Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

11. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926

Bücherschau · Freiheitsproblem

Nun zum Problem der Tagung 1925, Freiheit und Norm. Über das Freiheitsproblem ist in Europa vielleicht mehr geschrieben worden (es ist ein rein westliches Problem; der Osten erkennt es gar nicht an; warum, erläutern der Vortrag Richard Wilhelms und mein Schlussvortrag) als irgendein anderes; und ein gut Teil dessen habe ich wohl irgend einmal gelesen. Dennoch wüßte ich zum Freiheitsproblem ernstlich nur den Leuchter 1926 zu empfehlen, der den Tagungszyklus 1925 nebst einer Reihe näher erläuternder freier Aufsätze bringt, weil in ihm das Freiheitsproblem zum erstenmal in seiner ganzen Vieldimensionalität gestellt und aufgerollt wird. Inwiefern es auf der zweidimensionalen Fläche des kritisch-philosophischen Denkens unlösbar ist, zeigt der Vortrag von Driesch, und auf ihr allein ist es von Philosophen bisher betrachtet worden. Den Theologen, die wohl in allen großen Fällen tiefer blickten, gebrach es zur Lösung an der erforderlichen gedanklich-kritischen Einstellung. Unsere Tagung nun hat gezeigt, inwiefern das gesamte Freiheitsproblem bisher falsch gestellt wurde. Sie hat zugleich mit der richtigen Stellung die grundsätzlich richtige Lösung ergeben, von der ich hier nur so viel verraten will, dass Willensfreiheit überhaupt nicht in Frage steht, und die Freiheit letztlich überhaupt kein Problem theoretischer Erkenntnis, sondern praktischer Entscheidung ist. Wen die Frage interessiert, der lese also in erster Linie den nächsten Leuchter. Dieser Rat ergeht auch an alle Tagungsteilnehmer: dieses Mal wird nämlich die Meditation des schriftlichen Ausdrucks insofern noch bedeutsamer sein, als seinerzeit das mündliche Erlebnis, weil das Problem gedanklich zu schwierig war, um beim einmaligen Anhören dauerhaft einzuleuchten.

Nachdem sie den Leuchter gelesen, möchten ernste Interessenten aber doch auch anderes zur Hand nehmen. Und hier nenne ich an erster Stelle drei beinahe unbekannte Werke. Zunächst als Einführung Arnold Rueschs Unfreiheit des Willens, eine Begründung des Determinismus mit Wahrung der Vergeltungstheorie und vorausgehender Entwicklungsgeschichte des Freiheitsbegriffs (Darmstadt 1925, Otto Reichl). Dieses Büchlein von erheblichem geistigen Niveau und erfreulicher Ausdrucksklarheit macht zunächst vollkommen deutlich, inwiefern es Willensfreiheit nicht gibt und die Verantwortungsforderung, zumal im juristischen Verstand, ihrer auch gar nicht bedarf, um zu bestehen. Dann mögen sie die beiden folgenden Bücher vornehmen: Gnade und Freiheit von Felix Weltsch (München 1920, Kurt Wolff Verlag) und Ernst Marcus Theorie einer natürlichen Magie (München 1924, Ernst Reinhardt). Diese Bücher sind wirklich bedeutend; schon lange las ich nichts von gleicher Tiefe und Schärfe des Gedankens. Mich haben beide nichts eigentlich Neues gelehrt, denn schon mein Gefüge der Welt enthält meine jetzige Freiheitslehre im Keim, von deren Ausgestaltung in späteren Schriften zu schweigen, und die Grundgedanken von Marcus späterer Theorie der Magie gehören zu den Grundmotiven der Schule der Weisheit. Aber Weltsch sowohl als Marcus haben ihre Erkenntnisse so ungewöhnlich glücklich formuliert, dass ich bei der Ausarbeitung der Tagung 1925 besonders des ersteren Fassungen mehrfach, mehr oder weniger, übernehmen konnte. Bei Weltsch handelt es sich um einen jener supremen Intellekte, die nur das beste Judentum hervorbringt. Die 155 großgedruckten Seiten seines Buchs enthalten, in glücklicher Zusammenfassung und Zuspitzung, die Quintessenz des Meisten und jedenfalls Besten, was die Menschheit je an Gedanken über Notwendigkeit, Freiheit und Gnade produziert hat. (Weltschs zusammen mit Max Brod verfasste andere Schrift Anschauung und Begriff, Kurt Wolff Verlag, ist der erstgenannten auch nicht annähernd gleichwertig.) Was aber Ernst Marcus betrifft, so stehe ich nicht an, sein Magie-Buch als theoretisch bahnbrechend anzusprechen, denn es leistet nichts Geringeres, als, um den Tatbestand besonders anregend zu formulieren, die bewährte Praxis Coués mit den gesicherten Ergebnissen der Erkenntnislehre Kants in notwendigen Zusammenhang zu bringen. Marcus ist es gelungen, die Verstehensorgane (als welche Begriffe ja ihrem Sinn nach zu fungieren haben, s. Schöpferische Erkenntnis, S. 5, 261, 262) zu schaffen, dank denen die Realität der Sinnesverwirklichung unserem überkommenen Wissenskörper erst ganz zum Erlebnis werden kann. Insofern empfehle ich sein Buch zumal denen, die in der Schule der bisherigen Philosophie erzogen, um einen Zugang zu der meinen ringen. Denn Marcus Gedanken und Ergebnisse kann ich fast Wort für Wort von meinem Standpunkt unterschreiben.

