Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Dritter Zyklus:III. Das Ziel

Jenseits der Gestaltung

Da der Sinn sich, wie wir gestern sahen, als Intention, als Einstellung, als Rhythmus durchsetzen kann, bevor er seinen vollendeten Ausdruck fand; da Fortschritt in Verinnerlichung allein besteht, deren Frage sich nur für Subjekte, nie für Objekte stellt, und das von einem Erreichte demgemäß für die anderen nur dadurch fruchtbar wird, dass diese jenes freiwillig als Sinnbild eigener Möglichkeit benutzen, so kann es der Schule der Weisheit um ein äußeres Ziel überhaupt nicht zu tun sein. Nicht das mindeste soll im üblichen Sinn bei ihr herauskommen. Hier gehe ich so weit, dass ich sage: käme je etwas für alle Greifbares bei ihr heraus, so wäre ihr Ziel als verfehlt zu betrachten. Eine Einstellung kann sich nicht anders wie als lebendiger Rhythmus fortpflanzen, und ein solcher erhält sich offenbar nur so lange, als er in Bewegung ist, als, metaphorisch gesprochen, die Musik nicht zur Architektur erstarrte. Auf reine Einstellung als solche hat sich vor uns noch keine Bewegung gegründet; dennoch steht die gesamte Geschichte für die Richtigkeit unserer Auffassung Gewähr, so selten ihr Buchstabe verstanden wurde. Jede endgültig erstarrte politische, soziale, kulturelle Gestaltung ist eben damit verstorben (S. 301). Umgekehrt war verfehlte oder vermiedene Festlegung in allen großen Fällen die Hauptursache uns begrenzten Fortwirkens. Der Mythos hat den wahren Sache verhalt von jeher richtig erfasst: Alle großen Erneuerer von Krishna, Osiris und Orpheus an bis zu Jesus, Mithras und Mani lässt er gewaltsam sterben, alle geringeren, wie Prometheus und Herakles, zum mindesten unglücklich enden.

Dies hat auf der Ebene des Metaphysischen gewiss den notwendigen Gegensatz des Ewigen zum Zeitlichen, des Lichts zur Finsternis zum Sinneshintergrund, der eine Spannung erzeugt, welche auf Erden gewöhnlich mit dem scheinbaren Sieg des Bösen endet (S. 227). Auf der Ebene der Geschichte indessen bedeutet es, dass nur deshalb, weil keine zeitliche Erfüllung stattfand, der Rhythmus lebendig blieb. Deshalb spiegelt die Geschichte aller echten Bahnbrecher, welche dem Schicksal nicht vorgriffen (was die taten, welche von vornherein eine bestimmte Lehre zu verkünden und eine bestimmte historische Rolle zu spielen ablehnten), das Bild des Mythos. Die ungeheuere, niemals aussetzende Wirkung des Sokrates beruht darauf, dass dieser sich einerseits niemals innerlich festlegte, wodurch seine Einstellung als solche auch historisch entscheidend blieb, andererseits vorzeitig für eine Überzeugung starb, deren Inhaltliches keiner je ganz verstand. So regte sein Beispiel, welches nur in seiner Ein- und Fragestellung eindeutig war, zu immer erneuten zeitgemäßen Deutungen an. Hätte Jesus mehr hinterlassen, als in den kurzen Evangelien zu lesen steht, wäre er sein eigener Kirchenvater geworden, die christliche Kirche wäre wahrscheinlich mit so vielen anderen schon vor dem Ende der Antike untergegangen. Die Juden bedeuten den bisher wirksamsten Sauerteig innerhalb des Menschen­geschlechts, weil die Spannung zwischen ihrer geglaubten Auserwähltheit durch Gott und ihrem empirischen Versagen noch nie eine Auslösung fand, wodurch ihr Ethos einen Rhythmus von unvergleichlicher Kraft entfalten konnte, welcher Rhythmus heute in der Energie der angelsächsischen Völker am stärksten in die Erscheinung tritt1.

