Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Worauf es ankommt

Augenblick der Freiheit

Hier liegt der entscheidende Punkt. Luther hätte nicht bei so vorläufiger Einsicht stehenzubleiben gebraucht, Napoleon die Kräfte des Zeitgeistes besser verwerten können, Nietzsche Positiveres leisten, als er’s getan; und umgekehrt hätten sich die Geführten, bei besserer Bildung, nie an uns wirksamen oder irreführenden Sternen zu orientieren gebraucht. Es wäre nie nötig gewesen, dass ein Rechter unerkannt oder machtlos blieb. Der große Mann als solcher tut es nicht — Begabungen sind immer vorhanden, und die Sprache des Zeitgeistes als solche redet unwillkürlich jeder —, sondern der Bildungstypus, in dessen Sinn er sich gestaltet; dies hängt von Willen und Einsicht ab. Worauf es ankommt, ist die geistige Erfassung und praktische Züchtung des Bildungstypus, welcher den höchsten Möglichkeiten der Zeit entspricht. Hierbei spielt die Einzelbegabung keine Rolle; andererseits ist es selbst im Höchstfalle jener, der über die fortschrittliche Bedeutung des einzelnen Großen schließlich entscheidet. Jener Typus entsteht freilich auf die Dauer gleichfalls von selbst — aber wieviel Jahrhunderte gehen dank Missverstehen oft umsonst dahin! Wie viele erlesene Geister erreichen nicht das in und außer sich, was sie erreichen könnten! Wie viele orientieren sich an falschen Idealen! Und wieviel vollkommener hätte der Bildungstypus selbst vielfach, bei tieferer Einsicht, werden können! Bis heute hat hier zuviel Zufall mitgespielt, auch zuviel Aberglaube den großen Mann betreffend. Fortan muss dies anders werden. Die Fortschrittsstufe der Menschheit hängt nicht von der Veranlagung ihrer jeweiligen Glieder, sondern dem bestimmenden geistigen Seinsniveau ab, das eine ebenso unpersönliche und doch persönlichkeit-bestimmende zeitliche Einheit darstellt wie die physische Gattung. Dieses Niveau kann durch bewusste Kultur geschaffen werden. Wir vermögen darüber zu entscheiden, nicht allein dass Glaube, sondern welcher nottut, nicht allein dass eine, sondern eine wie beschaffene Persönlichkeit auftreten muss, damit ein Fortschritt erzielt werde. So sind wir an dieser wichtigsten Wende, dank der neuerstiegenen Sinneserfassungsstufe, in der Lage, dieselben Kräfte, die sich bisher in der herausgestellten Vorstellungswelt erschöpften und dort Erfindungen schufen, die, als ein Äußerliches, das Innerliche nicht beeinflussen konnten, auf Selbst- und Menschenbildung umzulenken. Jetzt gilt es, am Urheber der Menschenwelt unsere Freiheit betätigen. Geschieht dies konsequent, so wird das alte Karma bald amortisiert sein, neues ins Rollen kommen; die Natur wird immer mehr vom Geist bestimmt erscheinen, das Schicksal auf gewollte Bahnen einlenken. Bis endlich eine nicht allein im empirischen, sondern im tiefsten Sinn-Verstand bestmögliche Welt entstanden ist.

Über die Art der Erziehung, auf die es ankommt, um Niveau zu schaffen, will ich hier nichts äußern; darüber lese man den letzten Zyklus der Schule der Weisheit sowie den Aufsatz über diese in diesem Buche nach. Für dieses Mal will ich nur zur allgemeinen grundsätzlichen Einsicht dessen führen, welches das wahre Ziel ist, nach dem wir alle streben sollen, und gleichzeitig den hoffnungsreichen Gedanken anklingen lassen, dass es erreichbar ist. Nur eine mögliche Frage will ich schon jetzt beantworten. Der Fortschritt geht überall von einzelnen, nicht von vielen oder Massen aus, schon aus dem einfachen Grund, weil irgendeiner in jedem Fall der erste war. Wo es sich nun um Persönlichkeitsbildung handelt, da kann das Weiterwirken des zunächst einmalig-Einzigen nur darin liegen, dass eine immer größere Zahl sich auf ihn abstimmt, sich dem Einfluss seiner Seins-Art hingibt. Bei dieser Abstimmung spielt nun die Zeit die geringste Rolle. Dies gilt nicht allein in dem Verstand, dass die inneren Entscheidungen, auf die es ankommt, aus dem Zeitlosen stammen und deswegen aus keiner Zeit- noch Kausalreihe zu begreifen sind — im Fall der religiösen Bekehrung ist dies allbekannt —: beiden Typusänderungen, die allen Menschheitsfortschritt in musikalische Sätze abteilen, verschlägt es wenig, wie lange sie herausgestellt wurden. Erscheinungen von entscheidender Kulturbedeutung haben nie lange bestanden. Die griechische Höchstkultur hatte sich in wenigen Jahrhunderten überlebt und ist doch heute noch typusbestimmend für den halben Erdball; die Höhepunkte aller waren in großen Einzelnen verkörpert, und kein Leben währt lang. Aber dieser Gedankengang führt zu einer die Zeitbedeutung noch stärker einschränkenden Feststellung: innerhalb des Einzellebens sind es nur kurze Perioden, oft nur Augenblicke gewesen, auf die es für die Menschheit wirklich ankommt. Jesus soll drei Jahre gelehrt haben, sein Vorleben kommt nicht in Betracht.

Das Wirken der langlebigsten Großen ging in der Regel auf Augenblicke der Inspiration zurück. Im übrigen aber haben kurze Anregungen zu aller Zeit die nachhaltigsten Wirkungen ausgelöst. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass nur der Augenblick der Freiheit wesensschöpferisch ist, in welchem ein Mögliches gerade wirklich wird, also der Übergangszustand zwischen dem Noch nicht der Möglichkeit und der Routine, in welcher die Freiheit stirbt. Nur während der Mensch sich entscheidet, ist er frei; sobald er sich entschieden hat, ist er gebunden. Da Gleiches allein auf Gleiches wirkt, so vermag nur der Moment oder die Periode der Freiheit, die als solche Bewegtheit ist, eine Bewegung einzuleiten und als Beschleunigungsantrieb fortzuwirken. So hat es einen tiefen Sinn, wenn die Mythologie die Wirksamkeit aller entscheidend Großen auf Einzelszenen zurückführt. Aus dem gleichen Grunde kann kein Entscheidendes als solches zur Routine werden. Deshalb ist es ganz in der Ordnung und nicht als tragisch zu beurteilen, dass keine Kirche ihren Entstehungsimpuls festgehalten hat, dass jede Bewegung in ihrer Urform bald verjährt, dass jeder Neuerer, der nicht bald stirbt, sich überlebt oder gar ad absurdum führt. Bei jener Stillstandsbewegung inmitten des Werdens der geistig-seelischen Mächte, deren Eintreten den Fortschritt macht, kommt es letztlich nur darauf an, dass sie überhaupt statthatte. Alles Weitere bedeutet wenig. Deshalb kommt es bei der Erschaffung des neues Menschentypus, die unsere wichtigste Zeitaufgabe ist, zunächst weder auf die Zahl seiner Träger an, noch auf deren Dauerhaftigkeit. Ihre Wirkung wird in ihrer inneren Bewegtheit bestehen, im Rhythmus ihres Seins. Dieser wird sich naturnotwendig fortpflanzen, in immer mehr Seelen anklingen. Ist ein neuer tieferer Grundton angeschlagen, so wird es bald kein Ohr mehr vertragen, dass die Melodien des Lebens auf alte abgestimmt bleiben. Aber der Augenblick seines Anschlagens ist wichtiger als die Zeit seines Klingens. Nur Bewegtheit zeugt fort. Die Routine erzeugt nichts. Deshalb kann man von allem Wesentlichen sagen: der zeitliche Tod zur rechten Stunde sei recht eigentlich der Unsterblichkeit Gewähr.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Worauf es ankommt
© 1998- Schule des Rades
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