Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

III. Harmonices Mundi

Harmonie der Sphären

Wir sind bei unserer ursprünglichen Antithese von Subjektiv und Objektiv wieder angelangt. Wieder handelt es sich um den Gegensatz von Qualitäten und Quantitäten, von Werten und Zahlen. Da gewahren wir zunächst folgende Betrachtungsmöglichkeit: Sollten die Wertungen der Ästhetik sich zu den Rhythmen ebenso verhalten, wie Sinnesempfindungen zu den physikalischen Verhältnissen? Sollten die Werte subjektiv in demselben Sinne Grenzen markieren, wie die Farben- oder Tonintervalle mit den ihnen korrespondierenden Gefühlsbetonungen? — Diese Frage ist seitens vieler Autoren bereits in dem Sinne aufgeworfen worden, ob nur dasjenige ästhetisch gefallen könne, was ganz bestimmten (durch Forschung zu ermittelnden) objektiven Verhältnissen entspricht, welche vielleicht bei Natur und Kunst die gleichen sind, dass also das ästhetische Gefallen an objektive Schranken gebunden sei? — Diese Ansicht ist unhaltbar; vor allem schon deswegen, weil das Gefallen durchaus kein objektives Kriterium abgibt1; de gustibus non est disputandum: wie viele unsterbliche Kunstwerke sind nicht von zweifellos kunstsinnigen Richtern verhöhnt worden, bis eine späte Zeit erst sie an den ihnen gebührenden Platz stellte? Sind nicht alle Rhythmiker gegen die bedeutendsten Schöpfungen ungerecht gewesen, weil sie die geforderte Gesetzmäßigkeit in ihnen nicht zu entdecken vermochten und ihr persönliches Schönheitsbedürfnis gewisse, an sich vielleicht sublime Kunstrichtungen ausschloss? — Der Fehler liegt, wie stets, in der Problemstellung: die Schönheit ist eine Idee, keine Tatsache; sie kann objektiv nie begriffen, in der Erscheinung nie nachgewiesen werden; bei der angeführten Fragestellung wird sie als objektiv bestehend betrachtet; als ein Faktum oder eine Norm, die ebenso universelle Gültigkeit besitzt, wie etwa der pythagoräische Lehrsatz. Soviel steht aber heute fest — trotz Schopenhauer, der die Freude an der Kunst als willenloses Erkennen erklärte, trotz aller derjenigen, welche das Uneigennützige am ästhetischen Wohlgefallen besonders betont wissen wollen: dass uns nur dasjenige gefällt und erhebt, was eine Steigerung des Lebensgefühls, der Lebensimpulse — also einen positiven Genuss — in uns bewirkt; und dass nur dasjenige diese Wirkung ausüben kann, was uns gemäß ist, was den Gesetzen des Lebens und im Besonderen der jeweiligen Individualität entspricht, wodurch sich das vermeintlich Objektive als ein durchwegs persönlich Bedingtes, also Subjektives, herausstellt. Das Absolut-Schöne oder das Schöne an sich ist eine rationalistische Wahnidee, ein Aberglauben; das Ideal der Schönheit zwar ein schönes Ideal, aber eben darum keine Realität. Hier haben auch Psychologen viel Beherzigenswertes zutage gefördert; ich will nur an Ernst Machs scharfsinnige Untersuchungen erinnern, in welchen dargetan wird, dass diejenigen Symmetrieverhältnisse dem Menschen am Leichtesten und Besten gefallen, welche seinen Körper beherrschen — z. B. die bilaterale Symmetrie —, und zwar gerade wegen dieser Übereinstimmung2. Stets hängt der ästhetische Genuss von der Kongruenz in gesetzlicher Hinsicht zwischen Kunstwerk und Beschauer ab — sei es im allgemeinen Sinne der Zweckmäßigkeit (vgl. Kant l. c.) oder im streng individuellen Verstande. Und wenn die Schönheitsbegriffe oder die Schönheitstypen von Volk zu Volk und von Epoche zu Epoche so durchaus verschieden sind, so liegt das an dem gleichen Grunde: die Venus von Milo regt beim Chinesen nichts Verwandtes an, sie vermag ihn nicht zu fördern. Ja empfängt nicht auch jeder Europäer einen verschiedenen Eindruck von jenem unsterblichen Bildwerk? — Nur die allerweiteste Individualität, der Mensch, der nach Schillers Ausdruck in seinem Ich die Menschheit umschlösse, nur dessen Gefallen und Schönheitsgefühl dürfte als objektiv gelten. Vom Standpunkt des Gefallens an sich ist keine Ästhetik möglich.

