Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn

Unvergleichbarkeit

Betrachten wir zunächst den Tatbestand der Unvergleichbarkeit ein wenig näher, die beiderseitigen Vorzüge und Nachteile genauer abwägend. Die Gedanken des Morgenlandes, soweit sie mit den unseren nicht zusammenfallen, wollen im allgemeinen überhaupt kein Objekt verständlich machen, sondern einen von der Außenwelt unabhängigen Sinn unmittelbar zum Ausdruck bringen. Uns, hingegen, ist es, welchen Problemen wir uns auch zuwenden, um das Verstehen eines Objekts zu tun. Deshalb können sich sogar die beiderseitigen Grundbegriffe nicht decken. Was bedeutet z. B. Wahrheit hüben und drüben? Ihr modern-westlicher Begriff leuchtet echten Orientalen nicht unmittelbar ein noch kann er es tun, denn von ihrer Einstellung aus mag eine empirische Lüge sich als wahrhaftigster Sinnesausdruck darstellen. Es besteht kein Zweifel darüber, dass man das, was man eigentlich meint, dem Verstehenden durch eine äußere Unwahrheit unter Umständen ebenso gut und sogar besser beibringen kann, wie durch eine sachlich zutreffende Erklärung, Frauen und Diplomaten wissen dies auch im Westen und handeln demgemäß. Aber ihr Wahrheitsbegriff ist nicht anerkannt. Sobald wir Abendländer die Frage bewusst stellen, erscheint uns das grundsätzlich gleiche Wahrhaftigkeitsideal, das auch der Osten bekennt, nur in Form sachlicher Wahrheit, d. h. des Zusammenstimmens von Subjekt und Objekt, realisierbar — gleichviel, ob wir dieses Zusammenstimmen im übrigen nach der Formel von Kant oder von Fries, idealistisch oder pragmatistisch deuten. So stellen wir sogar die Frage, die jedem östlichen Philosophen absurd vorkäme, ob es Gott objektiv gibt, eine Frage, die uns kein Nachweis der Unmöglichkeit eines Gottesbeweises, kein offenbarer Widersinn, zu dem die Annahme ihrer Sinngemäßheit in allen Fällen führt, bis heute verleidet hat; so fragen wir überhaupt, welchen Gegenständen (Definitionen einsichtigerer Art, die metaphysische Substanz von empirischer Gegebenheit scharf unterscheiden, ändern nichts am psychologischen Sachverhalt; nicht darauf kommt es an, wie man definiert, sondern wie das Definierte verstanden wird) die tiefsten metaphysischen Begriffe entsprechen mögen.

Für keinen typischen Abendländer hat das Denken eben seinen Sinn in sich. Sogar dort, wo letzteres ausdrücklich postuliert wird, wie im Fall der antiken und modernen Identitätsphilosophie, erweist sich das Denken als nicht wirklich selbstgegründet. Die großen griechischen Rationalisten waren ausgesprochene Grammatiker; den Sinn, welchen sie meinten, sahen sie so unauflöslich mit den Gesetzen des Ausdrucks verquickt, dass letztlich diese in ihren Augen über die Wahrheit entschieden. Dass aber das Denken auch den modernen Identitätsphilosophen nichts wirklich Selbstgegründetes bedeutete, beweist bei deren größtem, Hegel, der eine Umstand, dass ihm der objektive Geist, den er als konkret zwar richtig definierte, de facto ein Abstraktes bedeutete. Lägen die Dinge anders, so hätte er sich nie dahin verstiegen, im Staatswillen die Erfüllung der vernünftigen Einzelwillen zu sehen — denn der Staat bezeichnet, vom Geist her betrachtet, eine äußerlich abstrakte Einheit —, das innere Leben des Geists mit seinem äußeren Weg, der Dialektik, zu identifizieren, so hätte er vor allem nie daran gedacht, die formale Logik, welche den Weg der Natur absteckt und den des Denkens genau nur insoweit, als dieses jener angehört1, zum Weg metaphysischen Werdens zu promovieren. Dann hätte er auch nie auf die Weise verallgemeinert, wie er es tat; das gedankenmäßig Allgemeine entsteht überall nur durch Abstraktion aus der Erscheinungswelt, während das konkrete Allgemeine, welches es freilich gibt, keinesfalls durch Verallgemeinern innerhalb jener, sondern nur durch Tiefereindringen in den Sinn erfasst wird. Wenn somit Hegel lehrte, dass Denken und Sein zusammenfallen, so sprach er damit nicht aus, was immer er meinen mochte, dass tiefste Wirklichkeit ein autonomes Geistesleben ist, sondern dass die aus der äußeren Wirklichkeit (zu der auch die gegebenen Geistesgestaltungen gehören) abgezogenen Begriffe als solche den tiefsten Sinn enthielten, womit er grundsätzlich den gleichen Fehler beging wie Kant, dessen Ding an sich nur einen äußersten Grenzbegriff der Vernunft, keine tiefste innere Wirklichkeit bestimmte.

Den Indern nun, welche desto mehr als Prototypen des philosophierenden Ostens behandelt werden dürfen, als dessen ganze Metaphysik sich wohl letztlich von der indischen herleitet, gilt das Denken wirklich und in erster Linie als autonome Macht; nicht als Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern als unmittelbarer Ausdruck geistiger Wirklichkeit. Und diese Auffassung entspricht tatsächlich einer ihrer Seiten. Jeder Gedanke kann in zwiefachem Verstand bedeutsam sein: einmal als geistige Korrespondenz äußerer Gegebenheit, ein andermal als Ausdrucksmittel eines ihm selbständig innewohnenden Sinns. Dieses gilt tatsächlich von jedem Gedanken, denn jedes Bedeutung kann unabhängig von dem, was ihm außerhalb seiner entspricht oder nicht entspricht, betrachtet werden. Nun, dieses rein Innerliche, schlechthin Selbständige, und das allein, bedeutet der Gedanke dem Orientalen, soweit sein Denken zum unseren überhaupt in Gegensatz zu bringen ist. Hieraus erklärt sich der sonst befremdliche Umstand, dass das indische Denken, anstatt, je tiefer es eindringt, mit desto weniger Begriffen auszukommen, immer mehr und verschiedenere Bezeichnungen verwendet. Ihm handelt es sich eben nicht um Abstraktionen, sondern um selbständige, in ihrer Art durchaus konkrete Geistesinhalte. Solche müssen sich offenbar, je weiter und tiefer das Gebiet erforscht wird, auf dem sie zu Hause sind, als desto zahlreicher und mannigfaltiger erweisen, genau wie die äußere Natur, je besser sie bekannt wird, desto bunter erscheint. Mündet diese Art Denken zuletzt aber doch in eine Vereinheitlichung ein, wie solche zu den Begriffen des indischen Atman, des chinesischen Tao führt, so weist dies auf keine Zusammenfassung von außen her hin, sondern auf eine tiefste Wirklichkeit, welche der Mannigfaltigkeit konkret zugrunde liegt oder zugrunde liegen soll.

In diesem Zusammenhang betrachtet, erscheinen östliches und westliches Denken einander antipodisch entgegengesetzt. Und dieser eine Zusammenhang, der gewiss nur ein begrenztes Gebiet umspannt, ist für beide Teile dermaßen charakteristisch, dass er in hohem Grade die ganze Lebensmodalität bestimmt. Hiermit gelangen wir denn zu bestimmterer Bewertung der beiderseitigen Einstellungen und Richtungen. überall, wo es sich um Denken in unserem Sinne handelt, sind uns die Orientalen unterlegen. Ihnen sind Gedanken selbständige Lebensformen von wesentlich symbolischer Bedeutung; deshalb erreichen diese nur schwer eine ganz befriedigende Beziehung zur Außenwelt. Weil jene sich nie ganz und ausschließlich dieser anpassen, kann es keine orientalische Wissenschaft geben (so viele Orientalen sich auch in der erlernten westlichen auszeichnen mögen) Wahrhaftigkeit im Sinn von Wahrheit in bezug aufs Objekt liegt ihnen fern; weniger Exaktheit als Schlauheit ist ihres praktischen Denkens Ideal. Sie verhalten sich typisch weiblich zur Außenwelt: ihr Verstand ist ihr Auswärtiges Amt, methodisches Vorgehen ersetzt List. Ihre Wissenschaft bedeutet, wie sie sich auch anstelle, Magie; die Natur soll nicht eigentlich in ihrem Wesen begriffen und dadurch gemeistert, sondern einfach bezwungen werden. — Doch ebenso typischerweise versagen wir auf dem Gebiet der Metaphysik. Wie schon ausgeführt: das abendländische Denken ist grundsätzlich Erkenntnismittel, kein Geschehen für sich, welches geistige Wirklichkeit unmittelbar zum Ausdruck brächte. Deshalb fühlt sich der Abendländer unwillkürlich hilflos, wo es solch unmittelbaren Ausdruck gilt.

