Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Bücherschau · Eine Vision der kommenden Weltordnung · II.

Anders steht es mit den wesentlich irrational Gesinnten, und sie sind es wohl, welche überall die Massen bilden: diese arbeiten vielmehr einer gesteigerten Partikularisierung Europas zu. Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Massen aller Länder in ihrem Empfinden immer völkischer werden. Von der Sozialdemokratie enttäuscht, am Christenglauben nur mehr in wenigen Gebieten ernstlich hängend, werden sie gewiss in immer höherem Maß ihr Ideal- und Glaubensbedürfnis in der als Wirklichkeit erlebbaren Nation befriedigen. Dies sieht man an Italien, wo ein gewesener Sozialdemokrat (der Fall ist tief symbolisch) völkisch regiert, in extremster Form dem Sinne nach Gleiches in Russland. Den Massen müssen natürlich die Politiker und Regierenden Rechnung tragen, und dies zwar immer mehr, weil der Staat zwangsläufig immer mehr zu einer Angelegenheit der Massen, und weil deren völkisches Empfinden immer größere Kraft verkörpern wird. Und hieraus ergibt sich ein tatsächlich unlösbarer Widerstreit zwischen dem an ideeller und gefühlsmäßiger Macht immer zunehmenden nationalen Prinzip, verkörpert im irrationalen Teile aller Völker, und dem nicht minder schnell an Macht wachsenden übernationalen, zu dem die rational Denkenden sich bekennen.

Was kann hier nun weiter erfolgen? Da der gegebene Widerstreit, wo er als solcher aufgefasst wird, tatsächlich unlösbar ist, so gibt es zunächst nur einen Weg, um totbringende Konflikte auszuschalten: Es wird jeder Explosion von Fall zu Fall durch gute Worte und Machtmittel vorgebeugt; im übrigen aber geht jede Richtung selbständig ihren Weg, was praktisch deshalb möglich erscheint, weil verschiedene Volksteile zur einen oder anderen Richtung halten. Dabei tut jede entweder so, als wüßte sie von der anderen nichts, oder aber sie bekämpft diese überlaut in Worten, um eine unerträglich werdende Spannung auf diese Weise zu lösen. In der Aufgabe, hier Sicherheitsventil zu sein, sehe ich die Hauptzukunftsaufgabe aller Parlamente. Da eine offene und reale Auseinandersetzung zwischen den Gegenrichtungen keinesfalls zu Gutem führen, und kein Volk Europas sich heute einen Bürgerkrieg leisten kann, so wird solche Auseinandersetzung tatsächlich ausbleiben. In der ersten Zeit wird sehr viel Versteck gespielt werden. Die, welche die neuen Zusammenschlüsse auf wirtschaftlicher Basis, der unter den gegebenen Verhältnissen einzig möglichen, schaffen, werden alles dazutun, damit man möglichst wenig davon erfährt; zu dem Ende werden sie selbst nach Kräften dafür sorgen, dass die öffentliche Auseinandersetzung möglichst ausschließlich nationale Fragen betrifft, denn je ausschließlicher dies geschieht, desto besser kann im stillen das Übernationale vorbereitet werden. Die Völkischen werden sich indessen erfolglos darüber ärgern, dass sie ihren erklärten Gegnern nichts anhaben können. Eine ganze Weile wird das so weitergehen. Irgend einmal aber werden es die übernationalen Mächte nicht mehr nötig haben, sich zu verbergen, denn alle tatsächliche Macht wird dann bei ihnen sein, werden sich die nationalen andererseits, von der Kriegsübermüdung erholt, für befähigt halten, von Worten zu Taten überzugehen.

Was dann? Nun, dann wird die erste große historische Krisis seit dem Weltkrieg einsetzen. Sie mag zeitweilig arg, werden. Das Endergebnis unterliegt indessen keinem Zweifel: da die reale Macht beim Übernationalen liegt, so wird dessen Idee und Wirklichkeit unweigerlich siegen. Als Folge dessen müssen unweigerlich auch übernationale politische Gebilde zustande kommen: eben die Vereinigten Staaten Europas oder, was mir wahrscheinlich erscheint, von vornherein ein umfassenderes Gebilde. Nur ein Gebilde, das zugleich dem gereiften Partikularismus der Nationen Rechnung trägt Dies wird insofern dem Bismarckischen Reiche von allen bisherigen am ähnlichsten sehen. Es wird gewiss auch auf sehr ähnliche Weise zustande kommen, wie Bismarck die deutsche Einheit schuf. Man erinnere sich an dieser Stelle, dass der reale Erstausdruck auch des Bismarckischen Reiches in einem Zollverein bestand, wie denn schon das feudale Frankreich, wie ich auf Seite 162 von Politik, Wirtschaft, Weisheit gezeigt habe, aus der überkommenen Wirtschaftsordnung des kolonialen Römerreichs hervorging. Mustert man den möglichen Weg zum Ziel des erstrebten übernationalen Gebildes in der Zusammenschau mit diesem nun genauer, so findet man, dass dieser ein ganz anderer ist, als alle Menschheitsschwärmer ihn voraussehen. Der Weg besteht durchaus nicht in einer Verständigung der Völker, sondern vielmehr im gegenseitigen nationalen Sichabschließen voneinander, sofern dieses durch direktes Zusammenarbeiten auf wirtschaftlichem Gebiete kompensiert wird. Und ebenso wird das erreichte Ziel allem anderen ähnlicher sehen, als dem Ideale irgendeiner Internationale. Die Spannung zwischen dem Nationalen und dem über das Volk hinausreichenden wird als eine solche höchsten Grades fortbestehen.

Aber gerade hieraus und hieraus allein kann sich das völlig Neue ergeben, um dessentwillen ich diese Betrachtungen eine Vision nannte: es entsteht eine nicht inter- sondern übernationale Welt. Eine tatsächliche Einheit, jedoch in äußerster Mannigfaltigkeit verkörpert. Und gerade damit wird sich das Endziel der jetzt eingesetzten Entwicklung als ein wirklich Universales erweisen: Universalismus und Partikularismus gehen nämlich notwendig zusammen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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