Die Verkennung dieses Umstandes bedeutet den Fehler aller bisherigen Kunsttheorie, welche den subjektiven und objektiven Verhältnissen zugleich gerecht werden wollte. Und der Gedanke liegt doch so nahe! — Die Ethik ist von je vom Handeln, vom Willensentschlusse, nicht vom Leiden, von der Resignation ausgegangen; hier erschiene es widersinnig, das Passive voranzustellen. Die Ästhetik hat es immer umgekehrt gemacht; sie hat vom Genießen, nicht vom Schaffen aus argumentiert, und erst in jüngster Zeit — ich verweise nur auf Adolf Hildebrand3 — scheint eine andere Richtung langsam aufzukommen. Sollte aber die Ästhetik von der Basis des Empfangenden nicht gerade so widersinnig sein, wie die Ethik, die das Leiden zur Voraussetzung nimmt? — Die Kunst kennt keine anderen Gesetze als diejenigen, nach welchen sie schafft — da liegt es doch sicherlich näher, sie selbst zu befragen, als den Nachbarn, dessen Sachverständnis zum Mindesten problematisch ist. Das Schaffen bietet ein absolutes, objektives Kriterium — das einzige. Das Kunstwerk des Genies ist eine absolute Tatsache, von den Gesetzen der Produktion notwendig bedingt; der Eindruck, den es im Beschauer hinterlässt — ein Relativum, eine Spiegelung, deren Wahrhaftigkeit vom Werte des Spiegels abhängt. Wir aber müssen Gewisses erfahren.

So müssen wir denn vom Schaffen ausgehen, um endlich eine unzweideutige Antwort auf die Frage zu erlangen: ob die kosmische Rhythmik auch die Kunst beherrscht, ob die Gesetze des Menschengeistes innerhalb derselben Grenzen wirksam sind, wie diejenigen der Natur. Dazu müssen wir unsere Frage folgendermaßen wenden: folgt der Schaffensdrang, der, unbekümmert um äußere Regeln und Normen, der Verkörperung zustrebt, unbewusst denselben Gesetzen, die außer ihm herrschen, die auch den Menschenleib regieren? Bewegt sich die künstlerische Gestaltung in denselben Rhythmen, welchen die außermenschliche Schöpfung folgt, so dass die Freiheit die Naturwendigkeit spiegelt? Dann wäre das Passive, das Gefallen, nur eine Konsequenz des Schaffens, unbegrenzt in seinen Möglichkeiten wie dieses; dann dächte man an keine Zwangsjacke von objektiven Regeln mehr, dann ließe sich der Wechsel der Kunstrichtungen innerhalb von Zeit und Anlagen auch objektiv begreifen: denn alles Subjektive käme auf objektivem Wege zustande!

Das ist der Ansatz, aus welchem die konkreten Zahlenverhältnisse begriffen werden können.

