Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Anhang:Die Schule der Weisheit in Darmstadt

Anekdote und Legende

Nie soll in Darmstadt eine Lebensgemeinschaft im üblichen äußerlichen Verstand entstehen. Inwiefern von diesem den Heutigen nächstliegenden Ziel just zu dem Ende abgesehen wird, damit auf die Dauer eine echte Gemeinschaft entstehe, habe ich im Aufsatz über die Grenze der Gemeinschaft (Weg zur Vollendung III) ausführlich auseinandergesetzt und will ich hier nicht wiederholen. Solche echte kann nicht von außen her gemacht werden, sie kann nur von innen her erwachsen; der Weg zu ihr führt nicht über den Zusammenschluss, sondern im Gegenteil die letzte Vereinsamung. Deshalb wird die Schule der Weisheit für alle Zeit ein Mittelpunkt für einsame Einzelne sein, wie solchen im Westen manche Klöster darstellen, d. h. nicht auf das Zusammenleben wird, wo es stattfindet, der Nachdruck gelegt werden, sondern dieses soll vielmehr dazu dienen, den Einzelnen zu sich selbst zu führen. Unter diesen Vorbehalten stellt die Schule aber gerade eine Lebensgemeinschaft dar. Dass sie keine Lehranstalt ist und nie zu einer solchen im üblichen westlichen Sinne — im östlichen ist sie freilich eine echte Schule — werden kann, liegt auf der Hand. Man lege Tagungen, Exerzitien, Individualbehandlung zusammen und denke sich alle noch so intensiv betrieben: nie wird sich daraus ein Betrieb im üblichen modernen Sinn ergeben.

Aller Nachdruck in Darmstadt liegt eben auf dem Leben als solchen; eine höhere Art desselben soll hier vermittelt werden. Zu dem Ende hängt alle Förderung freilich vom Zusammenleben ab — nur muss dieses anders eingestellt werden, als sonst geschieht, entsprechend dem besonderen Ziel. Unter allen Umständen ist das Zusammenleben eine Kunst, die an entsprechende Konventionen gebunden ist (vgl. S. 479). Einen wertvollen Menschen sieht der Einsichtige sehr viel lieber selten, zu besonders empfänglichen Stunden, vielleicht nur einmal im Leben, als häufig inmitten der Banalität des Alltags. Ein cholerakrankes Genie unterscheidet sich kaum vom Idioten in der gleichen Lage. Als ihr Leben im Gang erhaltende Gattungswesen sind alle Menschen ähnlich eingestellt und steigern sich, falls sie als solche miteinander verkehren, höchstens im Trivialen; jedenfalls überwiegt dessen Eindruck, und in Sinneszusammenhängen kommt alles auf den Ort an, auf dem der Nachdruck ruht. Nur Gemeinschaft im Außerordentlichen hat Wert. Solche nun kann so allein begründet und im Gang erhalten werden, dass jener allein oder doch hauptsächlich zur Geltung kommt. Deshalb ist das oberste Gesetz sinnvollen Gemeinschaftslebens nicht die Intimität, sondern die Distanz.