Der Grieche verriet seine Wesenserkenntnis der Grammatik, der mittelalterliche Christ dem, was man damals Scholastik hieß; Kant blieb voll Misstrauen an der Grenze des Metaphysischen stehen, welches Fichte, Schelling und Hegel zwar richtig intuierten, dann aber, als echte Westländer, als Vernunftgebiet missverständlich ausdeuteten2. Auch Bergson ist kein Metaphysiker; hat er besser, als die meisten seiner Vorgänger, die Grenzen des Verstandes erkannt, so hat er dies doch, hier Kant sehr ähnlich, vermittelst seines wunderbaren Intellekts getan. Die Intuition, die er fordert, besitzt er selbst nur in geringem Grad; soweit ich sehe, ist diese in seinem Fall nur einem bestimmten Teil der Naturphänomene gewachsen. Im Westen sind Dichter typischerweise tiefsinniger als Philosophen, auch wo man diesen Tiefsinn zusprechen muss, weil eben Dichter den in ihnen waltenden Geistesmächten unter allen Umständen unmittelbaren Ausdruck verleihen, während unsere Philosophen typischerweise von außen nach innen zu vordringen und deshalb dem Innerlichen kein unmittelbares Sprachrohr sein können. Die metaphysische Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach ein rein Innerliches, nur innerlich fassbar. Der Westen hat dies noch nie ganz klar erkannt. Daher sein Idealismus, der Metaphysik ersetzen soll: hier wird der Erscheinung eine andere Erscheinungsart, eine konstruierte Ideenwelt, also, vom metaphysischen Wesen her betrachtet, ein ebenso Äußerliches, wie die Natur, zugrunde gelegt — ein Missverständnis, welches nur den befallen kann, dessen ursprüngliches Bewusstsein vom Metaphysischen nichts ahnt3. Was liegt der Natur zugrunde?

Im großen kann die Frage heute nicht entschieden werden, jedenfalls von keiner gewissen Wissensbasis her. Auf dem Gebiet des Lebendigen ist die Natur letztlich ein Ausdruck des Lebens, des ersten metaphysischen Prinzips, und dieses lässt sich weiter als Sinneszusammenhang beschreiben, wonach der Sinn sich als letzte Denkinstanz erwiese. In der Tat: als Instanz jenseits der Erscheinung gibt es außerhalb des Erscheinenden, für unsere Begriffe, nur deren möglichen Sinn, denn alles, was nicht Sinn ist, lässt sich grundsätzlich als Erscheinung fassen. Und wirklich liegt Sinn aller lebendigen, desto mehr aller geistigen Erscheinung schöpferisch zugrunde, eine selbständige, aber rein geistige Wirklichkeit, welche die Erscheinung als solche nicht enthält. Genau so wenig, wie der Sinn eines Gedankens in den Sätzen, Worten und Buchstaben als solchen lebt, die ihn zum Ausdruck bringen, ebensowenig fällt irgendein Sinn mit seiner Erscheinung wesentlich zusammen, vom Leben in bezug auf den Körper bis zum Wissen des Weisen in bezug auf die Lehre, in welcher er es darstellt. Wir erkannten es schon zu Anfang dieser Betrachtung: Gemeintes und Gesagtes können gar nicht ein und dasselbe sein. Nun, dies hat der Westen bisher noch nie verstanden. Sogar dort, wo er ausdrücklich Sinneserfassung anstrebte, ist er typischerweise von außen nach innen vorgegangen, sonach auf verkehrtem Weg; er hat von außen in die Erscheinung Sinn hineingelegt, nicht deren innerlich vorhandenen Sinn erkannt; so und nicht anders steht es mit der Bibeldeutung Philos sowohl als Rudolf Steiners, der Physiognomik Otto Weiningers und Müller-Walbaums; es entspricht nicht allein der Oberflächlichkeit, sondern auch der Gewaltsamkeit abendländischen Wesens, anstatt zu verstehen, was da ist, zu dekretieren, was dasein soll. Diese Praxis ziemt wohl dem Soldaten, nicht aber dem Metaphysiker. Dessen Typus gedeiht im Orient deshalb besser.

1 Vgl. hierzu meine Prolegomena zur Naturphilosophie, Vortrag II und IV.
2 Etwas genauer ausgeführt habe ich den gleichen Gedankengang im Vortrag Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst.
3 Vgl. meine Mitteilung an den III. Internationalen Philosophenkongreß (Bologna 1911) Die metaphysische Wirklichkeit.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME