Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit

Geistesmensch

Überblicken wir zunächst, der Unbefangenheit halber ohne jeden Rückbezug auf unsere besonderen Erkenntnisse, die Menschen, die allgemein als überlegenste und größte gegolten haben — wer waren es? Künstler? — Nein. Künstler sind typischerweise Medien; etwas Großes spricht aus ihnen oder durch sie, allein es fällt mit ihrer Person fast nie zusammen. Ihr persönlicher Mittelpunkt ruht selten in ihrem Besten, dies aber müsste sein, wenn sie persönlich überlegen erscheinen sollten. Deshalb haben die Griechen und die Italiener der Renaissancezeit, die über die Frage aus besonderer Sachkenntnis urteilen konnten, den Künstler als Menschentypus nicht höher, sondern geringer als manche andere eingeschätzt. — Waren es Denker? Erst recht nicht. Denker leben typischerweise bewusst in der herausgestellten Vorstellungswelt, außer Zusammenhang mit ihrem schöpferischen Selbst; von ihnen gilt alles gegen die Ideologen Angeführte. — Waren es Weise? — Ja. Doch bei genauerem Hinsehen findet man, dass nur solche Weise als anerkannte Höchstausdrücke des Menschentums fortleben, welche gleichzeitig Staatsmänner waren, oder doch als solche gesinnt. Damit hätten wir eine Bestätigung e consensu gentium unseres gestrigen Ergebnisses, dass nur der Idealist, welcher zugleich Realpolitiker ist, praktisch Großes leistet. Der Staatsmann, im Gegensatz zum reinen Geistesmenschen, hat es grundsätzlich allerdings nur mit dem Zeitlichen und Vorläufigen zu tun. Aber da wir nun einmal in einer zeitlichen und veränderlichen Welt leben, so ist seine Aufgabe, auch vom geistigen Standpunkt aus beurteilt, die wichtigste, denn nur er weiß Zeitliches und Ewiges miteinander zur Deckung zu bringen. Sie liegt auch keineswegs mehr an der Oberfläche als die Aufgabe jenes, denn den Sinn muss der staatsmännisch Gesinnte im Idealfall ebenso tief, wie jener, erfassen, überdies aber die Mittel finden, ihn im Körper der Lebensgesamtheit vollkommen zu verwirklichen. Der Idealfall ist bis heute vielleicht noch niemals eingetreten, aber dass er hier und nicht anderswo seinen ideellen Ort hat, geht eindeutig aus der einen Erwägung hervor, dass alle großen Religionen von ausgesprochen staatsmännisch gesinnten Geistern begründet worden sind.

Sollte also der eigentliche Staatsmann in der bisherigen Geschichte typischerweise einen geringeren Grad der Sinneserfassung verkörpert haben als der Geistesmensch, so besagt dies doch nichts gegen seine Vorzugsstellung als Anlage. Freilich muss der Staatsmann Weiser sein, um Größtes zu bewirken, aber vor allem gilt das umgekehrte Verhältnis: hier liegt, vom Standpunkt der Weisheit, der springende Punkt. Hieraus folgt aber weiter eben das, was wir gestern von einem anderen Ausgangspunkte her Implicite feststellten: dass Staatsmanntum als Anlage mehr bedeutet als spezifisch politisches Talent: es bedeutet ganz allgemein die Fähigkeit zur Verwirklichung des jeweiligen Sinnes. Deren ausgesprochenster und umfassendst ausgebildeter Repräsentant ist eben der Staatsmann, weil dieser die Sinnesverwirklichung mit den reichsten Mitteln, von weitester Basis aus und auf die größten Ziele hin betreibt. Deswegen muss er als der Prototypos gelten. Deshalb wird auch die Bedeutung des sinnverwirklichenden Philosophen für diese Welt am gegenständlichsten am Maßstab jenes gemessen. Auch dieser kann sich nur vermittelst der vorhandenen Kräfte seiner Zeit — hier der Denkmittel — ausdrücken. Auch er fördert die Erkenntnis genau nur insoweit, als er das Neue zum Alten in lebendige Beziehung setzt, d. h. das gerade Mögliche verwirklicht. Vertritt er Wahrheiten, für welche die Verstehensorgane fehlen, so erreicht er nichts. Und nicht anders, wie mit der psychologischen Verständlichkeit, steht es mit der objektiven Richtigkeit. Sinneserfassung verhält sich zur Realpolitik genau so, wie ein theoretischer Sinn zu seinem wissenschaftlich exakten Ausdruck. Exaktheit im Ausdruck ist recht eigentlich die Realpolitik des Manns der Wissenschaft. Umgekehrt ist Machiavellismus grundsätzlich genau so berechtigt, dem Ideal genau so wenig widersprechend, wie die Verwendung der angemessenen Begriffe in der Philosophie. Sogar der Takt spielt hier wie dort die gleiche Rolle: nur der Denker wirkt, welcher weiß, wie er seine Erkenntnisse vorzubringen hat, in welcher Stoff-, Raum- und Zeitverteilung. Wenn unbestreitbar wahr ist, was Flaubert vertrat, dass nur gutgeschriebene Bücher auf Dauer rechnen dürfen, so liegt dies eben daran, dass nur gute Schriftsteller im gestern ausgeführten Sinne taktvoll sind. Wissenschaft und Politik, wie andererseits Kunst und Lebensführung, sind allesamt, vom Standpunkt der Weisheit aus betrachtet, nur Sonderformen der Sinnesverwirklichung; das Urbild des Sinnesverwirklichers ist aber weder der Künstler noch der Philosoph, sondern der Staatsmann, weil bei diesem das Primat des Sinns sowohl als die grundsätzliche Kontingenz der Ausdrucksmittel am reinsten in die Erscheinung tritt.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
© 1998- Schule des Rades
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