Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:I. Die Symbolik der Geschichte

Menschheitsfortschritt

Doch was ist es nun letztlich mit jenem geistigen Sinn, welcher aller historischen Erscheinung als Tiefstes schöpferisch zugrunde liegt? Grundsätzlich brauche ich die Frage nicht mehr zu beantworten; dies ist in früheren Aufsätzen und Vorträgen bereits geschehen. Wir wollen jetzt vielmehr vom früher Erkannten, auf Grund der neuaufgedeckten Zusammenhänge, unmittelbar weiter vordringen. Wo es sich um Einsichten handelt, welche dem vierten Sprachenstockwerk angehören (vgl. S. 31), gibt es nur einen Weg fortschreitender Verdeutlichung: die prinzipielle Wahrheit an immer mehr Sonderfällen zu erweisen. Sie ist ja ein Letztes, ihrerseits auf nichts zurückzuführen, deshalb durch Definition nicht näher zu bestimmen; sie ist wesentlich eine Perspektive — und Perspektiven bezeugen ihr Dasein durch das allein, was sie zu sehen gestatten; an sich sind sie unfassbar. Sinn und Leben weisen letztlich auf Gleiches zurück; auf Grund der Erkenntnisse des dritten Vortrags unseres Eröffnungszyklus können wir weiter sagen: Sinn ist die Logosseite des Lebens, deshalb das letzte an diesem durch denkmäßiges Verstehen Fassbare, gleichviel, was es jenseits der Fassbarkeit noch sei oder bedeute. Deshalb muss, rein grundsätzlich betrachtet, auch aller historischen Erscheinung als Letztes Sinn zugrunde liegen. Wir stellten seinerzeit fest (vgl. S. 60), dass die Zweckmäßigkeit der physischen Organisation genau das gleiche bedeutet, wie die Artikulation der Sprache, die rhythmische Sinneseinheit eines Gedichts. Genau im gleichen Verstande ist die Geschichte sinnvoll. Alle historische Begebenheit trägt Schicksalscharakter, weil durch das Biologisch-Sinnvolle hindurch ein Tieferes nach Ausdruck ringt und im letzten bestimmt.

Über die empirischen Vermittlungen zwischen den äußerlich sichtbaren Tatsachen und deren tiefsten Gründen will ich hier nicht mehr sagen, als im Zusammenhang mit dem Dasein eines kollektiven Unbewussten bereits geschah (vgl. S. 301), weil dieses Gebiet empirisch noch wenig erforscht ist, Beobachtung und Experiment allein zu einem exakten Begriff dieser Zusammenhänge führen können und mir, gleich Newton, am Fingieren von Hypothesen nichts liegt. Das kollektive Unbewusste Jungs bezeichnet, soweit ich urteilen kann, den vorläufig letzten nachweisbaren, noch nicht weiter zu zergliedernden noch näher zu bestimmenden Tatbestand. Durch dieses Medium äußert sich ein besonderes Geistiges, welches man Zeitgeist oder Zeitsinn heißen mag. Dieses Geistige ist genau so real wie der geistige Grund des individuellen Lebens. Aber da sein unmittelbarer Wirkungskörper nicht fest organisiert ist, wie dies vom individuellen gilt, und eine Unzahl verschiedener Einzelwesen in sich einschließt, so ist es, wie gesagt, kein für unsere Begriffe deutlich Fassbares. Es verschwimmt, verfließt, metamorphosiert sich phantomhaft im Raum und in der Zeit. Wirklich zu fassen ist es allein in der erlebten Kongruenz von persönlichem und überpersönlichem Wollen, wie dies der Große darstellt, welcher im Geist des ewigen Sinns die Aufgabe der Stunde erfüllt, oder allgemeiner und unpersönlich gesprochen: wenn einmal das jeweilig Absolut-Richtige geschieht. Dies geschieht bekanntlich sehr selten. Dafür wird uns an diesem Punkte der besondere Charakter der Geisteswirklichkeit, den wir schon oft hervorhoben, vollendet deutlich — deutlich nämlich nicht allein im Sinn des Begriffs, sondern der Anschauung.

Geist realisiert sich nur durch persönliche Initiative hindurch; es bedeutet ein Missverständnis, einen Sinn des Daseins nachzuweisen, den man nicht selbst in dieses hineinlegt; nur durch Verwirklichung des Himmelreichs auf Erden wird dieses wirklich — diese uns längst vertrauten Wahrheiten gewinnen am Bilde der Geschichte lebendigen Umriss und Farbe. In der Geschichte kommt das, was kommen muss, ausschließlich dann, wenn es persönlich gewollt wird. Ohne entsprechende Persönlichkeiten gelingt nichts. Irgendeinmal kommt es freilich, weil es irgendeinmal sicher gewollt wird und gerade die Stauung der geistigen Energie ein starkes Libido­gefälle schafft; so wird das erforderliche Neue durch Krieg und Revolution bewirkt, falls Einsicht es nicht allmählich ins Leben einführte. Aber kommt es nicht rechtzeitig, so sind die Unkosten so groß, dass die Verwirklichung mit der Zerstörung zusammenfallen mag; so kann sogar verdichtete Luft als Sprengstoff wirken. Deshalb ist rechtzeitiges Verstehen die Grundbedingung historisch günstiger Wirkung. Durch den Logos allein bestimmen wir am Weltenschicksal mit. Hier nun kommt es vor allem darauf an, wie tief der Sinn erfasst wird. Im Fall des persönlichen Lebens ist der Zusammenhang jedem übersichtlich oder könnte es doch sein. Wir hatten gesagt, dass der Sinn des Lebens sich auf der Ebene der Natur selbsttätig, vermittels der Vererbung, fortsetzt. Aber des Menschengeistes Wesen erschöpft sich nicht in der Sinngemäßheit seines psychophysischen Sinneskörpers: als den eigentlichen Sinn seiner selbst fühlt er ein Tieferes. Dieses nun realisiert sich nicht von selbst, nur des Menschen freies Wollen und Schaffen verhilft ihm dazu.