Marcus Theorie einer natürlichen Magie ist aus bestem Kantschen Geist heraus erschaffen. Eine kurze Zusammenfassung derselben findet der Leser unter den freien Aufsätzen des nächsten Leuchters. Nun hat Marcus noch vieles andere geschrieben, worunter mir Der kategorische Imperativ, Kants Weltgebäude und Aus den Tiefen der Erkenntnis (München, Ernst Reinhardt) bekannt sind. Auch diese Schriften sind von echt Kantschem Geist beseelt. Nur hier leider vielfach nicht in prospektivem, sondern in retrospektivem Sinn, d. h. im Sinn einer Festlegung auf die Grenzen der Kantschen Intelligenz. Dies gilt zumal vom Kategorischen Imperativ. Es mag sein, dass die Thesen dieses Buches, gemäß der stolzen Behauptung des Verfassers, wirklich unwiderleglich seien, wenn man den Ausgangspunkt als einzig möglich anerkennt. Aber wenn schon Kants Vernunft-Ethik die ethische Wirklichkeit nicht erschöpft, so gilt dies erst recht von der recht eigentlich professionell, juristisch eingeengten Abart ihrer, welche Marcus vertritt. Hier tritt im Körper großer Verstandesschärfe eine geradezu erschreckende Geistes- und Seelenenge zutage. Was denn wieder einmal erweist, dass es beim Philosophieren letztlich nicht auf die Denkkapazität, sondern das Format des Menschen, der diese als Werkzeug verwendet, ankommt. Marcus selbst wird diesen Satz niemals als richtig anerkennen. Als rein instrumenteller Denker ist er nicht fähig, Geistesgröße anders als in Funktion seiner besonderen Denkbegabung zu verstehen; wo diese fehlt, ist für ihn gar nichts da. So wagt er es, nicht allein Spengler, sondern sogar Nietzsche, von anderen zu schweigen, in anmaßendster Weise als leere Schwätzer abzutun, wo sein Geist mit der einzigen Ausnahme des technischen Denkvermögens im Kantischen Verstand in allen Hinsichten schon mit demjenigen Spenglers den Vergleich in keiner Weise aushält. Aber kann das beim in seiner Bedeutung bisher ganz verkannten Marcus wundernehmen, wo es leider von jeher deutsche Gelehrtensitte war, das eigene Können und das, wozu es führt, als alleingültig anzuerkennen und jedem anderes-Könner gegenüber gemäß dem Grundsatz je gröber, desto besser zu verfahren? Der deutsche Partikularismus ist wahrhaftig ein häßlich Ding; er stellt die unangenehmste Abart des Solipsismus dar — die unangenehmste deshalb, weil sie nicht konsequent genug ist, um sich im Einzellfall praktisch ad absurdum zu führen. Ist es denn so schwer einzusehen, dass jeder, kraft seiner Anlagen, nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit zu übersehen vermag, weshalb es geistig ein Missverständnis bedeutet, über die Aussichten, welche andere Aussichtspunkte bieten, abzuurteilen, moralisch aber zum mindesten Barbarei, gewöhnlich aber weit Schlimmeres, wenn ein Standpunkt den anderen nicht gelten lassen kann? Hier verweise ich wieder einmal auf den Zyklus Weltanschauung und Lebensgestaltung, der bis zum Sommer in neu durchgearbeiteter Gestalt als Teil meines neuen Buches Wiedergeburt vorliegen wird. Es handelt sich beileibe nicht darum, dass eine Ansicht die andere wert sei, sondern einzig darum, dass alle Ansichten als Ansichten nichts taugen und Einsicht in jeden Zusammenhang nur von einem Ausgangsorte zu gewinnen ist. Wer zu diesem keinen eignen Zugang hat, sollte das Besserwissen entsprechend Veranlagter in Ehrfurcht hinnehmen.

Außer Weltsch und Marcus wüßte ich Wesentliches, was direkt das richtiggestellte Freiheitsproblem betrifft, tatsächlich nicht zu empfehlen. Über Bergsons positive Leistung orientiert Weltsch besser und kürzer, als jener selbst. Wohl aber gibt es ein neues Werk, das implizite vom einzig richtigen Freiheitsbegriffe ausgeht: dies ist M. P. Folletts Creative Experience, London und Neuyork 1924, Longmans, Green & Co. Ich wurde durch das Schreiben eines unserer Mitglieder darauf aufmerksam, welches behauptete, es enthalte, ohne es zu wissen, die praktische Nutzanwendung auf das soziale und politische Leben und insofern die Ergänzung der Schöpferischen Erkenntnis. Dem ist tatsächlich so. Selten las ich ein Buch mit so allgemeiner Zustimmung. Hier wird an praktischen Beispielen vollkommen deutlich gemacht, wie Lebensprobleme nie zu lösen, sondern nur zu erledigen sind, indem eine neue, höhere Wirklichkeit geschaffen wird. Im einzelnen aber zeigt Follett, wie das jeweils vorgestellte Ziel nicht der Zweck des Handelns, sondern vielmehr Exponent eines von innen her wirkenden Triebes ist; wie Tätigkeit Absicht nicht eigentlich ausführt, sondern vielmehr schafft; wie ein besseres Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft nur dadurch, dass beide sich ändern, zu erreichen ist; wie man bei jedem Kampf nicht nur mit dem anderen, sondern zugleich gegen sich selber kämpft; und wie speziell das Ziel jeder Unterhandlung nur dies sein kann, eine neue Formel zu finden, die keiner derer der streitenden Parteien gleicht, aber beide in einer neuen höheren Einheit aufgehen lässt (s. die Konferenz von Locamo). — Diese Philosophie sollte jeder Staatsmann und Wirtschaftler studieren. Sie ist ein selten gelungener Ausdruck des richtig verstandenen Geistes der Freiheit.

Dann sei an dieser Stelle noch auf die nachgelassenen Schriften Melchior Palágyi (Leipzig 1925, Johann Ambrosius Barth) aufmerksam gemacht. Das war ein Geist höchster Lauterkeit und Klarheit. Und ihm eignet ein erkenntniskritisches Verdienst, das ich als wichtigstes seit Bergson ansprechen möchte. Hat dieser die Erkenntnis der Wirklichkeit des Lebens aus den Vorurteilen intellektualistischer Abstraktion erlöst, so gebührt jenem das Verdienst, erstmalig zwischen Geist und Lebenspraxis unterschieden und damit den Weg zu einer angemessenen Theorie des Bewusstseins geebnet zu haben, die bisher noch fehlt (in seinem Wesen des Bewusstseins, ebendort erschienen, ist Ludwig Klages, in vielem Palágyis Schüler und dessen glühender Verehrer, diesem Ziel seinerseits einen Schritt näher gekommen). Palágyi zeigt, wie, im Gegensatz zum kontinuierlichen vitalen Lebensstrom, alles Bewusstwerden auf diskontinuierlichen Akten beruht. Damit bereitet er seinerseits den wahren Begriff vor, den unsere letzte Tagung geschaffen hat.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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