Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

8. - 9. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924

Bücherschau · Henry Sanson · Tagebücher der Henker von Paris

Die Anti-Sentimentalität der neuen Geschichtsära die sich im großen Maßstabe in der Gesinnung ihrer beiden politischen Stoßtruppflügel, deren rechten die Fascisten, deren linken die Bolschewisten vertreten, äußert, tut sich immer mehr auch in den Vorlieben der einzelnen Leser kund. Als ich in der Schöpferischen Erkenntnis mit einigen Worten des Kondottiere Roman Ungern-Sternberg gedachte, da tat ich’s in der pietätvollen Absicht, einem sonst gewiss bald vergessenen Freund ein Denkmal zu setzen. Durch Ossendowskis Buch Tiere, Menschen und Götter, dessen Schilderung der Persönlichkeit übrigens der Wahrheit genau entspricht, ist dieser indessen weltberühmt geworden, und kein Geringerer als Spengler stellt Ungern (in seinen überaus lesenswerten, wenn auch ihrem Inhalt nach stark anfechtbaren Schriften Die Pflichten der deutschen Jugend und Der Neuaufbau des deutschen Reichs, München, C. H. Beck) als Vor- und Sinnbild dessen hin, der die Welt einmal vom heutigen Chaos erlösen könnte. Woher nun diese Verherrlichung eines Mannes, von dem nur ganz wenige Genaues wissen, und dessen Werk gescheitert ist? Ich irre kaum, wenn ich dies in erster Linie Ungerns großzügiger und zielsicherer Grausamkeit zugute schreibe. Sentimentale Schwächlichkeit ist der Welt so sehr zuwider geworden, dass dies mit psychologischer Notwendigkeit zu einer Überwertung des Grausamen als solchen führt. So gilt Lenin nicht allein im masochistischen Russland vielfach als Heiliger. So neidete ein erheblicher Teil der Deutschen den Franzosen ihren Poincaré gerade um seiner Ruhr-Verbrechen willen. So sehen Hunderttausende im Typus Ungern den Heiland just deshalb, weil Ossendowski eigentlich nur seine Gewalttätigkeit schildert: unwillkürlich verstehen sie diese als Kennzeichen des großen Manns. — Nun, genau der gleichen Psychologie verdanken die Tagebücher der Henker von Paris, 1685-1847 von Henry Sanson, die der Verlag Gustav Kiepenheuer in Potsdam jüngst in Auswahl herausgebracht hat, ihren großen buchhändlerischen Erfolg.

Es war zunächst nur Neugierde, die mich das zweibändige Werk zu lesen bewog. Doch je länger ich las, desto ernster ward mein Interesse. Und nach Vollendung der Lektüre stehe ich nicht an, die gleiche jedem zu empfehlen, der an der Hand meiner Hinweise und Ratschläge Psychoanalyse trieb und zugleich darauf aus ist, den Sinn und die Aufgaben dieses Zeitalters zu verstehen. Was kennzeichnet als Gemeinsames die sieben Generationen Henker, deren Aufzeichnungen so unmittelbar wirken, dass man mit völliger Gewissheit vom Schreiber auf den Menschen schließen darf? Nicht nur hohes Bewusstsein ihrer Amtswürde, Verantwortungs- und Pflichtgefühl, wissenschaftliches Interesse (ein Sanson studierte an den Leibern der von ihm Hingerichteten Anatomie, alle waren Individual- und Sozialpsychologen von Rang), sondern vor allem edelste Menschlichkeit, echte Herzensgüte und der Besitz der tiefsten und zartesten Familiengefühle. Hinsichtlich letzterer kenne ich wenig Gemütvolleres als die Schilderung einer Feier des Heilige-Drei-König-Festes im Schoß der Familie Sanson. Was aber das Amtswürde-Bewusstsein angeht, so empfehle ich jedem, welcher gleiches in irgendeinem Berufe besitzt, einmal die Rede vor dem Parlament zu meditieren, die ein Sanson zur Verteidigung seiner Überzeugung hielt, dass der Henker eine achtungswertere Persönlichkeit sei, als das urteilfällende Richterkollegium und gar als der letztinstanzliche Urteilsunterzeichner, da diese für die Hoheit des Gesetzes nicht annähernd in dem Maße persönlich einzutreten hätten wie jener; desgleichen die Entrüstung eines anderen Sanson, der, von Räubern entführt, nun unter diesen Henkerdienste leisten sollte, und lieber sterben als sich mit Mördern identifizieren wollte — ohne dass ihm ein legales schriftliches Todesurteil vorläge, würde er keinen Finger rühren. (Das Pathos der letzteren Episode erleidet allerdings eine gelinde Abschwächung dadurch, dass Sanson den von anderen gemarterten Delinquenten schließlich doch mit schnellem Hieb enthauptet, weil der Fachmann in ihm den Dilettantismus der anderen nicht länger mit ansehen konnte…) — Wie sind nun die hier kurz skizzierten psychologischen Tatbestände zu verstehen? Was ist deren Bedeutung? — Den Weg weist, eine paradoxale Bemerkung Sigmund Freuds, die er im Gespräch geäußert haben soll — Helfen-wollen sei Sadismus. Wenn man liest, wie warm sich die Sansons ihrer Opfer jeweils annehmen, wie sie ihnen vor dem schwersten Augenblicke Mut zusprechen, und zumal die Stimmung nachfühlt, die sie dabei beseelte, da kann man sich allerdings der Identität dieser mit der nicht allein wohl aller Chirurgen und Analytiker, welche diesen Beruf aus Neigung erwählt haben, sondern auch der meisten Krankenschwestern und Trösterinnen schwer verschließen. Warum sind diese typischerweise heiter? Warum stürzen sie sich geradezu auf alles Schmerzliche und Traurige, warum sind sie entschieden unbefriedigt, wo alles gut abgeht, so dass sie unwillkürlich, wieder und wieder, das Befriedigende unbefriedigend deuten und im Grenzfall Leid schaffen? Weil ihr Sadismus Befriedigung sucht. Der reine oder auch nur vorwiegende Sadist ist der Verbrecher, der kriegerische Zerstörer, mit einem Wort der böse Mensch. Solche gibt es nicht viele. Bei den meisten bezeichnet der Sadist nur einen Teil der Seele, weshalb, wo dieser befriedigt ist, die ihm scheinbar entgegengesetzten Triebe desto ausschließlicher und reiner das Bewusstsein füllen. Aus diesem einen Grunde fühlen sich nicht allein Ärzte, Pfleger und Trösterinnen vorwiegend gut — aus eben diesem Grunde mussten sich gerade bei den Sansons die menschlichen Regungen besonders stark entfalten. Es ist alles eher als erstaunlich, dass deren letzte Generationen ihre Hauptaufgabe im Kampf für die Milderung und dann für die Abschaffung der Todesstrafe sahen.

Was folgt nun aus diesen Betrachtungen? Erstens die Erkenntnis, dass es sich beim Neuerwachen des Sinns für Grausamkeit um einen selbstverständlich-normalen Kompensationsvorgang nach einer Periode künstlicher Verdrängung des entsprechenden Triebes handelt. Zweitens ein besseres Verständnis für die wahre Bedeutung alles Helfen-wollens. Ohne Zweifel sind alle die, welche es heute in die Berufe des Analytikers und Chirurgen drängt, die gleichen Typen, die in früheren Zeiten Henker geworden wären. Drittens eine unbefangenere Beurteilung des Zerstörungstriebs. Viertens die Erkenntnis der ungeheuren Gefahr, die in der bloßen Möglichkeit liegt, seine Tätigkeit auf Pflicht- und Amtswürde zurückzubeziehen. Was kann denn nicht dergestalt gerechtfertigt werden? Im Henkertum, im Inquisitorentum hat sich ganz einfach elementare Grausamkeit mit erschobenem guten Gewissen ausgelebt, und kaum besser steht es mit dem Heerführer, der notgedrungen Hunderttausende in den Tod schickt. Vor allem aber folgt aus unseren Betrachtungen, dass wir nicht recht tun, uns jetzt aufs neue unbefangen dem langverdrängten Sadismus, sei es passiv oder aktiv, hinzugeben. Verglichen mit dem Henker hat nämlich der Chirurg (und was ihm entspricht) nicht nur das bessere, sondern das einzig richtige Teil erwählt. Was an der menschlichen Epoche unserer Geschichte verwerflich war, war allein ihre moralische Feigheit und Verlogenheit. Heute soll jeder auch seine Grausamkeit innerlich auf sich nehmen lernen. Hat er dies aber getan, dann soll er sich nicht etwa ihr überantworten, sondern den ihr entsprechenden Trieb desto bewusster seinem seelischen Organismus so eingliedern, dass er dem Guten dient. So gut ich es verstehe, dass auf die Humanitätsduselei als Reaktion eine Periode kompensatorischer Grausamkeit folgt — nicht ohne Grauen sehe ich ihr entgegen. Auf diese Weise kommt kein Fortschritt zustande. Freilich muss alle Sentimentalität sterben, denn solche bedeutet nie anderes als Feigheit und Unwahrhaftigkeit. Aber nur, damit die höhere Erkenntnis, die das humane Zeitalter gegenüber allen früheren allerdings vertrat, fortan ohne Lüge sich auswirken könne.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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