Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit

Jenseits der Erscheinung

Das allezeit gültige Korrelationsverhältnis von Sinn und Ausdruck gewinnt also, je nach der Sinneserfassungsstufe, verschiedene Ausprägung. Je tiefer jene, je höher dementsprechend die Überlegenheit, desto vieldeutiger werden die Tatsachen. In der Möglichkeit, diesen aus eigener Wahl jeweilig verschiedenen Sinn zu erteilen, dokumentiert sich praktisch die Freiheit. Solche fällt ihrerseits mit der Überlegenheit im Begriff zusammen. Der Weise steht über dem Schicksal, insofern das Gleiche, was andere niederwürfe, ihm nichts anhat; ein Cäsar lenkte die Geschicke, insofern er die mehr als häufig unglücklichen Zufälle, die seinen Weg kreuzten, zu seinem Vorteil umlenkte; Jesus und Sokrates erwählten freiwillig den Tod, weil das, was anderen ein Ende bedeutet hätte, von ihnen als Weg zur Ewigkeit erkannt wurde. So schafft Vertiefung buchstäblich Weltüberlegenheit. Nichts kann den Geist grundsätzlich hindern, dem Geschehen beliebigen Sinn einzubilden. So sind sogar Wunder nicht allein möglich, sondern grundsätzlich Selbstverständlichkeiten. Zu durchbrechen ist die Naturgesetzlichkeit freilich nicht, aber falls, von neuer Sinnestiefe her, neue Kräfte in ihr wirksam werden, so ergibt dies eine Veränderung der Erscheinung, die aus deren vorheriger Kenntnis unbegreiflich bleibt. Jede Inspiration, jeder geniale Einfall, jede magische Wirkung ist ein echtes Wunder, nicht zuletzt das Leben selbst, das seinen ideellen Ort im Jenseits der Erscheinung hat1. Im gleichen Verstand ist eine vollkommene Überwindung des Schicksals möglich. Das Schicksal von heute ist überall die Folge der freien Entschlüsse der vorhergehenden Geschlechter (vgl. S. 93). Je nachdem, wozu diese sich entschieden, geraten andere Karmamassen ins Rollen.

Der Mensch entscheidet sich aber wiederum mehr oder minder souverän, je nach seiner Sinneserfassungsstufe; er erscheint gebunden in genauem Verhältnis zu dem Grad, in dem er den Sinn verkennt und die Ausdrucksmittel nicht beherrscht. Je mehr das Umgekehrte der Fall ist, je vollkommener die Deckung zwischen den Eigengesetzen dieser und dessen, was sie verwirklichen sollen, je durchorganisierter im großen, von der Tiefe bis zur Oberfläche, die menschliche Bewusstseinswelt, desto mehr gehorcht dem Geiste die Natur. So könnte es ohne Zweifel einmal dahin kommen, dass das Schicksal, wo immer es keine übermenschlichen Geistesgründe hat, durchaus vom bewussten Menschengeist die Richtung erhielte. Diese ungeheuere Möglichkeit wird Ihnen am besten einleuchten, wenn ich beim Schöpfungsmythos anknüpfe. Als der biblische Gott die Welt erschuf, da sprach er jeden Tag nur wenige Worte, und dementsprechend rollt das Geschehen seither ab. Hätte er damals ein klein wenig, nur um eine Nuance anders gesprochen, wir lebten heute in einer anderen Welt.

In der Tat: die Korrelation von Sinn und Ausdruck ist so absolut, und die einmal erschaffene Gestaltung so unveräußerlich dem gesetzmäßigen Naturkreislaufe eingegliedert, dass die ersten Schöpferurworte das ganze seitherige Werden in seiner Art und Richtung völlig eindeutig prädeterminiert haben müssen. Dies mussten sie deshalb, weil sie die Urgründe betrafen: sind diese bestimmt, gilt Gleiches von der Richtung der Fortentwicklung, so ergibt sich deren Sosein ganz von selbst. Nun sprach zwar Gott jene Schöpferworte: aber die Tat selbst war, äußerlich betrachtet, eine Kleinigkeit. Deshalb steht auch die äußere Geringfügigkeit des Menschen der Überwindung des Schicksals nicht im Weg, falls aus jener nur die erforderliche Geistestiefe spricht. Denn der Begriff der Extension entbehrt im Reich des Geists des Sinns. Dort spiegeln sich Kleinstes und Größtes, weil es nur auf die Bedeutung ankommt, dort ist es wahr, dass Makro- und Mikrokosmos sich entsprechen. Besteht das Wunder der Ideenassoziation, dann ist grundsätzlich das größte Hellsehwunder möglich, denn beide bedeuten gleiches, unterscheiden sich nur technisch voneinander. In beiden Fällen wird ein gleich unbegreiflicher Kontakt zwischen an sich fern Auseinander­liegendem hergestellt.

