letzteren Sinn war jedes Wort, jede Handlung Christi ein Gleichnis. Dass er hierbei betonte, den Buchstaben (das Gesetz) nirgends aufzuheben, sondern nur zu erfüllen, geschah aus zwei Erkenntnissen heraus: erstens, dass neuer Sinn, um sich auszudrücken, grundsätzlich keines neuen Buchstabens bedarf; zweitens, dass gewahrte Kontinuität mit der Vergangenheit, gemäß dem Trägheitsgesetz, die Fortdauer in die Zukunft am sichersten gewährleistet.

Auf der Bewusstheitsstufe nun, welche heute geschichtsbestimmend wird, stellt sich jedem ohne Ausnahme die Aufgabe, im letzteren Sinne allein, dem prometheischen im Gegensatz zum epimetheischen, sein Leben zum Gleichnis zu gestalten. Wohl mag jeder, welchem dies frommt, überdies überkommene Ordnung vertreten, aber diese darf ihm fortan nur Unterbau oder Baustoff bedeuten — genau wie die vorgegebene Bilderfolge unserer Exerzitienkurse, in welche jeder den Sinn hineinzulegen hat, der ihm entspricht. Denn wenn es gilt, neuen, tieferen Sinn dem alten Buchstaben einzubilden, wenn dies das Eine ist, was allgemein nottut, dann hat jeder, so gering er auch sei, sein persönliches Leben als allgemeines Sinnbild aufzufassen; dann verantwortet recht eigentlich jeder für jede Gebärde und jedes Wort in gleichem Grad, wie sonst nur Gottessöhne. Denn Sinn verwirklicht sich allein durch Sinngebung und solche vollzieht sich so allein, dass einer Tatsache eine Bedeutung zugeteilt wird, die sie an sich nicht hatte, wodurch sie eben zum Sinnbild oder Gleichnis umgeschaffen wird. Nun fragt sich: wie ist gewöhnlichen Sterblichen solche Schöpfung möglich? Hier weist eine an sich missverständliche Formulierung Kants den Weg. Dieser vertrat die folgende ethische Grundmaxime — ich zitiere nur sinn-, nicht buchstabengemäß —:

jeder handele jederzeit so, dass seine Handlungsweise zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könne.

Kant ging nun persönlich zwar von der Voraussetzung einer allgemein-gültigen, gleichsam statischen Vernunftordnung aus, die wir nicht anerkennen können. Aber sein Denken wurzelte so tief, dass sein Irrtum auch hier, wie überall, ein Sinnbild absoluter Wahrheit ist, weshalb sein Gedanke auch in diesem Fall, ohne den Geist aufgeben zu müssen, einen Wechsel seines Körpers verträgt. So hatte denn Kant vollkommen recht, sofern er das Folgende meinte: jeder benutze jeden gegebenen Tatbestand, ob getan, ob erlitten, dazu, um durch ihn einen tieferen Sinneszusammenhang zum Ausdruck zu bringen. Da bei Erlebnis und Tat nie das Was, sondern einzig das Wie und das Wer, als Koordinaten der Gesinnung, entscheiden, so sind hier möglicher Sinnesverwirklichung überhaupt keine Grenzen gesteckt. Wer da nun weiter weiß, dass Niederlage und Sieg, vom metaphysischen Zentrum gesehen, gleichwertig sind, weil sie einander als Gegenpole bedingen und fordern, und dass keiner, auch der Mächtigste nicht, insofern frei ist, dass er die Tatsachen berufen könnte, welche ihm passen — von diesen muss schlechthin jeder die meisten als Schicksal hinnehmen — der kann daran nicht mehr zweifeln, dass es in jedes Macht steht, sein äußerlich noch so geringes Leben zum Gleichnis umzuschaffen und damit sein ganzes Dasein auf ein tieferes Zentrum zurückzubeziehen. Dem wird zugleich klar, dass auch in diesem Zusammenhang die großen Führer der Vergangenheit allen vorgelebt haben: schlechthin jedem könnte (und sollte zugleich) jedes Wort und jede Tat, wie Jesus, zum Gleichnis werden. Um jedoch soweit zu kommen, darf man vor allem eines nicht vergessen: dass, vom Sinne her betrachtet, nur das Original zählt und keinerlei Kopie. Die Bedeutung eines Worts, einer Handlung, bemisst sich ausschließlich darnach, was sie in diesem Falle wirklich bedeutet. Deshalb ist auf der hier gemeinten Bewusstheitsstufe jede Nachahmung, und sei es die Gottes, unmittelbar eine Sünde wider den Heiligen Geist. Nur zu dem ihm Entsprechenden hat der Erwachte irgendein Recht.

Prometheischen Geist, im Gegensatz zum epimetheischen, zu lehren, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Schule der Weisheit, denn nur dieser Geist vermag die Welt zu ändern. In unseren Exerzitien wird jeder dazu angehalten, den vorgegebenen Symbolen die ihm entsprechende Bedeutung einzubilden. Meditationssymbole sind nun auch die Programme unserer Tagungen. Die Verteilung und Folge der Vorträge ist jedesmal so, dass sie als solche einen bestimmten Rhythmus in der Seele des Hörers schafft, welcher sie unbewusst unserem Bildungsziel beschleunigt näherführt. Wenn in Darmstadt Typen auftreten, so geschieht dies niemals, um darzustellen, was ist, sondern um einzuleiten, was werden soll. Und das wirksame Sinnbild ist hier niemals der einzelne Redner, sondern seine Rolle im Zusammenklang. Aus der letzten Tagung ergab sich als Ergebnis, wie zwangsläufig, von mir zum Schluss nur formuliert, die Zukunft des Christentums; aus der gleichen die Heiligung der neuentstehenden Arbeiterwelt. Dies war nicht allein möglich, sondern unvermeidlich, weil jene Tagung keinen Kongreß im üblichen Verstand, sondern eine einheitliche symbolische Handlung bedeutet hat, Leben als Gleichnis jedoch der Urquell ist alles geistbestimmten Lebens als Wirklichkeit.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME