Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum

Kulturoganismen

Ins Christentum mündete tatsächlich alles noch Lebendige aus der Antike ein. Die christliche Kirche bedeutet tatsächlich die rechtmäßige Erbin der antiken Philosophie, so fremden Geists sie dieser gegenüber erscheint. Denn Kulturen pflanzen sich nicht anders wie Organismen fort: jeder ausgewachsene Körper muss sterben, denn als solcher kann er sich über einen bestimmten Zustand hinaus nicht fortentwickeln; nur sein Keimplasma ist potentiell unsterblich, aus diesem aber entfaltet sich jedesmal eine völlig neue Gestalt, die ihren Eltern gegenüber eine selbständige Monade darstellt. Hier liegt die metaphysische Rechtfertigung des Todes. Sinn verwirklicht sich hienieden nur, indem er sich ausdrückt; dieses Ausdrücken besteht zunächst in erstmaliger Schöpfung, sodann in fortwährender Neubelebung des sich äußerlich Wiederholenden. Solche Belebung geht aber nur so lange fort, als der Sinn seine Möglichkeiten in der spezifischen Gestalt noch nicht erschöpft hat. Sobald letzteres der Fall ist, dann ist er auch am Ziel, der Buchstabe erstarrt zur toten Natur, und nun folgt das Geschehen mechanischen Gesetzen. Sobald eine Entscheidung endgültig getroffen ist, ist es aus mit Freiheit der Wahl. Also ist tote Natur das unentrinnbare Schicksal alles verwirklichten Geistes. Das Griechentum als solches war fertig; mochte Plotin ihm neue Impulse einzuflößen versuchen — gerade im Medium der griechischen Weisheit konnten sie nicht fortwirken, weil dieses endgültig ausgestaltet war und deshalb unfähig, sich auf neue Einflüsse hin noch weiter zu verändern. Jede bestimmte Geistesrichtung als solche ist eben von innen her begrenzt, nicht unbegrenzt1; es ist nicht möglich, dieselbe über einen bestimmten Punkt hinaus auch nur theoretisch weiterzuführen. Wiederholt wird die griechische Gestaltung noch am heutigen Tag, aber schon zu Römerzeiten steckte kein Leben mehr hinter ihr, weil das, was sie belebte, schon damals ausgedrückt war und dieser Ausdruck keine Weiterentwicklung mehr zuließ.

Diese Wahrheit mag jeder im Geiste nachprüfen. Fortleben konnte vom hellenischen Kulturkörper nur das Zeitlose, das Unfertige und das Unausgedrückte. Gerade so ist es geschehen. Das Zeitlose des hellenischen Geistes ist heute Hauptpfeiler der Menschheitskultur, das Unfertige entwickelt sich in der fortschreitenden Wissenschaft und neuentstehenden Weisheit weiter, das Unausgedrückte aber bestimmte naturgemäß den Charakter der ersten Nachkommenschaft — ich sage naturgemäß, weil das gleiche Gesetz in aller physischen Vererbung zutage tritt. Das Alogische war in der griechischen Weisheit verdrängt geblieben, das Reinmenschliche im Sinn des allen Gemeinsamen uns gewürdigt und unbetont; in der Römerzeit spitzte sich letzterer Umstand zu herrschender Roheit und Gewaltsamkeit zu; als physische Degeneration das psychische Gefälle verstärkte, artete die antike Lebensbejahung in wilde Sinnlichkeit aus: nun, das während jener Jahrhunderte Unausgedrückte bestimmte den Charakter der nächsten Kulturgeneration. Die christliche Kirche ward zum Körper des Alogischen, Demokratischen, Gewalt- und Sinnenfeindlichen, das in allen Seelen unter anderem existiert, nun aber, durch die jahrhundertelange historische Verdrängung, eine unerhörte Lebenskraft erstaut hatte. Dieses, persönlich betrachtet, Fremde ward hinfort zum Träger der Familientradition, und die Familienähnlichkeit, hier also die Bedingtheit des Neuen durch griechisch-römischen Geist, welche im Fall des Christentums desto größer erscheint, je tiefer man in dessen Geschichte eindringt, trat hinfort nicht mehr in der äußeren Gestalt und der bewussten Vorstellung zutage, sondern unterbewusst, als uneingestandene Voraussetzung; oder, um im physischen Bilde zu bleiben: es äußerte sich fortan unsichtbar, in der Qualität des Bluts, in der Art der Verknüpfung der Nervenbahnen. Und das war nicht allein so — es konnte nur so sein.

Nachdem die antike Kultur sich erschöpft hatte, konnte unter allen Umständen nur eine solche auf sie folgen, welche der christlichen im Typus ähnlich war; deshalb siegte deren Lebensstimmung zuletzt über alle jahrhundertelang viel stärkeren Mächte; deshalb siegte das Christentum gerade über den Neoplatonismus. Vielleicht stellt dieser wenigstens als Ansatz das Optimum dessen dar, was aus der Vermählung westlicher Klarheit mit östlicher Tiefe werden konnte. Aber ebendeshalb konnte er nicht damals herrschend werden; vorher musste das in bezug auf die Antike Kompensatorische erst seinerseits der geistigen Erbmasse eingebildet sein. — Ohne Zweifel nun bedeutete die früh- und mittelalterlich-christliche Kultur, gegenüber der antiken, einen ungeheuren Rückschritt auf schlechthin allen Gebieten, außer dem der reinen Innerlichkeit. Aber gerade dieser Rückschritt war notwendig, und zwar aus dem in diesem Zusammenhang entscheidend wichtigen Grund, dass der Intellekt in der antiken Welt, trotz deren Begabtheit, objektiv noch sehr wenig entwickelt war. Im Körper des griechischen Geists erstrebte er, wie wir vorhin sahen, einerseits zuviel, stieß er andererseits zu früh an seine Grenzen. Da er, noch unerfahren, von sich aus alles zu ergreifen unternahm — nichts sollte dem Logos unergreifbar sein —, so musste er vorzeitig seinen Bankrott erklären, und die unintellektualen Seelenkräfte übernahmen die ganze Konkursmasse. Diese erklärten darauf, echt bolschewistisch, den größten Teil der Passiva für null und nichtig, dann bauten sie von sich aus einen neuen Kulturorganismus aus. Diesem gliederten sich, langsam, immer mehr, die gestürzten alten Mächte ein, wie die russische Intelligenz dem kommunistischen Betrieb. Allein der Bedeutungsakzent blieb ein für allemal verschoben. Die Philosophie galt als Magd der Religion, die Wissenschaft erschöpfte sich im Kommentieren der Bibel. Dieser Zustand dauerte an bis zur Aufklärungszeit. Erst nachdem das Alogische sich seinerseits erschöpft hatte, hub eine neue Epoche bestimmenden Geistes an, konnte eine solche anheben. Hier kann ich auf das Organisch-Notwendige aller Kulturschicksale nicht näher eingehen. Dass indessen eine Notwendigkeit tiefster Art besteht, dürfte schon aus diesen allzu kurzen Betrachtungen einleuchten.

1 Genau ausgeführt steht dieser Gedankengang im ersten Teil der Studie Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst. Über Natur und Geist vergleiche man auch, an der Hand des Registers, das Reisetagebuch.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum
© 1998- Schule des Rades
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