Die Telekinesie bedeutet nichts Rätselhafteres als die Bewegung des eigenen Körpers durch den Geist, sowie greifbarer Gegenstände vermittelst jenes, denn beide Vorgänge sind gleich und im gleichen Verstande rätselhaft. Wenn das Medium nur mit einem unter Vielen en rapport ist, so bedeutet dies Gleiches, wie die idealistische Lehre, dass die Welt meine Vorstellung ist — es erweist als möglich zugleich, dass unbegrenzt viele Welten einander durchdringen mögen. Die Extension spielt auf geistigem Gebiete keine Rolle, weil sie eben der Natur angehört, und die Dimension des Geistes senkrecht zur Dimension dieser, von innen nach außen zu, geht. Deshalb kommt es hier, zum Zwecke der Macht, allein auf die Tiefe der Sinneserfassung an. Entspricht die äußere Macht, als Ausdruck, dem jeweiligen Sinn, so entsteht sie ganz von selbst, sowie das Geld dem richtig disponierenden Unternehmer zuströmt, ohne dass er daran denkt. Gottes Tiefe wird freilich kein Mensch jemals erreichen. Aber die ihm erreichbare genügt, um das Schicksal, soweit es nicht kosmisch ist, zu überwinden. Nur setzt solches, wie ich wieder und wieder betonen muss, weil nichts schwerer eingesehen wird als gerade dies, die vollständige Durchorganisierung der Bewusstseinswelt von der Oberfläche bis zum tiefsten Sinn voraus, so dass vollkommene Realpolitik auf dem Gebiet des Ausdrucks möglich wird.

Wäre die Durchorganisierung nun einmal vollendet — was dann? Nun, dann brauchte der Mensch, um von der Tiefe her zu wirken, nicht mehr zu tun, wie seinerzeit Gott. Denn dann wirkte sich das Tiefste so selbstverständlich bis zur äußersten Oberfläche aus, wie eine vom Großhirn gewollte Fingerbewegung abläuft, ohne dass das Bewusstsein den Weg überhaupt zu kennen braucht. Was der Mensch zuerst in Form toter Maschinen realisierte, wird einmal von allem niederen Leben gelten. Es ist eins der wichtigsten Ergebnisse der modernen Psychologie, dass der Mensch sich nur ein Ziel klar vorzustellen braucht, damit das Unbewusste von selbst den Weg zu seiner Verwirklichung findet2. Phantasie schafft genau so menschliche Wirklichkeit, wie diejenige Gottes die Welt erschuf. Mit anderen Worten: wo das rein geistige Urbild vorhanden ist, dort realisiert es sich selbsttätig. Aber es muss dazu unbedingt richtig vorgestellt werden: hier liegt der springende Punkt. Wie nur die unbedingt richtige mathematische Formel die Sonderausdrücke eines Naturgesetzes vorauszubestimmen gestattet, so muss das geistige Urbild so sinngemäß sein, dass es alle abgeleiteten Sinne richtig prädeterminiert, damit es zur positiven Schöpfung führt. Dies weiß die Asketik von jeher. Buddha verlangte rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Gedenken, rechtes sich Versenken — nur das von richtiger Einstellung aus richtig Getane frommt. Gleichermaßen rechnet die moderne Psychotherapie mit der Bedeutung des rechten Worts in einem Grad, welchen Zauberformelgläubige kaum übertreffen. Das Unbewusste führt die Suggestionen des Oberbewusstseins so unfehlbar aus, dass der geringste Fehler karmamäßig fortwirkt und umgekehrt ein richtig ausgesprochener richtiger Gedanke genügt, um erstaunliche Veränderungen zum Besseren einzuleiten. Dies beweist, wie logoshaft alles Geschehen ist (vgl. S. 269). Im Rahmen unserer heutigen Betrachtung beweist es vor allem, dass Sinn sich nur vermittelst der richtigen Ausdrucksmittel verwirklicht. Es beweist die absolute Notwendigkeit klarster Realpolitik. Ist diese nun am Werk, dann mag auch ein von Menschen gesprochenes Wort zuletzt die Welt bewegen. Denn da es seine Bedeutung, nicht die physische Macht seiner Verkörperung ist, die ihm die Kraft verleiht — hier spricht der alte Zauberglaube wahr —, so steht die Kleinheit des Menschen seiner möglichen Weltüberlegenheit nicht im Weg.

1 Vgl. den 5. Vortrag meiner Prolegomena zur Naturphilosophie.
2 Vgl. besonders Beaudouin Suggestion et Autosuggestion. Neuchâtel 1921.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
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