Franz von Assisi wünschte seinem Orden keinen großen Erfolg; dieser sollte von vornherein nur als Ferment innerhalb der vielgestaltigen Christenheit wirken. Aber der reformatorische Impuls, den er persönlich verkörperte, ist erst dadurch zum wahrscheinlich stärksten und zeitlos wirksamsten von allen seither geworden, weil sein Orden schon bei seinen Lebzeiten zu einem anderen wurde, als er gewollt hatte, wodurch seine Persönlichkeit sich von vornherein wie von ewigem Licht umstrahlt vom Hintergrund auch dessen, was sich franziskanisch nennt, als Sinne und Vorbild abhob. Doch wohl das eindrucksvollste Beispiel dessen, was in allen großen Fällen wahr ist, bietet Konfuzius. Dieser ist als konservativster aller Menschen bekannt, und die meisten wähnen deshalb, er habe nichts anderes getan, als das in eine endgültig kodifizierte Form zu fassen, was ohnehin in China lebendig war. Die Dinge liegen ganz anders. Konfuzius lebte zu einer sehr ähnlichen Zeit, wie es die heutige ist. Die alte Kultur stand im Zeichen des Untergangs, das Chaos herrschte, bolschewistische Wellen rasten über das Reich der Mitte hin. Am Gegensatz zum erlebten Chaos verstand Konfuzius nun plötzlich die Bedeutung des alten Kosmos. Dadurch wurde ihm erneut lebendig, was für seine Zeitgenossen längst verstorben war. Dadurch gelang es ihm, den alten Buchstaben mit neuem Sinn zu beseelen. Doch das hätte noch nicht genügt, um Konfuzius zum Urbild, Halt und Kitt ganz Chinas für alle Folgezeit zu machen. Zu letzterem kam es, weil er äußerlich erfolglos blieb. Er ambitionierte freilich äußere Machtstellung; sein Traum war zweifelsohne, seine Erkenntnisse in dauernde Einrichtungen umzusetzen, denn er war, wie gesagt, ein extrem konservativ gesinnter Mann, beinahe krankhaft neuerungsfeindlich. Ein Jahr lang ungefähr regierte er auch als Minister eines kleinen Staats. Dann aber wurde er gestürzt, in die Verbannung getrieben; sein Leben musste er unstet wandernd beschließen. Und es war sein Glück, dass er also aus der Zeitlichkeit herausgerissen wurde, denn eben dadurch blieben seine besondere Einstellung und sein Rhythmus lebendig, eben dadurch blieb die äußerlich starre Lehre seiner Schriften mit einer Aura von Sehnsucht umgeben; ebendeshalb hat der kanonische Buchstabe trotz seiner konservativen Absicht als Bewegtheit fortgewirkt und China bis zum heutigen Tage weiter befruchtet.

Die Bewegtheit und der Rhythmus sind eben das endgültig Wichtige, nicht das Vorläufige, wie die meisten wähnen, die dann ganz folgerichtig nach bestimmten Lehren und Zielen ausschauen, deren Verwirklichung über die Bedeutung entscheiden soll. Sie sind es, mehr als in jedem früheren, in unserem Fall, weil wir uns von vornherein auf die Grundtöne und nicht die Melodien, auf den Sinn und nicht den Buchstaben eingestellt haben. Der Sinn ist niemals ein Bestimmt-lnhaltliches, kann es nicht sein; er ist das Lebensprinzip der gegebenen Gestaltung und ebendeshalb auf der Ebene der Erscheinung niemals festzulegen. Jedesmal, wo ich wieder darum gebeten werde, was ich will, in Form eines festen Programms, womöglich in zwei Worten, zu bestimmen, muss ich des Katers in einem Roman von Anatole France gedenken, der gegenüber seinem philosophierenden Herrn die Köchin preist:

Si celle-là dit un mot (so heißt es da ungefähr), cela veut dire une omelette, une fessée, enfin des choses.

Die meisten können nur des choses verstehen. Ebendeshalb wähnen sie ihren echten Vertiefungstrieb durch den Glauben an neue sachliche Offenbarungen, wie die Anthroposophie solche bringt, zu befriedigen. Das Wesentliche liegt aber, wie ich seinerzeit am Beispiel der indischen Weisheit auseinandersetzte (S. 209 ff.), immer und notwendig im Jenseits der Gestaltung, und ein innerer Fortschritt findet genau nur insoweit statt, als es zu diesem Jenseits in tiefere Beziehung zu treten gelingt. Selbstverständlich äußert sich jeder Rhythmus in jedem konkreten Fall durch eine bestimmte Melodie hindurch. Aber sofern er sich in ihr erschöpft, ist er auch sterblich. Was ich sage, sage ich gleichfalls als bestimmte Person — aber der missversteht mich gründlich, welcher deren unvermeidliche Beschränkung als wesentlich auffasst. Keiner wird mich je, solang meines Geistes Kraft mich nicht verlässt, auf bestimmte Ansichten festlegen können — so Gott will, wird es mir immer rechtzeitig gelingen, solchem Verhängnis durch die erforderlichen Widersprüche vorzubeugen. Je mehr ein Schüler darauf dringt, meine genaue persönliche Meinung zu erfahren, desto paradoxer drücke ich mich aus, so dass er im Grenzfall, wo er Erlösung und Frieden suchte, in an Verzweiflung grenzende Unruhe gerät. Eben dies beabsichtige ich: wer immer den Menschen helfen will, bringt nicht den Frieden, sondern das Schwert. Nur meine Einstellung, mein Rhythmus, gehen die andern an. Ihre besonderen Gedanken müssen sie selber denken, nachdem die Beunruhigung, die ich ihnen einflößte, das Kristallisierte zerbrochen und den Organismus umgestellt hat. Und ebensowenig wie meine Person meinen Schülern letzte Instanz sein darf, ebensowenig sind sie es für mich. Allerdings versenke ich mich in ihre Eigenart, aber nur dazu, um ihr Wesen zu erreichen, dieses richtig einzustellen und ihnen den rechten Rhythmus mitzuteilen, auf dass er dann fortschwinge. Nur auf die Übertragung des Rhythmus kann es der Schule der Weisheit ankommen, deshalb missversteht diese, nebenbei bemerkt, keiner mehr, als wer eine Heilanstalt oder Seelsorgeamt in ihr erblickt.

Selbstverständlich kommt es gerade letztlich auf jeden einzelnen an; das Christentum spricht mit seiner Lehre vom unendlichen Wert der Menschenseele durchaus wahr. Wer aber historisch wirken will, der muss als Feldherr denken. Soll ein Impuls in die Welt gesetzt werden, welcher allen zugute kommt, dann muss er es von solcher Einstellung aus, welche die weiteste Fernwirkung ermöglicht. Und wesentliche Menschen wollen auch nie persönliche Befriedigung finden sie wollen nur fortwirken, so dass die Schule der Weisheit solchen nichts schuldig bleibt. Einstellung und Rhythmus, nicht deren jeweilige Verkörperung, sind eben das Eigentliche, das Erste und das Letzte. Wohl lässt sich der letzte Ausdruck einer Wahrheit denken — es wäre der zeitlich letzte vor dem Erduntergang —, ein endgültiger niemals, denn der Ausdruck wird par définition durch die jeweiligen empirischen Verhältnisse bedingt, und der Sinn kann bei genügender Vertiefung durch jeden hindurch verstanden werden, davon ganz abgesehen, dass keiner als letzter gelten darf, dass jeder erkannte und entsprechend ausgedrückte auf tiefere zurückweist, welche nun ihrerseits nach irdischem Ausdruck streben.

Das unerreichte empirische Ziel war es also von jeher, welches fruchtbar gewirkt hat. Was den Impuls der Schule der Weisheit nun von allen früheren auszeichnet, ist hier wie überall der Umstand, dass er sich der Wahrheit bewusst ist, den Sinn vorwegnimmt und demzufolge das Schicksal überwindet. Sie zentriert sich von vornherein in dem, was allein sich im Wandel der Zeiten behaupten kann. Sie nennt sich Schule, aber nichts perhorresziert sie mehr, wie im üblichen Sinne Schule zu machen. Nichts widerspräche ihrem Sinne schreiender als das Entstehen einer buchstabengläubigen Jüngerschaft. Zu nichts reicht sie weniger die Hand als zur Bildung einer Gemeinschaft im üblichen äußerlichen Verstand. Sie wird sich nie auf eine bestimmte Lehre letztinstanzlich festlegen. Sie vertritt jeweilig das, was nottut für die gegebene lebendige Situation, bald das Letzte, bald aber das Allervorläufigste, sie vertritt umschichtig sich geradezu Widersprechendes, denn, was sie meint, liegt jenseits aller Buchstaben. Gerade die Selbstvervollkommnung lehrt und betreibt sie auf kein ein für allemal bestimmtes Ziel hin (obschon sie jedem einzelnen freilich ein jeweilig begrenztes Ziel setzt), weil ein letztes überhaupt nicht abzusehen ist: jedes Erreichte wird zur Etappe auf dem Weg zu höherem. Charakter aber bildet sie just von der Voraussetzung aus, dass innere Festlegung der Freiheit und folglich Würde des Menschen widerstreitet (S. 392). Eben damit nun überwindet sie von vornherein ihren eigenen möglichen Tod. Sie nimmt alle nur mögliche spätere Fortbildung und Verbildung im Geist vorweg und stellt sich über sie. Sie nimmt alle nur mögliche Zersplitterung vorweg und alle nur mögliche Feindschaft. Feindschaft ist selbstverständlich, wo immer eine Gestaltung die andere im Leben bedroht und deren Seele nicht über ihr steht. Sie ist auch vollberechtigt, denn keinem Wesen kann zugemutet werden, aus theoretischen Erwägungen sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben.

Der Schule der Weisheit nun sind Freundschaft und Feindschaft genau gleich viel wert, denn sie will eine Bewegung einleiten, und ob diese nun mit positivem oder negativem Vorzeichen zu ihr selbst verläuft, darauf kommt es ihr nicht an. Aber wenn ihr Freundschaft und Feindschaft gleich gelten, so steht sie der sogenannten Konkurrenz rein wohlwollend gegenüber. Möchten doch recht viele Gestaltungen gleicher Einstellung entstehen: so wird sich diese, auf die allein es uns ankommt, am schnellsten durchsetzen, und deren jeweilig günstigste Verkörperung sich am ehesten als solche erweisen. Genau so bewillkommne ich jeden anderen Sinnesphilosophen. Ich stehe in meiner Einstellung als Denker durchaus nicht einzig da und freue mich dessen, denn wäre letzteres der Fall, so könnte ich befürchten, ein Exzentriker zu sein2. Gewiss hat niemand ein Recht zur Behauptung, Gleiches darzustellen, wie die Schule der Weisheit tut, der nur eine Anstalt gleicher sachlicher Bestimmtheit gründet; es muss ein gleichsinnig eingestellter Mensch da sein, welcher sie leitet. Solcher aber kann es von unserem Standpunkt nie genug geben. Jeder, der das Darmstädter Zentrum besuchte, soll es ja als schlechthin selbständiger Mensch verlassen, er soll ein neues souveränes Zentrum werden, welches sonnenartig strahlt. Er soll das tun, was ihm persönlich, nicht mir, gemäß ist, zu seinem Kreise sprechen. Und sollte das Zentrum eines anderen einmal dem Sinn dessen, was wir in Darmstadt wollen, besser entsprechen als unser eigenes, so werden wir die ersten sein, es in seinem Werte freudig anzuerkennen. Noch einmal: die Schule der Weisheit nimmt alle nur mögliche empirische Wandlung im Geist vorweg und überwindet damit jedes nur mögliche Schicksal.

1 Vgl. Leo Baecks Wesen des Judentums (Frankfurt a. M. 1922, I. Kaufmann) und meine Besprechung dieses Buchs im 4. Heft des Wegs zur Vollendung.
2 Vgl. hierzu meine Betrachtungen über Flake und Feldkeller in der Bücherschau des 3. Hefts des Wegs zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Dritter Zyklus:III. Das Ziel
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