Jedes Spannungsverhältnis zwischen Menschen überhaupt setzt einen bestimmten, nicht zu überschreitenden Abstand voraus. Dies gilt schon von Liebe und Ehe; um eine Liebe lebendig zu erhalten, bedarf es einer Kunst der Distanzierung, deren Regeln mindestens so streng sind, wie die der Perspektivewirkung in der Malerei; wer die Ehe als Rahmen zum Sich-gehen-lassen auffasst, verdirbt die seine unfehlbar. Die Kunst des ehelichen Zusammenlebens ist vielleicht die schwierigste von allen, weil dessen extremer Intimitätscharakter besonders feine Nuancierung erfordert. (Eine solche hat Wilhelm von Humboldt sehr fein mit dem Satz zum Ausdruck gebracht, dass sich nächststehende Menschen Geheimnisse vor einander haben müssten, weil sie sich doch kein Geheimnis sind.) Die Distanz, die ein ersprießliches Zusammenleben fordert, wird nun desto größer, eine je größere Spannung erzeugt und im Gang erhalten werden soll. An Höfen muss desto strengere Etikette herrschen, je mehr der Fürst für die Phantasie bedeuten soll. Der Feldherr, auf dessen Wort hin Hunderttausende ohne weiteres in den Tod gehen sollen, muss freilich dauernd bei seiner Armee sein, doch in solchem persönlichen Abstand von jedem Einzelnen, dass eben die Unbedingtheit seiner Befehlsgewalt den Charakter der Lebensgemeinschaft bestimmt. Im gleichen Sinne ist in der Schule der Weisheit ein sehr großes Distanzverhältnis zwischen Lehrer und Schüler vonnöten. Damit jener das geben kann, was er soll, müssen seine Einstellung und sein Aktionswinkel von allen störenden Interferenzen bewahrt sein. Aus diesem Grunde zeigen wir uns keinem Schüler anders, als eben als Weisheitslehrer, messen wir die Stunden des Zusammenseins genau ab, beantworten wir viele Fragen grundsätzlich nicht. Ich habe sogar gefunden, dass durch wohlabgestuftes Nicht-Antworten mehr Belehrung in unserem Sinn zu übermitteln ist, als durch die erschöpfendsten Erklärungen (vgl. S. 236). Auch die Wirkung des Menschen auf den Menschen ist eben an gesetzmäßige Bedingungen gebunden, nicht anders wie der Ablauf eines physikalischen Experiments. Je nachdem, was erreicht werden soll, kommen andere in Betracht.

Jeder Orden hat, entsprechend der Typisierung, die er erstrebt, besondere Klosterregeln. Wenn Johannes Müller auf Schloss Elmau gerade die Gemeinschaft im Alltäglichen z. B. während der Mahlzeiten pflegt, so entspricht dies seinem (echt lutherischen) Ziel, der Norm eine tiefere Einstellung zum Alltäglichen beizubringen — und dieses erreicht er auch, wogegen er ebendeshalb dem Einzelnen keinen besonderen Vertiefungsimpuls mitteilt und vor allem seine eigene, höchst ungewöhnliche Persönlichkeit an der Auswirkung ihres Tiefsten und Einzigsten hindert. Rabindranath Tagore pflegt in seiner Schule zu Shantiniketan (man lese den betreffenden Aufsatz in seinem Buch Persönlichkeit, deutsche Ausgabe, München 1921, Kurt Wolff Verlag) gleichfalls Intimität auf das Alltägliche hin, denn sein echtindisches Ziel ist, der Jugend das (pantheistische) Bewusstsein des Zusammenhangs mit der Natur einzuflößen, das die mechanisierende moderne Bildung auch in seiner Heimat immer schwerer sich ausbilden lässt. Er will also nicht, gleich uns, über den heutigen Zustand hinaus einen höheren begründen, sondern vielmehr den ursprünglichen wiederherstellen, wo der Mensch über die Natur noch nicht hinausgewachsen war. Es besteht nun kein Zweifel, dass der große Mann durch seinen Einfluss das Ewige Menschliche, im Rahmen der Naturformen des Menschenlebens, im höchsten Grade fördert. Aber auf Grund seiner Zielsetzung kann er keine Steigerung bewirken, so hoch sein persönliches Niveau immer sei, und es beweist seine Instinktsicherheit, dass er sich am liebsten um Kinder von fünf bis fünfzehn Jahren kümmert. Das Ziel der Schule der Weisheit ist nun, wie jeder aufmerksame Leser des letzten Zyklus weiß, ein grundverschiedenes. Sie will gerade ein höheres Niveau begründen. Sie will ihren Besuchern einen energischen Ruck nach vorwärts geben, ihnen einen Rhythmus mitteilen, der sie über ihren derzeitigen Zustand in seiner Nachwirkung selbsttätig hinausentwickelt. Deshalb kommt gerade der Lebensstil, welchen die Einflusszentren Tagores und Müllers einhalten, für sie nicht in Betracht.