So konnte Jesus nur dem Schächer am Kreuz den Himmel öffnen, der ihm entgegenkam. Besagte freie Mitarbeit ist nun aber des Menschen eigentliche Bestimmung, so oft er sie verfehlt. Wenn die bloße Erhaltung des Ererbten des Lebens Sinn erschöpfte, so müsste es vollkommen sinngemäß sein, zu leben, um zu essen, um sich zu unterhalten, um reich zu werden und Karriere zu machen, wie es so viele tun. Doch solche sind nie wahrhaft befriedigt, werden es desto weniger, je länger sie leben. Jeder weiß eben, ob er sich’s eingesteht oder nicht, dass sein Leben, abgesehen vom Sinn, den es als solches darstellt, einen tieferen hat, und fühlt sich wahrhaft glücklich nur im Verhältnis zu dem, wie er diesem Ausdruck verleiht. Seine Befriedigung wird aber ihrerseits eine desto tiefere, auf je tieferen Sinn er sein Dasein zurückbezieht. Jeden drängt von innen her die Forderung: werde, was du bist; jeden treibt von innen her ein Gefühl des Sollens, gleichviel ob er ihm sein Ohr schenkt oder nicht. Aus der Summierung dieser Einzelpostulate ergibt sich nun die Forderung des Menschheitsfortschritts, welche völlig allgemein ist, gleichviel, ob die Menschheit tatsächlich fortschreitet oder nicht. Und hieraus erhellt der wahre und eigentliche Sinn der Geschichte. Der Sinn sollte immer tiefer erfasst werden, die Menschennatur, die sich als solche gar nicht oder nur wenig ändert1, zum Ausdruck eines immer tieferen Geistes werden, denn Fortschritt gibt es nur nach innen zu, in der Dimension der Sinneserfassung: deshalb forschen wir bei allem Schicksal nach seiner Bedeutung, sind wir instinktmäßig überzeugt, trotz aller Gegenbeweise, aus der Geschichte lernen zu können und zu sollen. Innerhalb gewisser Grenzen, in bestimmten Hinsichten ist nun die Menschheit tatsächlich vorwärts gekommen. Durch entsprechende Gestaltungen, welche naturartig, in nur wiederholender Wiederbelebung, dauernd fortleben, sind fortschreitend tiefere Sinne dem Geschehen objektiv eingebildet worden, so dass heute jeder, der Möglichkeit nach, von einer tieferen Sinneserfassungsstufe ausgehen kann (vgl. S. 268 ff.) als der antike Mensch.

Der christliche Impuls hat die Welt doch objektiv verändert, indem, trotz aller persönlicher Unvollkommenheit, gewisse Einsichten, Gefühle und Entschlussarten zu Selbstverständlichkeiten geworden sind; der Verstand hat die Naturmoira überwunden, das Leben, durch selbsterschaffene Institutionen, deren Sinn einer höheren Einsichtsstufe angehört, in bessere äußere Bahnen eingeschient, die nur noch Ausnahmezustände auf kurze Zeit zerstören. Dementsprechend besteht heute die objektive Möglichkeit, das Sokrates-Problem zu lösen, das Leben von der Erkenntnis her neu zu formen, und zwar von einer tieferen Erkenntnis her, als solche je früher bestimmend ins Leben eingriff. Aber hier handelt es sich immer nur um innere und äußere Möglichkeiten, welche auszunutzen in jedem Fall der persönlichen Initiative vorbehalten bleibt; wo diese nicht einsetzt, herrscht, trotz aller äußeren Zivilisation, Barbarei, trotz alles Wissens Oberflächlichkeit. Deshalb ist die Linie des faktischen Fortschritts sehr schwer zu verfolgen. Die Auffassung, die einen Menschheitsfortschritt leugnet, erscheint durch die Erfahrung zweifelsohne besser gerechtfertigt als die der (heute freilich beinahe ausgestorbenen) Spencerianer. Dennoch findet ein langsamer, sehr langsamer wesentlicher Fortschritt ebenso zweifelsohne statt, in dem (einzig gültigen) Verstande zwar, dass fortschreitend tiefere Geistesmächte dem Geschehen dauernd eingebildet werden.

