Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Was uns nottut

Ewige Wahrheit

Die historische Konjunktur ist heute, in der Tat, eine ähnliche wie zu der Zeit der großen Weisen Griechenlands. Auch damals waren die überkommenen Seelenformen in Zersetzung begriffen oder schon zersetzt; auch damals konnte nur bessere Erkenntnis vor dem Verderben retten. Auch dieser Zeit kann nur mehr Weisheit Heilung bringen, denn in ihr allein wird das Wissen, vom toten Ballast, vom zersetzenden Element, zur aufbauenden Lebensmacht. Aber im übrigen ist so vieles seit den Tagen der Griechen anders geworden, dass das Unterschiedliche über dem Gleichartigen überwiegt. So umfasst das Wort Weisheit, an sich so alt wie die Welt, zur heutigen Zeit einen neuen, einzigartigen Inhalt, wie denn Worte überhaupt nur das bedeuten, was jeweilig in sie hineingelegt werden kann. Alle bisherige Weisheit lag, mehr oder weniger deutlich, parallel dem Vollendungsideal der katholischen Kirche: es galt die Realisierung bestimmt gestalteter Wahrheiten, die eben damit zu formgebenden Lebensmächten wurden. Die Synthese, welche die Teilausdrücke des Lebens zur harmonischen Einheit zusammenfassen wollte, war also vorgegeben. Heute nun sind alle überlieferten Synthesen durch den Verstand zu Tode getroffen, heute ist das, was er nicht als berechtigt anerkennt, nicht lebensfähig. Heute kann keine bestimmte Gestalt als letzte Instanz mehr gelten, dazu reicht unser Bewusstsein schon zu tief hinab. Heute gilt es daher, die Vollendung, die allein uns wieder zu ganzen Menschen machen kann, nicht in der Gebundenheit durch gläubig anerkannte, im übrigen noch so wahre Überlieferung zu finden, sondern in voller Erkenntnisfreiheit: dies soll das Ziel des Weisheitsstrebens sein.

Dieses Problem stellte sich für die Weisen Griechenlands noch nicht. Wohl verwarfen diese die Autorität der Volksreligion, aber die eines anderen: der Vernunft, der Logik, welche nach griechischen Begriffen mit vielem von dem, was wir heute der bloßen Grammatik zuzählen, zusammenfiel, stand ihnen desto fester. Als die Philosophen dann zum zweiten Mal in der Geschichte des Abendlands, im 18. Jahrhundert, von der Welle des historischen Prozesses zur ausschlaggebenden Geistesmacht emporgetragen wurden, da wiederholten sie im ganzen den hellenischen Fehler, ja sie übertrieben ihn, denn die französische Raison, für jene Zeit die letztentscheidende Instanz, bezeichnete ein um vieles Engeres, als der griechische Logos. So erwiesen sich die Philosophen in beiden Fällen, und dies mit Notwendigkeit, auf die Dauer nicht als aufbauende, verknüpfende, sondern als zersetzende Mächte. Lebensförderer waren in Griechenland nur die frühesten Weisen, die noch aus ungebrochener Weisheit heraus lehrten, und dann wiederum die spätesten, die sich zu einer neuen, bald einer neuen Religion als Vorstufe dienenden Synthese hindurchgerungen hatten. Dass Sokrates von den Athenern als Jugendverderber verurteilt wurde, bedeutete sonach kein unbedingtes Missverständnis.

Nun ist aber gerade dieser das Prototyp des abendländischen Philosophen geblieben, und daher rührt es vor allem, dass auf unserer Hemisphäre nie auch nur die Vorstellung des vollkommenen Weisen, als des Wissenden, nicht des Wahrheitssuchers, konzipiert worden ist, wie dies in Indien früh, und in bisher unerreichter Tiefe und Deutlichkeit geschah. Deshalb sind unsere wahren Weisen, so seltsam dies klingt, eigentlich nie Philosophen gewesen, welche Behauptung Goethe, der größte von allen, am klarsten beweist — während unsere größten Denker kaum jemals Weise waren. Deshalb ist Weisheit eigentlich noch nie bewusstes Ziel des abendländischen Strebens gewesen. Nun leben wir aber, wie gezeigt, in einer historischen Konjunktur, innerhalb welcher Weisheit im Sinne eines wissengewordenen Lebens allein zur Retterin werden kann. Der Verstand hat zersetzt, was zu zersetzen war; des Sokrates Werk kann als vollendet gelten. Die Kritik, ob von Luther ausgehend, von Voltaire oder Kant, hat alle Schranken abgebaut, die dem Denken von außen her das Betätigungsfeld einengten; sie hat dem Geist die volle Freiheit, die ihm gebührt, für immer gesichert. Aber sie hat damit zuletzt dem Leben selbst die Axt an die Wurzel gesetzt, denn sie hat dahin geführt, dass alles nicht verstandesgemäß Begreifliche am Leben in seiner Existenz gefährdet scheint. Die Religiosität droht zu verschwinden, die Moralität, jeder unmittelbare innere Halt. Diesem natürlichen Gefälle gegenüber haben die vielfach ansetzenden, häufig künstlichen Gegenbewegungen wenig Macht. Was nützt es, neue Religionen zu begründen oder alte wiederherzustellen, wenn der Glaube an die Daseinsberechtigung von Religion überhaupt entschwunden ist? Was nützt alle ethische Kultur, wenn Moralität überhaupt als vorurteilsgeboren gilt? —

Heute gibt es nur einen Weg zum Heil: dass die Kritik selbst, zu ihrem höchsten Ausdruck gebracht, dem Wiederaufbau der Lebensganzheit dienlich werde. Es gilt den Sinn der Moral, den Sinn der Religion, den Sinn alles dessen zu erweisen, was dem Leben nachweislich zu seinem Heile Halt bot, durch vorläufige Kritik aber als unbegründet verurteilt schien, es gilt dies im tiefsten metaphysischen Verstand zu tun, nicht in dem oberflächlichen jener Pragmatisten, die sich bei der erwiesenen Nützlichkeit als letzter Instanz bescheiden. Dies eröffnet denn der Philosophie eine neue Sphäre, die sie im Abendland noch nie betreten hat. Diese soll fortan, auf allen kritischen Errungenschaften fußend, in tiefster Einsicht selbstherrlich begründet, von dieser aus die neue Lebenssynthese, die allein der einmal erstiegenen Stufe geistiger Bewusstheit entspricht, in Angriff nehmen. Sie allein ist heute überhaupt fähig dazu, eine Synthese zu schaffen. Es ist höchst charakteristisch, dass die modernen Wiedergeburten früherer Lebensformen, die neuerdings so zahlreich, aus dem Geist der Verzweiflung über das zersetzungsbedingte Nichts, in allen Breiten aufkommen, im allgemeinen den niedersten und rohesten Stufen entsprechen; dies gilt vom politischen Kommunismus ebensowohl als von jenem besonderen Okkultismus, der, in Wahrheit primitivster Aberglaube, nur zu vielen religiös sein sollenden Verbänden spiritistischer oder theosophischer Signatur zur Grundlage dient: wo der Mensch, vom Verstand ins Nichts hineingehetzt, nicht weiter kann, dort wendet er sich am leichtesten von aller Vernunfterwägung ab. In Wahrheit aber gilt es nicht, der Einsicht zu entsagen, sondern diese so weit zu vertiefen, dass sie die Ganzheit des Lebens aufzunehmen, zu spiegeln und aus sich heraus wieder aufzubauen fähig wird. Es gilt sonach ein Höheres, als es griechische und französische Philosophen jemals angestrebt: nicht die abstrakte Vernunft, deren Grenzen schon Kant mit wunderbarer Klarheit erkannte und absteckte, zur Alleinbeherrscherin des Lebens zu machen, sondern einen Bewusstheitsgrad zu erreichen, in welchem die Ganzheit des Lebens sowohl seiner Tatsächlichkeit nach bewusst, als seinem Sinne nach verstanden wird, und diesen Sinn als Lebensbasis auszubauen.

Hier hielten wir denn den Schlüssel zum Problem, inwiefern heute nicht dem Religionsstifter, nicht dem Ethiker und Pädagogen, sondern dem Philosophen die wichtigste Aufgabe zufällt: das Reich des Sinnes liegt oberhalb aller Gestaltung des Intellekts. Um diesen Sinn hat Wissenschaft sich nie gekümmert, noch soll sie es tun. Sie kann nicht tiefer vordringen, als bis zum empirischen Sinn, wie er sich der Naturforschung oder der Textkritik enthüllt. Sie kann im Falle Jesu z. B. höchstens erweisen, wie dieser es persönlich gemeint hat. Worauf es aber wesentlich ankommt, ist der metaphysische Sinn seiner Lehre, das heißt die ewige Wahrheit, die sie noch so verkleidet zum Ausdruck bringt. Solche ewige Wahrheit gibt es; sie ist auch des irrtümlichen Glaubens tiefster Grund. Nur war die Menschheit bisher zu buchstabenfromm, um sie zu fassen. Jetzt muss sie hierzu angeleitet werden, denn eine andere Rettung gibt es für sie nicht.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Was uns nottut
© 1998- Schule des Rades
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