Auf das Alltägliche kann in ihr desto weniger ein Nachdruck gelegt werden, als die Neuheit ihres Ziels allein schon eine Schärfe der Frage- und Einstellung erfordert, welche praktisch als Einseitigkeit und Selbstbeschränkung sowie als Strenge der Regel in die Erscheinung treten muss. Die in ihr wirkenden Persönlichkeiten wollen und sollen dementsprechend nicht in ihrer empirischen Ganzheit, mit Haut und Haaren gleichsam bekannt werden, sondern eben nur als Beschleuniger, als Steigerer, als Rhythmusgeber; eben dank dem können sie einen rein wohltätigen Einfluss ausüben, trotz aller persönlichen Unvollkommenheit (vgl. S. 464 ff.). Insofern wird jeder von der Schule der Weisheit enttäuscht werden, der unter Lebensgemeinschaft Distanzlosigkeit versteht. Im richtigen Distanzverhältnis indessen besteht zwischen Lehrern und Schülern desto innigere Lebensgemeinschaft. Und dieser Charakter der Weisheitsschule wird gewiss immer mehr in die Erscheinung treten, je mehr Schüler sie auf einmal besuchen und je mehr das Vorhandensein entsprechender Räumlichkeiten und Gärten ein Zusammensein zu vielen möglich macht. Die Individualbehandlung unter vier Augen wird sich ja kaum lange im gleichen Grade wie bisher durchführen lassen — bald wird die alte Peripatetikermethode einsetzen müssen, wo einige reden und die anderen lauschen. Es ist vom Standpunkt der Schule als solcher (nicht der einzelnen sie Besuchenden) auch gar nicht wünschenswert, dass es noch lange bei der völligen Abgeschlossenheit bleibt: je mehr an den Einzelunterweisungen teilnehmen, desto schneller wird der Impuls sich verbreiten. Zusammenkünfte im größeren Kreis, wie solche anschließend an die Exerzitienkurse und die Tagungen stattfanden, haben sich auch für den Einzelnen nicht unfruchtbarer erwiesen, als das Einzelgespräch, und haben sonst den Vorteil, diese davor zu bewahren, mit allzu viel Privatem zu kommen, wozu die Vertraulichkeit besonders Frauen gar zu leicht verleitet: das Private ist nämlich niemals das eigentlich Bedeutsame; was des Einzelnen Tiefstes angeht, müsste er immer auch vor anderen besprechen können. Aber wie dem vom Standpunkt des Einzelnen auch sei: von dem der Schule als solcher ist durchaus zu wünschen, dass die altgriechische und orientalische Methode recht bald zur Regel würde. Was bleibt denn jemals von einem lebendigen Zentrum übrig? Was wirkt am meisten fort? Seine Anekdote und Legende.

Wie ich’s im zweiten Vortrag des letzten Zyklus ausführte: nichts könnte törichter sein, als die mögliche Wirkung der Schule der Weisheit dahin zu verstehen, dass möglichst alle Menschen durch sie hindurchgingen. Weder ist dies praktisch zu leisten — die Intensität der Behandlung schließt für die Lehrer eine große Zahl besonders zu unterweisen, der Schüler von vornherein aus —, noch ist es überhaupt zu wünschen, denn da verhältnismäßig wenige im vollen Sinne aufnahmefähig sind, und nur die den Impuls weitergeben können, welche ihn verstanden und lebendig verarbeitet haben, so könnten die Vielen seine Fortwirkung allenfalls beeinträchtigen. Wenige vollkommen Verstehende hingegen genügen, um die erforderliche Legende zu schaffen. Was am Impuls der Schule abstrakt zu fassen ist, steht in Büchern niedergelegt. Der konkrete Körper, welchen er einmal trug, ist aber nur in Form von Bildern und Situationsschilderungen der Nachwelt zu überliefern. Wie wenige solcher schon genügen, um die Überlieferung lebendig zu erhalten, beweist alle Anekdote und Legende, von Buddha, Konfuzius, Sokrates und Christus über die der Heiligen hinaus bis zu Goethe, in bezug auf dessen fortwirkenden Einfluss der eine Eckermann wahrscheinlich mehr bedeutet, als seine sämtlichen eigenen Schriften zusammen genommen: durch Eckermann erst gelangen diese nämlich für die anderen zur Einfügung in das Leben des Weimarer Weisen. Aber die Legende muss andrerseits entstehen. Und in je reicherer Verzweigung sie dies tut, was von der Verschiedenartigkeit der Schüler abhängt, welche das Darmstädter Zentrum besuchen, desto tiefer und weiter wird sie wirken.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Anhang:Die Schule der Weisheit in Darmstadt
© 1998- Schule des Rades
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