Im Fall des Einzelnen, welcher ernstlich und unentwegt nach Vollendung strebt, gelingt es leicht, den Fortschritt zu verfolgen. In dem der Geschichte, woselbst der Kollektivgeist der Menschheit am Werk ist, schon deshalb äußerst schwer, weil hier die fraglichen Ausdrucksmittel des Geistes gar zu vielfältige sind. Hier spielt die Trägheit der Natur im höchsten Grade mit; die Endlichkeit aller Vererbungsreihen, die Blindheit der Gefühle und Leidenschaften, kosmische Zufälle, ungeheuere mechanische Wirkungen kleinster Ursachen mögen die Entwicklung durchkreuzen; ein großer Mann mag zu früh sterben, ein Volk vorzeitig erstarren. Aber auch in diesen Fällen ist nicht das Versagen die Hauptsache, sondern viel mehr die Erkenntnis, dass die entscheidenden Zufälle durch tiefere Sinneserfassung, welche ihrerseits Voraussicht ermöglichte, um ihre Bedeutung hätten gebracht werden können. So können wir von der Geschichte vielleicht am meisten lernen, wo sie ungünstig verlief: man lernt aus ihr, was man hätte vermeiden können und sollen, und aus dem Wie des Verfehlens ergibt sich indirekt das Wie künftigen Bessermachens. Die Antike hätte nicht so vollständig zugrunde zu gehen gebraucht, sie tat es nur, weil die Einsicht damals zu gering war, um den Naturprozess zu korrigieren; dem Weltkrieg war vorzubeugen, der Bolschewismus hätte nicht zu einer alle Kultur bedrohenden Macht erwachsen müssen, in Versailles ein Frieden diktiert werden können, der eine bessere Welt begründete, anstatt die alte vollends zu verderben. Doch auch der Sieg des Unsinns ist niemals ohne Sinn — ohne einen tieferen Sinn, meine ich, als den, dass die jeweilig Handelnden ihre Sache schlecht gemacht haben: unter gegebenen Inferioritätsverhältnissen bedeutet er das einzig Sinngemäße.

Meist steckt sogar hinter momentaner Inferiorität eines Unterliegenden tiefere Bedeutung. Wenn bald das eine, bald das andere Volk die Führerschaft erlangt, so hat dies, trotz aller nur möglichen Machtzufälle, genau wie im Falle des Sieges dieser oder jener Weltanschauung, in der Regel doch die Bedeutung, dass ein bestimmter Körper dem Sinn des jeweiligen Fortschrittsstrebens die beste Ausdrucksmöglichkeit verleiht, denn in vitalem, nicht moralischem Verstande ungerechte Entscheidungen rufen so starke Reaktionen hervor, dass es nie dauernd bei ihnen bleibt; geht eine Kaste, ein Volk unter, ohne dass es sich um physische Ausrottung handelt, so bedeutet dies fast immer, dass kein Sinn mehr hinter ihm steckt. So ist es, trotz aller empirischen Zufälle, doch das Streben der Menschheit im Menschen nach immer vollkommenerem Ausdruck, das sich an erster Stelle in der Geschichte manifestiert; nur ist dieses Streben eben ein stotterndes, durch Perioden des Schlafs und der Aphasie unterbrochenes. Sinn hat die Geschichte immer; die Weltgeschichte ist immer zugleich das Weltgericht, und ihr Geschehen immer symbolisch. Insoweit hatte Hegel mit seiner Lehre recht, dass sich die Welt im Menschen selber denkt.

1 Dies gilt auch von den Rassen, weshalb kein Zweifel besteht, dass es nicht angeht, alle gleich zu behandeln und gleich einzuschätzen. Hier hat Gobineau dem Demokratismus gegenüber grundsätzlich recht. Der Fehler der bisherigen Rassentheoretiker liegt darin, dass sie nicht nur die Grundstämme des Menschen­geschlechts, sondern auch die Rassen als ein Ewiges beurteilen. Diese alle sind irgendeinmal entstanden, bis zum Weltende werden immer wieder neue entstehen. Deshalb gilt es nicht, unabänderliche künstliche Grenzen festzusetzen, die allenfalls gegenüber gewissen Negern berechtigt sind, sondern durch bewusste Kreuzung immer höhere hervorzubringen. Ich persönlich zweifle nicht daran, dass der Eugenik eine ungeheure Bedeutung beim künftigen Fortschreiten der Menschheit zukommen wird. Es geht nicht an, dass das Beste an Blut wieder und wieder verdirbt oder ausgerottet wird. Der Dekadenz ist auch zweifelsohne vorzubeugen. Es muss und wird auf die Dauer gelingen, auch die Blutsbasis des Menschen­geschlechts immer mehr zu verbessern. Nach einigen Jahrtausenden sollte es nur mehr Edelrassen geben, und zwar nicht etwa nur wenige herrschende, sondern ebenso viele, als es überhaupt Stämme gibt, denn aus jedem sind grundsätzlich solche hochzuzüchten.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:I. Die Symbolik der Geschichte
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