Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Dritter Zyklus:I. Was wir wollen

Erkenntnisfragen

Diese allgemeine Einleitung führt unmittelbar ins Verständnis dessen ein, was die Schule der Weisheit zu Darmstadt will. In dieser spielt sich die praktische Nutzanwendung dessen ab, was jene theoretisch verdeutlichte. Oft wird uns vorgeworfen, dass wir nichts inhaltlich Neues vertreten. Aber das wollen wir auch gar nicht. Unsere Schüler rekrutieren sich aus allen erdenklichen Lagern. Ihre erste Anfrage lautet meist dahin, ob einer, welcher dieser oder jener Glaubensanschauung, diesem oder jenem philosophischen System, diesem oder jenem politischen Programme anhängt, bei uns willkommen sei. Und die erste, so oft verblüffende Antwort, welche sie vernehmen, ist die, dass uns sämtliche Ansichten, Gedanken und Anschauungen — also das Wichtigste vom Standpunkt des Intellektuellen — bis auf weiteres gleich sind. Uns kommt es einzig darauf an, was beliebige Anschauungen im Einzelfall bedeuten. Uns sind alle Geistesgestaltungen, welche wir vorfinden, gleichwie auch jeder gegebene empirische Charakter, nur Rohmaterial. Der sachliche Wert des Empirischen bekümmert uns nicht, von unserem Standpunkt gehört dieser ins Gebiet der Grammatik. Nur darauf geben wir acht, welcher Sinnestiefe das jeweilige Empirische entspricht oder entsprechen kann, denn darauf allein kommt es vom Standpunkt wesentlichen Fortschritts an. Dementsprechend weisen wir alle ab, die in der Schule der Weisheit anderes suchen.

Wer da nach Wissenserweiterung strebt, wird an die Universität verwiesen, wem es um Glauben zu tun ist, an Kirche und Theosophie; wer politisch wirken will, an die betreffenden Parteiorganisationen. Und auch hier fragen wir nicht nach dem sachlichen Wert der betreffenden Anstalten, sondern einzig darnach, inwieweit die jeweiligen den Anlagen des Betreffenden entsprechen. Ein Politiker, welchem mein überparteilicher Standpunkt einleuchtete, wollte aus seiner Partei, in welcher er eine wichtige Stellung einnahm, austreten. Ich widerriet es ihm gerade vom überparteilichen Standpunkt aus: es kann nie genug tiefe Menschen innerhalb der einmal bestehenden Organisationen geben, und zwar aller ohne Ausnahme. Gleichsinnig kommen auf den Tagungen der Gesellschaft für Freie Philosophie die verschiedensten Anschauungen und Konfessionen zu Wort. Dennoch dürfte keiner, der einer solchen beiwohnte, den Eindruck eines verwaschenen Eklektizismus mit nach Hause genommen haben. Was die Schule der Weisheit vertritt, ist eine neue Einstellung zu beliebigen Geistesinhalten. Sie, als erste aller Anstalten der Geschichte, legt den Nachdruck bewusst darauf, was zu aller Zeit allein, von den Anfängen der Menschheitsgeschichte an, einen inneren Fortschritt eingeleitet und bedeutet hat: die Bedeutung als Schöpferin aller Tatbestände, die Einstellung als Gradmessers der Tiefe und Richtigkeit der Sinneserfassung, und des Niveaus als letztentscheidenden Werts.

Jetzt brauche ich nur mehr an den theoretischen Einsichten anzuknüpfen, die Ihnen von früheren Vorträgen her bekannt sind, und diese auf das Praktische hin auszudeuten, um das Wollen der Schule der Weisheit sowohl allseitig wie eindeutig zu bestimmen. Um jedoch verständlich vom Bisherigen zum Weiteren überzuleiten, will ich den Satz, dass ein Gedanke Verschiedenes bedeutet, je nachdem wer ihn ausspricht, noch einmal auf rein abstraktem Gebiete nachweisen. Worauf beruht die Bedeutung Kants? — Auf keine Weise gelingt es, seine Lehre aus deren Teilinhalten und Sonderfeststellungen abzuleiten, die er zum überwiegenden Teil aus dem Wissensschatz der Menschheit übernahm. Umgekehrt folgt sie notwendig, aus einem Guß, aus Kants Fragestellung. Dies ist so sehr der Fall, von wegen der vollendeten Durchorganisiertheit seines Gedankenbaus, dass sich die Paradoxie verfechten ließe: auch ein Fremder, welcher nur jene so vollständig begriff, dass er unwillkürlich von ihr aus zu denken fähig geworden wäre, hätte die Kritiken, so wie sie vorliegen, schreiben können. Kant fragte vorausgesetzt, dass es Erfahrung gibt, wie ist diese möglich? Vorausgesetzt, dass die Wissenschaft gültige Erkenntnisse vermittelt, wie ist dies ohne Vorurteil zu verstehen? Aus dem also geschaffenen besonderen Gesichtswinkel erscheinen nun auch die sonst bekanntesten Tatsachen und Wahrheiten neu, denn sie werden in einen Sinneszusammenhang hineinbezogen, dank dem sie Neues bedeuten. Aber dieser Zusammenhang ist auf der Ebene des Buchstabens auf keine Weise festzustellen; dieser gegenüber stellt er ein a priori dar.

Nur wer Kants Fragestellung unmittelbar als solche erfasste, vermag die Welt auf kantisch zu sehen. Bedeutet dies nun, dass Kant die Welt versubjektiviert hat? Es würde solches bedeuten, wofern er seine Fragen falsch gestellt hätte. Er hat sie aber richtig gestellt, d. h. sinngemäß sowohl auf das reale erkennende Subjekt und dessen Wollen als die reale zu erkennende Natur hin, und eben deshalb hat er den entscheidenden Fortschritt in der Philosophiegeschichte eingeleitet, hinter den kein Denker seither, welcher zählt, zurückgegangen ist, möge er im besonderen noch so anderes lehren. Man kann nämlich jede Frage, die ein gegebenes Subjekt mit einem gegebenen Objekt in bestimmter Richtung in Beziehung setzen will, nur auf eine Weise richtig stellen. Nur in diesem einen Falle erhält man die dem Sinn der Frage entsprechende Antwort. Und da es sich beim Erkennen um Verstehen handelt, welches immer nur auf die Bedeutung gehen kann (S. 21), so ist die Einfügung in den Sinneszusammenhang des Lebens, deren Art eben auf der Art der Fragestellung beruht, das entscheidend Wichtige, denn nur auf die Voraussetzung des Lebens bezogen haben Erkenntnisfragen überhaupt Sinn. So ist Kants Größe und Bedeutung tatsächlich durch die Art seiner Problemstellung eindeutig zu bestimmen. — Fragestellung auf abstraktem Gebiet bedeutet offenbar genau das gleiche wie Einstellung auf dem des Lebens. Aber jene führt zu dieser. Jeder Einstellung entspricht nämlich auf geistigem Gebiet eine besondere Fragestellung oder genauer: das Stellen, in jeder Situation, von Hause aus bestimmter Fragen und solcher allein.

Hieraus ergibt sich die grundsätzliche Möglichkeit, durch entsprechende Fragestellung die Einstellung zu beeinflussen, also durch scheinbar Abstraktes Konkretes zu erzielen, denn ganz verstanden wird jene erst von dieser her, so dass das Eintreten des Verständnisses von Besonderem zugleich das dieses bedingenden Allgemeineren bedeutet. In einem Sinneszusammenhang ist alles so eng verbunden, dass das Äußerste immer zugleich das Innerste in Mitleidenschaft zieht. Rekapitulieren wir nun im Geist unsere Betrachtungen über antikes und modernes Weisentum auf die schöpferische Bedeutung des Logos hin, und verknüpfen wir sie mit den heutigen über den Weg der Psychoanalyse, so erweist sich die grundsätzliche Möglichkeit zugleich als eine praktische: die metaphysische Lehre der Inder, dass Wissen Erlösung sei, ist auf dem ihr korrespondierenden empirischen Gebiet als richtig erwiesen. Verstehen bringt erwiesenermaßen Heilung. Ein in seinen Ursachen erkannter Komplex bricht auf; wird der durch verdrängte Vorstellungen verrückte Sinneszusammenhang des Seelenlebens durchschaut, so schiebt er sich selbst zurecht. Hier wirkt der Logos bis in die physische Sphäre ein. Desto mehr Macht muss er auf die geistig-seelische haben. Überall aber ist der Weg richtiger Fragestellung eben der, welcher die Einstellung beeinflusst. Jene allein führt zur Sinneserfassung. Nun aber gelangen wir zur Feststellung einer weiteren Korrespondenz.

Wie der konkreten Einstellung auf abstrakt-geistigem Gebiet die Fragestellung entspricht, so entspricht der Sinneserfassung auf diesem die Gesinnung auf vitalem. Dass solche vornehmer oder gemeiner, tiefer oder oberflächlicher sein kann, ist niemandem neu. Aber worüber sich nicht alle klar sind, das ist die Wahrheit, dass Gesinnung in ihrer Verschiedenwertigkeit den verleibten Ausdruck von Verstehen darstellt — der Edlere, Bessere, Tiefere versteht besser als der Stumpfe und Schlechte. Denken Sie an die Ergebnisse zurück, zu denen uns die Analyse der wahren Bedeutung Christi führte (S. 258): nicht dessen Liebe als solche, sondern das tiefere Verstehen, das sich durch diese hindurch manifestierte, hat die Welt verändert; nicht seine besondere Lehre, sondern die tiefere Einstellung, die sie zum Ausdruck brachte, wodurch Altbekanntes einen völlig neuen Sinn erhielt, hat einen entscheidenden inneren Fortschritt eingeleitet. Die neue Gesinnung Christi war der Ausdruck tieferer Sinneserfassung. Umgekehrt stellt diese sich in jedem konkreten Fall als neue Gesinnung dar, denn solche bedeutet eben das Fleischwerden des Worts in dem Verstand, dass alle Lebensäußerungen aus dem tiefsten Verstehen hervorgehen. Ob die jeweiligen sich ihres Logoshaften Seinsgrundes bewusst sind, tut nichts zur Sache: instinkt-, gefühls-, empfindungsmäßiges Wissen ist kein schlechteres als das verstandesgemäße. Ist dem nun also, dann muss Gesinnung als solche auch übertragbar sein, und zwar gerade vom Verstehen her, denn der Logos ist das Prinzip der Übertragbarkeit (S. 264).

Dann ist das Ziel der Schule der Weisheit, unmittelbar eine tiefere Einstellung, die sich als edlere Gesinnung, zuletzt als höheres Seinsniveau in der Erscheinung ausprägen soll, zu lehren, zweifelsohne grundsätzlich erreichbar. Allerdings aber nur auf ihrem besonderen Weg. Das Wort wird zum Fleisch nur auf dem Wege persönlichen Verstehens, denn nur Verstehen, als Gegensatz zur Wissensaufnahme, ist ein schöpferischer Vorgang. Es geht von innen nach außen. Darum kann es der Schule der Weisheit niemals um Vermittlung sachlichen Wissens zu tun sein, sondern einzig um persönliche Beeinflussung des Menschen. Hiermit wären wir denn zur Grundthese der Betrachtung, dass es nicht darauf ankommt, was einer, sondern wer etwas sagt, zurückgelangt. Geht ein Ausdruck aus persönlichem Verstehen hervor, dann bedeutet er anderes als sonst. So mag man geradezu das Paradoxon verfechten, dass zwei Menschen, welche sachlich Gleiches behaupten, der eine jedoch aus innerem Verstehen heraus und der andere nachplappernd, sich viel mehr voneinander unterscheiden, als zwei gleich Tiefe, die an der Oberfläche Entgegengesetztes vertreten. Denn vom Standpunkt der Weisheit kommt alles auf die Einstellung, synonym mit Niveau und Gesinnung an.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Dritter Zyklus:I. Was wir wollen
© 1998- Schule des Rades
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