Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

III. Harmonices Mundi

Wissenschaftliche Betrachtungsmöglichkeiten

Vergleichen wir aber jetzt die pythagoräischen Zahlentheorien, soweit sie uns überliefert sind1, mit den modernen, freilich auf ganz anderem Wege gewonnenen Vorstellungen, so stoßen wir auf eine überraschende Übereinstimmung! Die aus dem Timaeus bekannte platonische Tetraktys, welche der große Grieche dem Demiurg als Vorschrift zur Bildung der Weltskala angab, sie ist Wyneken bei seinen empirischen Untersuchungen wieder begegnet2; die Zahlenverhältnisse, welche Goldschmidt, Zeising, Fechner und alle die anderen, die sich auf empirischen Wegen um die Rhythmik des Geschehens in Natur und Kunst bemüht haben, ans Licht gebracht, sie spiegeln die pythagoräischen Forderungen im wesentlichen wieder. Diese Übereinstimmung ist höchst auffallend; wenn die Empirie und das spontane Schönheitsbedürfnis sich in den Ergebnissen begegnen, dann kann es sich unmöglich um einen Zufall handeln.

Und doch — diese ganze Zahlenlehre hat etwas Zauberhaftes, durchaus Unwahrscheinliches an sich. Warum sollten gewisse Zahlen — herausgegriffen aus der unendlichen Reihe der möglichen — einen Vorzug genießen? Warum überhaupt Zahlen? — Selbst wenn man an die Einheit der Gesetze des Universums glaubt, wenn man die kosmische Bedeutung der Mathematik zugibt: einen plausiblen Grund hierfür vermögen wir nicht zu entdecken, eine Erklärung, die das Erstaunliche verständlich machte.

Pourquoi ma connaissance est-elle bornée? so fragte Pascal3, ma taille? Ma durée à cent ans plutôt que mille? Quelle raison a eu la nature de me la donner telle, et de choisir ce nombre plutôt qu’un autre dans l’infinité, desquels il n’y a pas plus de raison de choisir l’un que l’autre, rien ne tentant l’un plus que l’autre?

So spricht nicht nur ein großer Mathematiker, so spricht der Mathematiker. Für ihn hat die Frage nach der Bedeutung einzelner Zahlen nicht den geringsten Sinn; er operiert mit ihrer unendlichen Reihe, den Gesetzen, welche sie beherrschen, den Möglichkeiten, die sie bedingen. Jede einzelne Zahl ist für ihn als Spezialfall unter Milliarden ohne das mindeste Interesse — kann sie doch in der Formel durch jede andere ersetzt werden! Und selbst wenn es sich um spezielle Verhältnisse handelt, wie es diejenigen sind, welche das natürliche Geschehen ihm darbietet, so interessiert sich der Mathematiker doch nur für das Bildungsgesetz, das in seiner Allgemeinheit alle nur möglichen Zahlenverhältnisse umschließt, und vermag schlechterdings nicht einzusehen, warum kleinen Zahlen4 z. B. eine größere Bedeutung zukommen soll als großen. Allgemein gesprochen: die Mathematik kann sich ihrem Wesen nach nur für das oberste Gesetz interessieren, aus welchem sich die Einzelfälle entwickeln. In der Natur läge die Sache, nebenbei bemerkt, für einen unendlichen Geist, dessen Gehirn das Zentrum der Welt umschlösse, gerade ebenso: er kennte das oberste Gesetz und brauchte sich um die Einzelfälle nicht zu kümmern. Uns Menschen ist das versagt; wir müssen Einzelfälle vergleichen, um aus ihnen das oberste Gesetz zu erschließen, wir können nur empirisch-tastend, nicht apriorisch-bestimmend verfahren.

Und dennoch steht gerade der reine Empiriker den Zahlengesetzen völlig ratlos und daher begreiflicherweise auch sehr skeptisch gegenüber: gewiss ist es die Erfahrung und nur sie, welche uns die in der Natur herrschenden Verhältnisse eröffnet; aber die erfahrungsmäßig gefundenen Relationen sind spezielle, nicht allgemeine, die Naturgesetze des Physikers keine Zahlengesetze. Hier handelt es sich um genaueste Beobachtung, und die empirisch gefundenen Planetenabstände, die Tonintervalle, die Kristallflächenwinkel oder die Gestaltproportionen der Organismen haben miteinander gar nichts Gemeinsames. Ein so weitblickender Geist wie Alexander von Humboldt schreibt in bezug auf die Astronomie, welche zu seiner Zeit den Haupttummelplatz rhythmischer Aspirationen bedeutete, in seinem Kosmos:

Das Planetensystem in seinen Verhältnissen von absoluter Größe und relativer Außenstellung, von Dichtigkeit und Rotationszeit und verschiedenen Graden der Exzentrizität der Bahnen hat für uns (Humboldt meint die Naturforscher) nicht mehr Naturnotwendiges als das Maß der Verteilung von Wasser und Land auf unserem Erdkörper, als der Umriss der Kontinente oder die Höhe der Bergketten. Kein allgemeines Gesetz ist in dieser Hinsicht in den Himmelsräumen oder in den Unebenheiten der Erdrinde aufzufinden: Es sind Tatsachen der Natur, hervorgegangen aus dem Konflikt vielfacher, einst unter unbekannten Bedingungen wirkender Kräfte.

Der nicht minder große Lord Kelvin schreibt: No relation exists between harmony of colours and harmony of sounds, und ein gewissenhafter Zoolog würde laut auflachen, wollte jemand ihm die Wesensverwandtschaft der organischen Gestaltungsgesetze mit den Kristallbildungsregeln weismachen; denn die Beobachtung — und sie ist für den Empiriker die einzige Autorität — verrät nichts dergleichen. Es kann auch nicht anders sein; selbst die allgemeinsten Gesetze, die der Naturforscher entdeckt, wie etwa die Fallgesetze, sind vom kosmischen Standpunkte aus Spezialfälle, sie allein aber sind der Empirie unmittelbar zugänglich. Darum lässt sich eine höhere Einheit aus ihrem Gesichtswinkel unmöglich erfassen, und da eine solche, wie wir sehen werden, stets nur durch mehr oder minder gewaltsame Umformung der empirischen Daten darzustellen ist, so ist es dem exakten Forscher nicht zu verdenken, wenn er alle derartigen Versuche, als unwissenschaftlich, von vornherein abweist.

Ich will gleich hinzufügen, dass er damit auch vollständig in seinem Rechte ist: in sein Bereich fällt die Rhythmik nicht. Unrecht hat er nur, wenn er ihr deswegen die Existenz streitig machen will. Hier gilt es völlig klar zu sehen; die Grenzen der verschiedenen Betrachtungsarten sind heutzutage nicht allgemein bewusst; nur selten werden sie eingehalten, und darum dürfte es zweckmäßig sein, etwas näher auf diese Frage einzugehen, die für unsere Untersuchungen von Wichtigkeit ist. Denn Kant hat recht, wenn er meint, es sei eine Verunstaltung der Wissenschaft, wenn man die Grenzen ihrer verschiedenen Zweige ineinanderlaufen lasse — recht im Gegensatz zu den modernen Naturphilosophen, welche denselben Ausspruch als Argument gegen Kants Einsicht anzuführen belieben.

Jede Spezialbetätigung regt den Menschengeist unbewusst dazu an, sein Gebiet und dessen Bedeutung für die Gesamtheit zu überschätzen; das innerhalb gewisser Grenzen Richtige soll auch jenseits derselben zutreffen — der gewohnte Fehler jeder verallgemeinerten Induktion. Sucht ein Physiker — wie etwa Zöllner oder heutzutage Sir Oliver Lodge — die Einheit des Universums zu begreifen, so sind es begreiflicherweise physikalische Gesichtspunkte, die er in die anderen Wissensgebiete hineinträgt, in der festen Überzeugung, dass sie auch dort die weiteste Aussicht gewähren; und machen dann die Chemiker oder die Biologen — wie es nicht anders sein kann — energisch dagegen Front, so fällt es ihm schwer, die Berechtigung dieses Widerstandes einzusehen. Die Energetik bedeutet den allgemeinsten Gesichtspunkt, den die qualitative, die chemische Weltbetrachtung gewähren kann; aber ihre Jünger, die sie auf die Physik und die Gesamtheit des Naturgeschehens anzuwenden streben — wie Ostwald und seine Schüler —, werden früher oder später erfahren müssen, dass sie dort völlig unzulänglich erscheint. Und wagt es gar ein Biolog — wie etwa Reinke oder der biologisch stark beeinflusste Astronom Flammarion —, seine aus der Biologie gewonnene Überzeugung, dass das Leben ohne Zweckbegriff, ohne Dominanten, welche dem chaotischen Getriebe von Kraft und Stoff die Richtung geben, nicht zu begreifen sei, auf die anorganische Natur zu übertragen, sucht er gar eine kosmische, der Welt transzendent gegenüberstehende Intelligenz nachzuweisen, so kann er des Spottes der gesamten empiristischen Wissenschaft gewiss sein. Der wahrhaft denkende Naturforscher kann hieraus nur den einen Schluss ziehen, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Wissenszweigen nicht überbrückbar sind, und dass darum eine einheitliche und zugleich streng wissenschaftliche Weltanschauung — zurzeit wenigstens — unmöglich ist. Dieser Schluss ist unabweisbar; Ernst Machs Ausspruch:

Es ist höchste Philosophie des Naturforschers, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden, vorzuziehen5 —

diesen Ausspruch sollte sich jeder Empiriker, solange er seinen Standpunkt nicht verlässt, ernstlich zu Gemüte führen.

Diese Erkenntnis gewannen wir bereits im ersten Kapitel — wenn auch in anderer Form; wir sahen, dass eine einheitliche Weltanschauung auf empirischer Basis einen Widersinn einschließt, weil Weltanschauung ihrem Wesen nach einen höheren Standpunkt erfordert, der alle einzelnen Gesichtspunkte, welche die exakten Wissenschaften darbieten, überragt. Aus demselben Gründe kann die Empirie mit den einheitlichen rhythmischen Gesetzen nichts anfangen — sie liegen offenbar auf einem anderen Niveau; soviel sehen wir schon jetzt ein. Aber auf welchem? Nicht nur die Empirie, auch die Mathematik steht ihnen, wie wir sahen, ratlos gegenüber! Was nun? War das Ergebnis der beiden ersten Kapitel nicht gerade dieses, dass die Mathematik allein imstande sei, uns über den einheitlichen Zusammenhang des Weltgeschehens Aufschluss zu gewähren? — Wir sind aus den Möglichkeiten der Mathematik in die Wirklichkeiten der Natur hinabgestiegen, aus dem Unendlichen ins Endliche, aus der Algebra gleichsam in die Arithmetik! Ob unsere formale Betrachtungsart auch den Tatsachen standhalten mag?

Wir stehen vor einer Prinzipienfrage; da von ihrer Lösung der Wert oder Unwert unserer ganzen Betrachtungsart abhängt, so muss ich etwas weiter ausholen; hier darf nichts dunkel oder missverständlich bleiben.

Dass es überhaupt möglich ist, von einem philosophischen Gesichtspunkte aus und dabei doch völlig exakt — gerade so exakt, wie es in den Erfahrungswissenschaften der Fall ist — die Natur zu betrachten, das hat Kant durch seine metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft als erster bewiesen. Kant zeigt in diesem Werk, dass es Begriffe gibt, welche, obwohl nicht der Erfahrung entstammend, dennoch zur Erfahrung unbedingt erforderlich sind — welche also (in Kants Sprache) aller Erfahrung vorangehen, a priori sind. Dazu gehören z. B. die Begriffe der Materie, der Trägheit, der Undurchdringlichkeit — ja sogar der Gravitation6. Selbstverständlich betrifft dieses Vorangehen kein zeitliches oder genetisches, sondern nur ein begriffliches Verhältnis; der Begriff der Materie ist nicht da, bevor ich die Außenwelt wahrnehme, sondern: im Augenblicke der Apperzeption reiht sich das Wahrgenommene in das menschliche Verstandesschema ein, wodurch Einheit der Erfahrung gegenüber der Mannigfaltigkeit des Wahrgenommenen möglich wird. Wahrnehmen würden wir die Natur auch ohne jene Begriffe, aber unmöglich verstehen. Die Scheidung, welche Kant hiermit innerhalb des Erfahrungszusammenhanges vornimmt, hat nun freilich keine reale Bedeutung, aber sie ist zur Erkenntnis notwendig: die Kombination von Ich und Außenwelt, Denkformen und -inhalt bildet gewiss einen einheitlichen Zusammenhang; der Mensch ist aber gezwungen, jede Seite dieses Zusammenhanges gesondert zu betrachten, so dass er, den transzendentalen Bedingungen der Erfahrung nachforschend, der Erfahrung selbst den Rücken kehren muss. Aus diesem Grunde kann keine Empirie die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft je widerlegen; sie sind das Bild der Natur bei transzendentaler Fragestellung, aus dem Vordergrunde — der menschlichen Erkenntnisart — allein erschlossen. Somit gibt es eine rein-philosophische Betrachtungsmöglichkeit der Natur, welche für sich feststeht, ohne je befürchten zu müssen, dass ihr Gebiet ihr durch die exakte Forschung — wozu die Versuche freilich nie gefehlt haben — streitig gemacht werden könnte. —

Nun gibt es aber außer der Transzendentalphilosophie und der Empirie, der Physik noch einen möglichen Gesichtspunkt, welcher zwischen den genannten genau die Mitte einhält: es ist derjenige, welchen Kant als den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik bezeichnet, ein Grenzstandpunkt.

Der Übergang, sagt der große Königsberger, besteht darin, zuerst das Subjektive der Wahrnehmung in das Objektive der Erscheinung des Gegenstandes der Sinne zu verändern, zweitens die Form der empirischen Anschauung a priori in einem Verhältnis auf das System der Wahrnehmungen zum Behuf der Erfahrung überhaupt nach Gesetzen der bewegenden Kräfte sich selbst darzustellen.

Es handelt sich bei dieser Umdeutung offenbar um nichts als einen Standpunktwechsel. Die Gegenstände der Erfahrung bilden das Objektive der Naturwissenschaft — hiervon handelt die Physik; die Erfahrung von den Gegenständen ist das Subjektive der Naturwissenschaft — das ist das Bereich der Erkenntniskritik. Es ist aber möglich, auch den Zusammenhang beider, das Grenzgebiet, einheitlich zu betrachten; denn, wie Kant sagt,

die agitierenden Kräfte der Materie sind, weil auch unsere Sinneswerkzeuge material sind, Gegenstände sowohl als auch Ursachen möglicher Erfahrung.

Dass sich von diesem Gesichtspunkte aus ein völlig selbständiges Weltbild gewinnen lässt, möge ein banales, aber um so schlagenderes Beispiel verdeutlichen: ich betrachte einen Stuhl; der rohe Realist oder der um Philosophie unbekümmerte Empiriker sieht in ihm eine objektive Realität, a hard fact — und vom Standpunkte der Empirie hat er Recht. Der Transzendentalphilosoph eine Erscheinung, durch die Formen der Anschauung gestaltet — gleichviel, was der Stuhl an sich sein mag. Vom Standpunkte des Überganges erkenne ich nur den gesetzmäßigen Zusammenhang, nach welchem mir der Stuhl vor Augen tritt, sobald ich hinblicke. Die Frage, ob der Stuhl an sich etwas ist oder von meinen Erkenntnisformen abhängt, bleibt ungestellt; ich berühre hier nur die gesetzmäßige Beziehung zwischen Ich und Außenwelt.

Kant hat diese Betrachtungsart nicht mehr ausarbeiten können: im ersten Kapitel sahen wir, dass der Begriff des Äthers dem Grenzgebiete entstammt, dass die Lehre von den bewegenden Kräften der Natur, welche weder von der Physik noch auch der Metaphysik allein erschöpft werden kann, zum Übergange gehört. Das System an sich kümmert uns für unsere Zwecke nicht; uns genügt die Erkenntnis, dass es drei wissenschaftliche Betrachtungsmöglichkeiten der Natur gibt. Der Übersicht halber will ich sie einmal in Form eines Schemas zusammenstellen, dessen Wortlaut ich, der Hauptsache nach, Kant entnehme:

  1. Transzendentalphilosophie: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft.
    Transzendentale Fragestellung: der Begriff der Materie;
    z. B. die Materie als das Bewegliche im Raume.
  2. Übergang: Allgemeine Kräftelehre, welche auf empirischen Prinzipien (als das Materiale) ruht, deren Verbindung aber (mithin das Formale) a priori begründet ist.
    Synthetisch-empirische Fragestellung:
    z. B. die bewegenden Kräfte im Raume.
  3. Empirie: Physik als Beziehung jener Kräftelehre auf ein dadurch mögliches System.
    Analytisch-empirische Fragestellung:
    z. B. die Gesetze der Bewegung im Raume.

Wir erkennen zunächst, dass die verschiedenen Disziplinen ich nicht durch ihr Substrat unterscheiden, sondern nur durch den Gesichtspunkt, welchen wir demselben Objekt gegenüber einnehmen: das Gebiet ist in allen drei Fällen die Natur; aber jeder Standpunkt betrachtet sie von einer anderen Seite, oder besser, von einem anderen Niveau aus: die Erkenntniskritik behandelt das Erkennen der Natur; hier ist also das Erkennen des Objektes Objekt der Erkenntnis — die Form abgesehen vom Inhalt; die Physik hat die Natur zum Gegenstand, unbekümmert um die subjektiven Bedingungen ihrer Erfahrung — also das Materiale, abgesehen vom Formalen. Der Übergang endlich umfasst das Grenzgebiet, durch welches der Menschengeist mit der Natur zusammenhängt, und studiert diesen Zusammenhang selbst, ohne Subjekt und Objekt, Form und Inhalt zu scheiden. Alle drei Standpunkte sind gleichberechtigt; weder widersprechen sie sich, noch schließen sie ich aus, wie die Antimetaphysiker meinen, welche häufig, ohne es zu ahnen, das Grenzgebiet betreten, und dann behaupten, sie befänden sich auf der einzig möglichen geographischen Breite7 — aber sie ergänzen sich; sie bilden eine stetige Reihe. Jeder Standpunkt gewährt eine andere Aussicht. Frage ich mit der Physik nach den Gesetzen der Bewegung, so bleibt das Wesen der bewegenden Kräfte völlig außerhalb der Fragestellung; so geht es mich z. B., wenn ich die Lichtgeschwindigkeit berechne, radikal nichts an, ob es einen Äther, gibt oder nicht. Betrachte ich dagegen mit der Transzendentalphilosophie die Materie als das Bewegliche im Raume, so kümmere ich mich in dem Augenblicke nicht darum, wodurch sie bewegt wird, noch wie die Bewegung verlaufen möge. Darum lässt sich aber von einem an sich völlig berechtigten Standpunkte aus — dem empirischen z. B. — nichts über die Gebiete der anderen Standpunkte aussagen. Der Physiker darf dem Philosophen nicht ins Handwerk pfuschen, noch ist das Umgekehrte möglich. Halten wir diese grundlegende Erkenntnis fest, gegen welche sich fast die gesamte Philosophie und Naturforschung des 19. Jahrhunderts versündigt hat: es gibt drei selbständige Betrachtungsmöglichkeiten der Außenwelt; alle haben dasselbe Objekt — die Natur —, aber jede Fragestellung erheischt eine grundverschiedene Antwort, so zwar, dass die Antwortgebiete scharf voneinander geschieden sind. Keines greift in das andere über, jedes hat seine eigenen Gesetze, und jeder Versuch, von einem Gebiete aus das andere zu beurteilen, bedeutet einen ungeheuren Denkfehler.

1 Vgl. Chaignet II, - 6.
2 l. c. 191.
3 Pensées XVII. Connaissance générale de l’homme, fin.
4 Das ist Tatsache und schon seit lange bekannt, z. B. bei den Kristallen. Wyneken hat (l. c. 152) ein regelrechtes Prinzip der kleinen Zahlen aufgestellt und manchen interessanten Ausblick darüber eröffnet. So läge der Vorzug kleiner Zahlen unter anderem darin, dass sie die beziehungsreichsten sind, was morphologisch von größter Wichtigkeit ist.
5 Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 4. Aufl. P. 494.
6 Vgl. l. c. Lehrsatz 5, siehe auch das vorliegende Werk p. 118 ff.
7 Das Bleibende und Wertvolle der antimetaphysischen Weltanschauung liegt gerade in dem Grenzstandpunkte, den ihre Hauptvertreter, Mach und Avenarius, einnehmen. Wenn Mach schreibt (Analyse der Empfindungen, 3. Aufl., p. 23):
die Welt samt meinem Ich erscheint mir als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend,

so ist das — abgesehen vom nicht sehr glücklichen Ausdruck — die Hauptthese des Übergangs. Und eben dahin zielt Avenarius’ natürlicher Weltbegriff, obwohl diese Weltanschauung, die man gut als Philosophie mit Rücksicht auf den Nachbarn bezeichnen könnte und die sich zu derjenigen E. Machs etwa so verhält, wie die Politik zur Ethik, schwerlich fruchtbar sein wird. Die Antimetaphysiker haben auch darin recht, dass sie ihre Weltauffassung für die natürliche erklären; denn der Mensch selbst, in seinem Sein und Leben, bezeichnet die Grenze zwischen Physik und Metaphysik, daher ist der Grenzstandpunkt der nächstliegende. Nur ist er nicht der einzige; es ist zu beklagen, dass der gewöhnliche Fehler aller Philosophen, die Einseitigkeit, auch den klaren Blick eines Mannes wie Mach umnachtet hat. Anstatt zu erkennen, dass er zwischen Kants Philosophie und der Empirie vermittelt, hat er alle seine Waffen gegen jene gerichtet, und dadurch niemand anders als sich selbst geschadet.

Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME