Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Dritter Zyklus:II. Der Weg

Überwindung der Eitelkeit

Es genügt tatsächlich, vom Standpunkt einer Wirkung im großen, dass ein geistiges Zentrum da ist und seinen Einfluss überhaupt ausübt. Alles weitere macht sich von selbst, durch das Mittel der jeweilig vorhandenen Kräfte geistiger, seelischer und materieller Art. Schon ein einziges Hundert regelmäßiger Besucher unserer Tagungen — so klein ist die Welt — würde genügen, um den Anfang einer Tradition für Außenstehende zu schaffen, durch die das geschriebene Wort einen lebendigen Körper erhielte. Deren Erstgeborener ist freilich oftmals der des vollkommenen Missverstehens. Doch das ist gut so: die Diskrepanz zwischen Bild und Wirklichkeit erzeugt eine Spannung, die auf die Dauer viel fruchtbarer wirkt, als prästabilierte Harmonie; durch Missverstehen hindurch kommt man schneller zum wesentlichen Verstehen als durch sofortiges Richtig-Wissen, weil dieses nicht verstanden zu werden braucht.

So gelangt auch der indische Weise nur so zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit, dass er von allem Vorläufigen fortschreitend urteilt: Neti, neti, das bin ich nicht. Die authentische Tradition lebt in der Schule der Weisheit selber fort, äußerlich an deren geographischem Zentrum, innerlich im Rahmen des inneren Kreises1 der Berufenen, die aus ihr hervorgingen, und der schon heute kein ganz kleiner mehr ist. Was so im stillen unmerklich für die Welt geschieht, ist das schlechthin Wesentliche. Aber auch die Tagungen sind von großer Bedeutsamkeit. Auf diesen lässt der Zusammenklang vieler selbständiger Redner eine Mehrheit ahnen, dass es ein Tieferes gibt als bestimmte Weltanschauung. Durch das Verbot der Diskussion, durch die Spannung der Aufmerksamkeit auf das Niveau der Vorträge mehr als auf deren Inhalt, welche allen nahegelegt wird, erleben die meisten unwillkürlich eine Einstellung, die sie für Tieferes empfänglich macht. Am stärksten aber wirkt die Gerichtetheit auf die persönliche Qualität der Redner als solche, denn diese weckt das Qualitätsbewusstsein überhaupt, die erste Voraussetzung jeder Höherentwicklung. Nun mag man fragen: sind denn diejenigen, welche hier wirken, wirklich schon so weit, dass sie als Vorbilder gelten dürfen? Darauf ist zu antworten: nicht das erreichte Ziel ist es, das einen Menschen fruchtbar macht, sondern die Gesinnung, aus der heraus er das Höchste einmal erreichen könnte; es ist die Bewegtheit, die Spannung, der Rhythmus, die er verkörpert. Unter diesen Umständen ist die Frage, ob die Lehrenden an der Schule der Weisheit schon vollkommen wären, nicht eigentlich zur Sache gestellt. Sie brauchen gar nicht vollkommen zu sein.

Die starken Bahnbrecher auf Erden waren nachweislich von Haus aus nicht harmonischere, sondern unharmonischere und schwierigere Charaktere, als von Millionen Dutzendmenschen gilt; dem einen Luther sind mehr Leidenschaften, Schwächen und Untugenden nachzuweisen als einer Vielheit rechtschaffener Bürgersleute. Dies muss so sein, weil Spannung und Rhythmus sich desto stärker übertragen, je widerspenstiger das Material, durch das sie sich äußern müssen; ein vollkommen Ausgeglichener — sofern es einen solchen geben könnte — vermöchte auf Erden nicht mehr fruchtbar zu wirken. Was Luther über seine sämtlichen tugendhaften Zeitgenossen hinaushob, war seine Gesinnung zusammen mit der Kraft, dieser zum Sieg zu verhelfen. Die anderen gehen nun überhaupt nur Gesinnung und Rhythmus an, denn sie allein übertragen sich. Was ein Mensch als empirisches Wesen ist, das ist er für sich allein, denn niemand kann ihm sein persönliches Leben nachleben. Beim Vorbild, beim Lehrer stellt sich ausschließlich die Frage, inwieweit er wirksam ist. Vermag der Schüler das, was jener geben kann, nur dann zu akzeptieren, wenn er an dessen Vollkommenheit glaubt, so muss er die Feigheit seiner Seele zunächst so weit überwinden, dass er ohne Illusionen leben kann. Wer es sich selbst zugesteht, enttäuscht werden zu dürfen, wer jede mögliche Enttäuschung nicht selbstverständlich seinem eigenen Urteilsmangel zuschreibt und sich ihrer daher schämt, der muss erst über diesen primitiven Zustand hinausgelangen. —

So, noch einmal, liegen die Dinge in bezug auf die anderen. Mich dünkt aber, dass auch für den Betreffenden, an sich betrachtet, auf Gesinnung und Rhythmus allein alles an, kommt. Für seine ererbte Natur kann niemand etwas; in das meiste äußere Schicksal ist jeder ungefragt hineingespannt. Insofern sind Person und empirisches Leben dem Menschen im gleichen Sinne Material wie die materielle Außenwelt; er muss sie hinnehmen. Sein persönlicher Wert bemisst sich allein danach, was er aus ihnen macht2. Ob dies nun viel oder wenig ist, hängt nur zum Teil von seiner Gesinnung ab. Manches Material ist zu spröde, manches Leben zu kurz. Die Anlagen als solche sind in der Mehrzahl unveränderlich, manche erworbene Eigenschaften der Seele gehen auf Verwundungen zurück, welche zwar ausheilten, aber für immer entstellende Narben hinterließen. Da mag die Sehnsucht noch so gewaltig sein — nicht jeder kann es gelingen, die Gegebenheit vollständig zu verwandeln. Doch, wie gesagt, das tut nichts, denn auf Einstellung und Rhythmus kommt überhaupt alles an, weil sie allein das Leben als solches qualifizieren; alles weitere ist unter allen Umständen materialbedingt. Deshalb darf auch der nach der eigenen Vollendung Strebende sich das herrliche Krishna-Wort zum Leitmotiv erwählen:

Schaffe unentwegt,
aber gib jeden Augenblick
die Früchte deines Schaffens preis.

Auch die erreichte Vollendung gehört zum äußeren Erfolg, auf den es letztlich nicht ankommt3. — Deshalb ist die Frage, ob die hier Wirkenden ihr persönliches Ziel denn erreicht hätten, recht eigentlich missverständlich. Keiner von uns erhebt Anspruch darauf, in diesem Sinne als Vorbild zu gelten. Um andrerseits den erforderlichen Impuls zu vermitteln, brauchen wir nicht vollkommen zu sein.

