Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit

Prestige des Alters

Doch wie tritt Überlegenheit, die mit der Freiheit eines Sinnes ist, nun sichtbar zu Tage? Hier führt uns unser Weg zu den Betrachtungen des ersten Vortrags unseres Einführungszyklus zurück: sie ist keine Wissens- und Könnens- sondern eine Seinsfrage (vgl. S. 172). Die Chinesen, welche den Sinn der Überlegenheit von allen Menschen am besten verstanden haben, nennen als erstes und Hauptcharakteristikum des echten Herrschers das Wu-Wei, d. h. das unwillkürliche Wirken. Der Kaiser Shun habe nur dagesessen, das Gesicht gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie. Herrsche ein ganz Großer, so merke man äußerlich kaum, dass er da ist, jeder fühle sich selbständig und tue doch jenes Willen. Das seinsmäßig Vorhandene wirkt unwillkürlich und zwar so allein; absichtlich überlegen zu sein, ist unmöglich — entweder man ist es selbstverständlich, oder man ist es nicht.

So liegen die Dinge tatsächlich. Auf selbstverständlicher Überlegenheit beruht das ganze Prestige des Alters, und dessen jedermann bekannter Charakter dürfte das Wesen des Wu-Wei überhaupt am besten verdeutlichen. Was das Alter kennzeichnet, ist, dass der überwiegende Teil des Wortes Fleisch geworden ist. Während der Jüngling oft die größten Gedanken eines gegebenen Lebens denkt, fehlt ihm typischerweise das persönliche Gewicht; jene überzeugen nur durch sich selbst, nie durch den Menschen. Zu letzterem kommt es immer mehr, je mehr Erfahrung, Arbeit, Tat den psychischen Körper ausbildet, je mehr die gesamte Person in ihrer Vielfalt zum Ausdrucksmittel des jeweiligen Wissens wird, was eben Weisheit bedeutet. Diese Durchorganisierung bedeutet aber nicht bloß, dass verknüpft wird, was vorher geschieden war, sondern das In-die-Erscheinung-Treten neuer Kräfte, die desto mächtiger eingreifen, je vollkommener jene. Jeder Mensch stellt, von einem gewissen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen Übertragungsmechanismus dar. Die Geisteskräfte, über die er jeweilig verfügt, leben nicht etwa in seinem Gehirn, sondern dieses vermag, je nach seiner Organisation, andere Kräfte aus den geistigen Welten ins empirische Leben einzuleiten. Daher die grundsätzliche Unabhängigkeit des Talents von der Persönlichkeit, daher das sonst unerklärliche Phänomen der Medialität; daher die Möglichkeit, durch entsprechendes physisches Training mit tieferen Geistesregionen in Kontakt zu kommen.

Aber dieser Übertragungsmechanismus erfüllt nur dann seinen eigentlichen Zweck, wenn er dem empirischen Ich nicht Fremdes, sondern Tiefsteigenes zuführt, so dass das tiefste Selbst unmittelbar durch alle Anlagen spricht. Eben das bedeutet das Fleischwerden des Worts. Ist das Wort nun aber also Fleisch geworden, dann kann es nicht umhin, unwillkürlich zu wirken, weil dann alles Äußerliche unmittelbar vom Lebenszentrum gespeist wird, wie denn ein jeder nicht absichtlich, sondern unwillkürlich lebt. Die Wahrheit dieser Darlegung bestätigt das banale Bild jedwedes erfolgreichen Mannes. Nur das gelingt dauernd, was man unwillkürlich treibt; erfolgreicher Geschäftsmann ist nur der, welcher die Welt unwillkürlich, jeden Augenblick, auf geschäftliche Koordinaten bezogen sieht, nur der Philosoph, welchem geistige Problematik von selbst als erstes auffällt. Denn nur wo dies von selbst statt hat, spricht, durch das Können hindurch, die Qualifiziertheit des Wesens, die sich niemals verleugnet.

Was schon von technischen Betätigungen gilt, gilt erst recht vom Tiefsten. Nur wer den Sinn unwillkürlich durch den Buchstaben hindurch liest oder durch denselben ausdrückt, nur wer unwillkürlich seine Überlegenheit in jedem Sonderfall erweist, nur der hat’s erreicht. Dass nun ein solcher tatsächlich ein höheres Seinsniveau erstiegen hat, das sich von selbst durch alles hindurch äußert, beweist der Einfluss aller sehr tiefen Menschen, auch wenn sie vom hier vertretenen Ideal noch weit entfernt sind. Solche brauchen eigentlich nichts zu sagen oder zu tun, nicht einmal verstanden zu werden, um schöpferisch zu wirken. Der große Seelenarzt heilt und beruhigt durch sein bloßes Dasein, die schweigende Gegenwart eines Großen bewirkt mehr, als das tiefsinnigste Gespräch eines anderen. Gleichsinnig überträgt sich der steigernde Rhythmus eines Führers unmittelbar. Eben dies Verhältnis illustriert die Erfahrung, dass bei Vorträgen das bloße Niveau eines Redners am stärksten wirkt. Ist er jemand, so kommt es gar nicht so sehr darauf an, was er sagt und dass er verstanden wird; steigt er nur von seinem Niveau nicht herab, so hebt er die Zuhörerschaft hinan, und der innerste Impuls seines Wesens löst in dieser, ihr meist unbewusst, Verwandtes aus. Gleiches besagt auch die Tatsache, dass die Menschen in der Geschichte auf die Dauer genau so wirken, wie sie sind1. Deshalb bedeutet es nichts Außerordentliches, dass Kaiser Shun nur dazusitzen brauchte, das Gesicht gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie: sein bloßes Dasein war sein wichtigstes Tun. Denn ist einmal die Durchorganisierung des Menschen von der Oberfläche bis zum tiefsten Geistesgrund vollzogen, dann wirkt dieser unmittelbar, sintemalen er jene notwendig bedingt, bedarf er der gewollten Vermittelung durch ihm gemäße Gestaltungen überhaupt nicht mehr. Dann strahlt der Sinn so mächtig in die Erscheinung hinein, dass diese sich ihm selbsttätig anpasst, so wie die Welt sich selbstverständlich gemäß Gottes kurzen Worten weiterentwickelte. Dass der, welcher es erreicht hat, nicht mehr absichtlich zu handeln braucht, bedeutet sonach jenes Positivste, dass sein Tiefstes unmittelbar wirkt.

In einem anderen Zusammenhange fanden wir bereits, dass korrelativ mit der Vertiefung des Bewusstseins immer tiefere Schichten des geistig-seelischen Organismus zu Automaten werden. Vorhin streiften wir eine weitere Illustration des gleichen Verhältnisses: es kommt deshalb, in der Psychotherapie, so sehr auf die richtigen Suggestionen an, weil das Unbewusste das einmal Rezipierte unfehlbar ausführt. Dieses findet überhaupt den Weg zur Verwirklichung eines Vorsatzes ganz von selbst, wenn ihn das Oberbewusstsein nur klar genug und in sinn- und sachgemäßer Einstellung fasste. Je tiefer nun das Bewusstseinszentrum eines Menschen, der zugleich mit der Oberfläche in organischem Zusammenhang steht, auf desto weitere Erscheinungskomplexe wirkt sein unmittelbarer Einfluss ein. Dieser mag zuletzt das Unbewusste eines ganzen Volks beherrschen. Das ist es, was die Legende vom Kaiser Shun besagt.

1 Vgl. hierzu meine Anführungen in Schopenhauer als Verbilder. (vergriffen).
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
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