Aber freilich muss es im Sinn der Schule der Weisheit liegen, erreichte Vollendung, wo solche einmal vorliegt, auch als solche zur Wirkung zu bringen; mir persönlich liegt besonders viel daran, weil ich selbst, ein von Leidenschaften durchschütterter, vulkanisch veranlagter Mensch, dem Ziel meines Strebens so besonders fern bin. Der Schule der Weisheit muss daran liegen, die Erreichbarkeit des Ziels, das sie verfolgt, auch am sichtbaren Erfolge zu erweisen, denn wenn auch nicht in ihm das eigentlich Fruchtbare liegt, so wirkt doch er allein, als Bild, im großen suggestiv. Und das Glück hat es gewollt, dass solches ihr bereits im ersten Jahr ihres Bestehens vergönnt war. Rabindranath Tagore, der noch mit fünfzig Jahren, als ich ihn zuerst in seiner Heimat kennenlernte, viel Eitles, viel Unharmonisches an sich hatte, hat heute eine solchen Grad der Durchbildung erreicht, dass mir nichts übrig blieb, als mich vor ihm als einem Idealbilde zu neigen. Schon gestern sprach ich von ihm. Ich sagte: nicht seine Geistigkeit, auch nicht sein Dichtertalent erschienen mir so groß, wohl aber die Tiefe, aus der heraus er selbstverständlich lebt und redet. Diese nun spricht uns mittelbar aus ihm dank einer Durchbildung der Persönlichkeit vom Kern bis zur äußersten Schale, die nicht bloß dem konfuzianischen Idealbild entspricht — die Weisheit müsse als Anmut in die Erscheinung treten —, sondern eben der Weltüberlegenheit, die ich zum Schluss der Frühjahrstagung schilderte. Tagore hat tatsächlich erreicht, was er erstrebt hat. Seine Transparenz ist heute so absolut, dass seine körperliche Schönheit und Anmut bei jeder Einzelheit die Seele zum Ausdruck bringt, dass er auch, wo er Oberflächliches verlautbart, nicht umhin kann, tief zu wirken. Es wirkt vielleicht gerade deshalb besonders tief, weil seine rein lyrische Natur mit Vorliebe in Empfindungen und Stimmungen verweilt, welche, an sich betrachtet, wenig geeignet sind, der Tiefe zum Ausdruck zu verhelfen. — Nun, als Sinnbild der Vollendung wurde der Inder hier behandelt; sein Besuch ebendeshalb in unseren Mitteilungen als Legende dargestellt. Viele haben das nicht verstanden. Aber die Gleichen verstehen auch nicht, was die Schule der Weisheit überhaupt will. Diese dachte gar nicht daran, sich mit Tagores besonderen Lehren zu identifizieren. Sie dachte auch nicht daran, den empirischen Menschen zu feiern: sie wollte zeigen, wieweit ein Mensch auf seinem besonderen Weg es bringen kann, sie wollte erreichter Vollendung zur äußersten Wirksamkeit verhelfen, sie wollte deren Sinnbild so einstellen, dass die Suggestion von ihm ausginge, welche die anderen am meisten fördern könnte. Man empfängt von einem andern genau nur so viel, wie man ihm zugesteht. Nur der eine Schiller hat bei Goethes Lebzeiten das von ihm gehabt, was alle Zeitgenossen von ihm gehabt hätten, wenn sie ihn so gesehen hätten, wie dies heute alle selbstverständlich tun.

Dank der Einstellung unserer Veranstaltung haben nun alle, die ihre inneren Hemmungen überwanden, von Tagore das empfangen, wonach spätere Jahrhunderte sich vergebens sehnen werden. So war das, was im Juni 1921 in Darmstadt vor sich ging, in der Tat kein gewöhnlicher Empfang, sondern Wesentlicheres: es war unter anderem ein Sinnbild der Überwindung des Schicksals. Die Nachwelt setzt sich durchaus nicht aus gescheiteren Menschen zusammen als die jeweilige Mitwelt: sie ist nur frei von persönlichen Motiven, zumal vom Neid. Deshalb muss ihrem Urteil schon anstandshalber vorgegriffen werden, wo immer echte Qualität in Frage steht. Und was die Summierung richtiger Urteile betrifft, die in der Zeit erfolgt, so kann nichts außer der Feigheit vorhandene Einsicht zwingen, jene abzuwarten, denn der Mensch steht als Lebendiger immer deutlicher da als der bestbeschriebene Tote. Dieses Beispiel der Überwindung der Eitelkeit, der Überwindung der Zeit hat die Schule der Weisheit damals gegeben, damit aber den Weg für Wichtigeres freigemacht. Rabindranath Tagore als Person geht nur sich selber an. Sein Dichtertalent nur die, deren Anlage seine Lyrik kongenial ist. Was aber schlechthin alle angeht, ist der Grad der Vollendung, welchen er erreicht hat, denn dessen Anblick kann die Entwicklung jedes beschleunigen. Indem nun die Schule der Weisheit allen Nachdruck auf dieses Sinnbildliche legte, schuf sie einen Menschen zum Gefäß des Übermenschlichen um und wies zugleich den Weg, auf die Menschen unmittelbar steigernd und erhebend, vertiefend und verwandelnd einzuwirken. So ward ihr der Besuch des Weisen aus dem Morgenland zum Weg zu ihrem eigenen Ziel.

1 Vgl. meinen Aufsatz Von der Grenze der Gemeinschaft im 3. Heft des Wegs zur Vollendung.
2 Vgl. hierzu Individuum und Zeitgeist in Philosophie als Kunst.
3 Vgl. hierzu den vorletzten Abschnitt des New-York-Kapitels meines Reisetagebuchs.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Dritter Zyklus:II. Der Weg
© 1998- Schule des Rades
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