Das Subjektive kommt auf objektivem Wege zustande — das heißt, das Schöne nach mathematischen Gesetzen. Dieselben Tatsachen gewinnen aus diesem Gesichtswinkel ein völlig verschiedenes Aussehen: Fechner sagt — ich übertreibe absichtlich — schön ist ein Gemälde, in welchem das Gesetz der Teilung nach dem goldenen Schnitte die Proportionen beherrscht; aber der Einwand, dass unzählige Meisterwerke nichts dergleichen verraten, kann durch die Tatsache, dass Fechner für einige klassische Schöpfungen wirklich im Recht ist, unmöglich widerlegt werden. Die Fragestellung ist falsch. Wir aber behaupten, dass der Schaffensakt des Künstlers, also das schlechterdings Subjektive, rhythmischen Gesetzen folgt — gleichviel, ob das Geschaffene diese Rhythmen unmittelbar zur Schau trägt oder nicht: ein Kristall, dessen Flächen ungleich ausgebildet sind, erscheint ganz unsymmetrisch, obwohl er objektiv den höchsten Symmetriegrad verkörpern mag; und ebenso braucht die vollendete Kunstschöpfung in ihrem aktuellen Ausdrucke nichts von den Rhythmen zu verraten, nach welchen sie entstand. Dass aber Letzteres überall der Fall ist — nämlich, dass gerade der Weg des Zustandekommens ein rhythmischer ist —, das steht heute fest; es ist eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache: in seinem bahnbrechenden Werke Arbeit und Rhythmus hat Karl Bücher dargetan, dass bei allen Künsten der Bewegung, denen also, welche in der Zeit zum Ausdruck gelangen, als Tanz, Musik und Dichtkunst, das Ursprüngliche der Rhythmus ist. Denn dieser ist in der physischen Organisation des Menschen selbst begründet — die meisten vitalen Reaktionen sind periodischer oder rhythmischer Natur, so Schlaf und Wachen, der Herzschlag, der Gang usw. —, und darum bedingt der Rhythmus allein schon Wohlbehagen, eine Steigerung der Lebensimpulse; darum liegt der Rhythmus als Tiefstes aller künstlerischen Betätigung zugrunde. Am deutlichsten erscheint dieses Verhältnis bei den Künsten, welche ihrem Wesen nach Bewegung sind; aber bei den anderen — den bildenden — ist dasselbe Verhältnis nur transponiert — aus der Bewegung in die Ruhe —, nicht aufgehoben: auch sie entstehen durch Bewegung, auch bei ihnen ist die gesetzmäßige Wiederholung des Gleichartigen ein wesentlichstes Moment4, auch hier gelten die allgemeinen Gesetze, welche aller freien Betätigung zugrunde liegen — hat doch gerade Bücher dargetan, dass diese in der Wurzel eine ist:

An jenem Konvergenzpunkte, schreibt er5, erblicken wir die Arbeit noch ungeschieden von Kunst und Spiel. Es gibt nur eine Art der menschlichen Tätigkeit, welche Arbeit, Spiel und Kunst in sich verschmilzt. In dieser ursprünglichen Einheit der geistig-körperlichen Betätigung des Menschen erkennen wir bereits die spätere wirtschaftlich-technische Arbeit, die Hauptformen des Spiels und aller Künste, sowohl diejenigen der Bewegung als auch diejenigen der Ruhe, in ihren Keimpunkten eingeschlossen, und wenn wir unsere Begriffe auf diesen Zustand übertragen wollen, so müssen wir sagen: die Künste der Bewegung (Musik, Tanz, Dichtkunst) treten beim Vollzug der Arbeit mit zutage, und die Künste der Ruhe (Bildnerei, Malerei) erscheinen in den Ergebnissen der Arbeit — wenn auch oft nur in der Gestalt der Ornamentik — verkörpert … Das Band, welches diese, nach unserem Empfinden so verschiedenartigen Elemente zusammenhält, ist der Rhythmus: die geordnete Gliederung der Bewegungen in ihrem zeitlichen Verlauf.

Die dynamische Betrachtungsart des künstlerischen Schaffens führt allerwegen auf den Rhythmus als letzte Instanz zurück — Rhythmus in des Wortes weitester Bedeutung. Für die bildenden Künste haben das Lipps und Dahmen dargetan, und das Dramatische — für viele Ästhetiker das Wesen des Kunstwerkes — ist ja nur eine besonders qualifizierte Form des Rhythmischen; die Gliederung und Steigerung und notwendige Verknüpfung der Situationen im Drama spiegelt die rein zahlenmäßige Rhythmik aufs Genaueste wieder. Und da nun der Rhythmus etwas durchaus persönlich, weil organisch Bedingtes und mithin Innerliches ist, so ist der Standpunkt in jeder Hinsicht berechtigt, den Flaubert in dem angeführten Ausspruche einnimmt:

ce qui parait être l’extérieur est tout bonnement le dedans;

das scheinbar Äußerliche ist gerade das Innerliche. Aber woran erkennen wir diesen inneren Kern? Was ist das Innere, was das Äußere, da wir das Objektive nur am Subjektiven, die Gesetzmäßigkeit nur an der Freiheit sehen können? — Die wissenschaftliche Forschung vermag nur die allgemeinste Seite dieser Verhältnisse zu fassen — und auch diese nur dort, wo sie sehr primitiv und einfach erscheint, wie bei den Naturvölkern, überhaupt im Ursprünglichen; aus dem Ursprünglichen lassen sich aber keine sicheren Schlüsse auf das Gewordene und Komplizierte ziehen — die Ästhetik, welche der Musik der Herero gerecht wird, muss einem Beethoven gegenüber notwendig versagen. Gibt es kein Kriterium der inneren Gesetzmäßigkeit des Schaffens, das absolut, unzweideutig und folglich der objektiven Betrachtung zugänglich und doch zugleich allein subjektiv, vom Schaffenden ausschließlich aller äußeren Umstände, d. h. rein persönlich bedingt wäre? — Dieses Kriterium ist der Stil. Flaubert sagt irgendwo: Le style est une manière absolue de voir les choses, und bekannt ist das Wort Buffons Le style c’est l’homme même. Und beide haben recht: der Ausdruck ist es, der den Gedanken zum Leben erweckt — vorher existiert er nicht, vorher gibt es nur unbestimmte Gefühle und Stimmungen, Möglichkeiten, keine Wirklichkeit. Der Ausdruck ist der Gedanke selbst, die Form vom Inhalt nicht zu trennen6. Wie aber der Ausdruck ausfällt, das hängt einzig und allein von der denkenden oder schaffenden Persönlichkeit ab, von keinen äußeren Umständen. Das Was, der Inhalt, ist universell, das Wie, die Form, individuell, und das Bekannte wird neu und einzig durch eine neue Fassung. Die Form in ihrer weitesten Bedeutung, der Ausdruck aller Äußerungen einer Persönlichkeit in ihrem Sein und Schaffen ist aber dasjenige, was man ihren Stil nennt. Der Stil ist der unmittelbare Ausdruck der Persönlichkeit, des Innersten am Menschen, des Gesetzes, der platonischen Idee seines Lebens und Produzierens. Er ist es in demselben Sinne, wie die Gestalt oder der Bauplan das Wesen jedes Organismus ausdrückt, wie die Form, nicht der Stoff, das Leben als Leben charakterisiert. Und darum ist der Stil das eigentlich Schöpferische, das Originelle, das Große und Ewige an den Werken Goethes oder Kants, Beethovens oder Wagners, er ist das Absolute in ihnen, das Innerlich-Objektive. Der Stil lässt sich von auswärts nicht herleiten, und abstrahiert man von ihm bei der Beurteilung einer Persönlichkeit, so tötet man den Menschen überhaupt, lässt nichts Lebendiges übrig, sucht gleichsam das Organische aus dem Anorganischen zu erklären. Und so erscheint denn das scheinbar Äußerlich-Objektive, der mathematisch-bestimmbare Ausdruck, als Funktion des Stils, die objektive Rhythmik als innere Notwendigkeit, als notwendige Schaffensform der Persönlichkeit. Sollten wir im Stil der Genien, in dem ihnen Ureigenen, von keiner Welt Abhängigen, die kosmische Rhythmik wiederfinden — dann wäre der Beweis erbracht, dass das freie Schaffen des Menschen sich in denselben Grenzen bewegt, wie die Natur, dann wäre die rhythmische Einheit des Weltalls erwiesen.

Hier gilt es, die Kunst in ihrem höchsten Ausdruck zu befragen. Der Stil ist die Einheit von Form und Inhalt; nur diese Einheit kann uns Gewisses eröffnen. Sie findet sich in jedem Meisterwerke — doch ist sie nicht überall gleich unverhüllt. Im geschriebenen Stil bilden die Qualitäten, die Worte, Begriffe und Bilder unsere letzte Instanz, wir können nicht hinter sie blicken; die Architektonik, das greifbarst Objektive, hängt aber so oft von Inkommensurabilien, von gedanklichen Betonungen und subtilen Kombinationen musikalischen Charakters ab, die wieder auf Qualitäten zurückweisen, dass die genaueste Analyse des vollständigsten Materials nur Probleme zutage fördern könnte. Und wenn die Rhythmik der Poesie auch zweifelsohne dem Innersten des Menschen entquillt, und die Übereinstimmung ihrer Zahlenverhältnisse mit denen in der Natur unzweideutig auf unser Ziel hinweist, so fällt sie mit ihm doch nicht zusammen: das Versmaß übernimmt der Stil des Dichters, er ist es nicht; er bewegt sich in den Rhythmen, bleibt aber selbst gleichsam zwischen ihnen; die innere Form ist mit der äußeren nicht notwendig eins — nicht notwendig in dem Sinne, wie wir es verlangen, unzweideutig, unleugbar seitens des Weltalls. In der bildenden Kunst wiederum sind Stoff und Form an sich zu heterogen, um nicht Missverständnisse aufkommen zu lassen. Der Maler, der Bildhauer entnimmt seinen Stoff der Außenwelt; die Gestalten und die Proportionen, die er schafft, sie finden sich auch in der Natur, und obwohl die organischen Verhältnisse des Gesamtkunstwerkes, also der eigentliche Ausdruck, selbstverständlich nur von dem Stil des Künstlers abhängen, so bleibt für den Außenstehenden immerhin ein Äquivokem übrig: da die Teile der Natur entstammen, gemeiniglich naturgetreu sein wollen — sollten nicht manche der Rhythmen von dort ihren Ursprung herleiten? Was Nachahmung, was Schaffensnotwendigkeit ist — das kann bei der bildenden Kunst nur der sympathische Instinkt, nicht das unparteiische Urteil entscheiden. Sogar bei der Architektur bleibt dieselbe Zweideutigkeit bestehen. Das architektonisch Schöne deckt sich stets mit dem in bezug auf das Material und die Absicht oder Bedeutung des Gebäudes Zweckmäßigen; obwohl nun gerade dieser Umstand darauf hinweist, dass die menschlichen Schönheitsregeln mit den Naturgesetzen übereinstimmen, so bleibt dennoch unentschieden, ob hier wirklich allein eine künstlerische Notwendigkeit, oder aber eine Anpassung des Auges oder des Verstandes an die Natur im Sinne der evolutionistischen Ästhetik, vom Standpunkte des absoluten Menschen also ein zufälliges Zusammentreffen vorliegt. Gibt es keine Kunst, in welcher jegliche Zweideutigkeit aus dem Spiele bleibt, die Außenwelt gleichsam ausgeschaltet ist? In der Form und Inhalt notwendig eins sind, so dass wir den Stil unmittelbar greifen könnten? — Es ist die erhabenste Kunst, die Musik.

In dem schönsten Essay seiner Renaissance — the school of Giorgione — schreibt Walter Pater:

All art constantly aspires towards the condition of music …, because in its ideal, consummate moments, the end is not distinct from the means, the form from the matter, the subject from the expression; and to it, therefore, to the condition of its perfect moments, all the arts may he supposed constantly to tend and aspire.

Die Musik verkörpert in der Tat das Ideal aller Kunst — heute, wo die Musik der Sprache abgesehen von aller Wortbedeutung für viele das Ziel der Dichtung bildet, wo ein Whistler in Farben komponiert und der geistreichste lebende Ästhetiker, Rudolf Kassner, in seiner Moral der Musik gezeigt hat, dass die Musik die Kunst ist, alle Kunst gleichsam vorwegnimmt —

nur, indem eine Kunst zur Musik will, strebt sie auf dem ihr einzig möglichen Wege zu sich selbst und gibt zugleich das Innerste und tut das Äußerste —7:

heute bedarf es nicht mehr vieler Worte, um die Wahrheit dieses Satzes darzutun8. Bei der Musik sind Stoff, Form und Inhalt ursprünglich eins; das Ideal aller Künste bildet ihren Ausgangspunkt. Was sie nicht sagt, das ist überhaupt nicht da, sie verschweigt nichts und lässt nichts übrig. Der Ausdruck ist ihr Material, die Form ihr ganzer Inhalt. Hier kann die Natur dem Geist nichts schenken, hier schafft er ganz aus eigenen Mitteln — zur Nachahmung oder Anpassung fehlt jede Möglichkeit. Das musikalische Kunstwerk spiegelt den absoluten Menschen — vor allen, der ganzen Welt gleichsam, während ihn anderswo nur der Erwählte zu schauen vermag. Und darum ist die Musik die Kunst, die den Menschen am unmittelbarsten ergreift, sein Empfinden am stärksten beeindruckt, diejenige, die sein Subjekt im Innersten erfasst. Zugleich aber bietet sie auch der objektiven Betrachtung die festeste Handhabe: denn Musik ist, physikalisch angesehen, reine Rhythmik; es sind Zahlenverhältnisse in bestimmten Kombinationen. Sollte sich bei den größten Meisterwerken der Musik nachweisen lassen, dass dieselben rhythmischen Verhältnisse in ihnen herrschen, welche die Formen der Natur regieren, so dass sich auf ein einheitliches Gesetz schließen ließe — dann allerdings wäre der Nachweis erbracht, dass die Freiheit des künstlerischen Schaffens die Naturnotwendigkeit spiegele; denn Musik ist reiner Stil.

Dieser Nachweis ist in jüngster Zeit tatsächlich erbracht worden. Nicht dem Musiker, auch nicht dem Physiker war es beschieden, diese Tatsache von entscheidender Bedeutung unzweideutig festzustellen: einem Kristallographen gebührt das Verdienst — Victor Goldschmidt. Seinem Scharfsinn ist es geglückt, nicht nur die Identität des Bildungsgesetzes bei Kristallen und Tönen nachzuweisen; dieses bedeutete, wie wir erkannten, nur den halben Weg. — Sondern auch das musikalische Kunstwerk, die freie Schöpfung, analytisch zu beschreiben, ohne den Geist hinauszutreiben. Er hat Harmonie und Melodie auf ihre objektiven Verhältnisse hin untersucht, und dabei gefunden, dass sich die einzigartige Schönheit einer Komposition, wie etwa Die Ehre Gottes in der Natur von Beethoven in den Verhältnissen der harmonischen Zahlen widerspiegelt, und dass auch der Stil der Komposition — die organische Synthese über den Harmonieverhältnissen — dieselbe Gesetzmäßigkeit bezeugt, welche die Kristalle und alles sonstige Geformte in der Natur verraten9.

Damit ist unser höchstes Ziel erreicht; das Ideal ist gesteigerte Realität, die Musik die Königin der Künste. Wenn sie, die reinste, unbedingteste Schöpfung des absoluten Menschen, zur Natur zurückführt, sie, die sich am meisten von ihr zu entfernen scheint, dann besteht das bei ihr Erkannte für alle Kunst zu Recht; wir können es behaupten, ohne Furcht, je widerlegt zu werden.

Die Rhythmik des Naturgeschehens lernten wir kennen; aber wir konnten ihre Wahrheit nicht früher freudig anerkennend begrüßen, als bis erwiesen war, dass auch der Menschengeist, dasjenige Naturgesetz, das wir selbst sind, das uns nie verlässt und mit dem wir die Welt unaufhaltsam neu erschaffen, an denselben Rhythmen zum Leben erwacht, wie die Natur selbst, bis auch die Schöpfung des absoluten Menschen — die Kunst — uns dieselben Rhythmen offenbarte. Denn die Einheit des Universums besteht nur dann, wenn sie vollständig ist, wenn jede einzelne Funktion sie ausdrückt, auf sie zurückweist. Wenn nun der Stil — das Reinmenschliche — in denselben Proportionen schafft, die er anderswo vorfindet, dann ist kein Zweifel mehr möglich. Die Schöpfung des Menschen ist die Kunst; anderweitig schaffen andere Gewalten — ihre Zahl ist groß. Überall aber sind es die gleichen Grenzen, an denen das ewige Werden Halt macht, um dem Vergänglichen zwischen Entstehen und Vergehen auf Augenblicke die Illusion des Bestehens zu schenken. Was wir hofften und ahnen — jetzt wissen wir’s.

Nun aber können wir eine weitere Folgerung ziehen — eine Folgerung, die oft schon antizipiert wurde, aber niemals noch gesichert erschien, weil die Voraussetzung fehlerhaft war. Wir betonten bereits, dass das ästhetische Wohlgefallen unmöglich durch analytische Grenzen bestimmt werden könne: Psychologie und Ästhetik liegen auf verschiedenem Niveau. Die grundlegende Erkenntnis, dass wir nur das verstehen, was wir machen können, besagt, ins Ästhetische umgedeutet, dass nur dasjenige uns ästhetisch gefallen kann, was den künstlerischen Schaffensmöglichkeiten entspricht. Diese aber sind grundsätzlich unendlich, und darum wird keine Analyse je Grenzen statuieren, welche ein Ende, nicht bloß eine Etappe bedeuten. Aber wir können dieselbe Wahrheit auch von einer anderen Seite her betrachten: wir verstehen nur, was wir schaffen, d. h. das Verstehen entspricht dem Schaffen. Das bedeutet offenbar nichts anderes, als dass die Wertungen unserer Eindrücke — die Urteile, welche eine Erscheinung als schön, harmonisch, vollkommen qualifizieren — durch dieselben Gesetze bedingt und bestimmt werden, welchen die Schöpfung des Schönen folgt. Denn auch das Erkennen ist eine Form des Handelns; es gibt nichts Lebendiges, das nicht wesentlich Tat wäre, und der Beschauer muss sich durchaus produktiv vor dem Kunstwerke verhalten, wenn anders er es verstehen will. So bezeichnen Rezeptivität und Produktivität verschiedene Seiten desselben Vorganges, die sich spiegelbildlich gleichen, einem Zusammenhange angehören. Die Erkenntnis des Notwendigen ist das Spiegelbild der Tat, das ästhetische Urteil — mithin die Wertung des Erkannten — das Spiegelbild der künstlerischen Schöpfung. Da das Bild von der Qualität des Spiegels abhängt, so impliziert dieser Satz alle nur möglichen Spezialfälle: Bewegt sich nun die Produktion — deren inneres Gesetz wir als Stil bezeichneten — auf Bahnen, welche sich objektiv durch rhythmische Verhältnisse darstellen lassen, so folgt daraus für das Spiegelbild, die ästhetische Urteilsfunktion, dass auch diese denselben Rhythmen gehorcht. Nicht in dem Sinne, dass bestimmten rhythmischen Verhältnissen bestimmte Empfindungen im Psychologischen, bestimmte Urteile oder Wertungen im Ästhetischen entsprächen — das wäre völlig falsch geschlossen —, sondern dass der Genuss im Psychologischen und die Geschmacksurteile mit den entsprechenden Ideen von Schönheit, Harmonie oder Vollkommenheit im Ästhetischen nach denselben Rhythmen zustande kommen, welche das Schaffen lenken — gleichviel, ob sie objektiv zum Ausdruck gelangen oder nicht. Jede Spiegelung — wir erfuhren es schon im ersten Kapitel — verschiebt wenn nicht die Proportionen des Ganzen, so doch diejenigen der in Beziehung gesetzten Teile und die Maßverhältnisse, und überdies fehlt uns jede Möglichkeit, die Empfindungs- oder Urteilsqualitäten ins Objektive, ins Mathematische umzudeuten; sie bilden nach innen zu unsere letzte Instanz. Aber wenn die synthetische Psychologie uns lehrt, dass alles Geistige in Beziehungen besteht, jedes Urteil insbesondere durch Inbeziehungsetzen von Vorstellungen unter bestimmter Betonung der Teilkomplexe zustande kommt — gerade so wie der musikalische Akkord durch die Konsonanz der Teiltöne, die Farbenharmonie durch Ergänzung der Teilfarben —, so ersehen wir aus dem Spiegelbilde des Menschengeistes, der Kunst, dass die Geistesqualitäten, die wir an sich selbst nicht umzudeuten vermögen, allerdings Zahlenverhältnissen entsprechen, welche ähnliche und äquivalente Grenzen innerhalb der Weltmathematik bezeichnen, wie sie uns die übrigen Qualitäten, die Tatsachen der Natur innerhalb ihrer unendlichen Möglichkeiten, schon früher enthüllt hatten. Der Menschengeist ist eine Funktion der Weltgleichung, und wo er selber schafft, wo er die Notwendigkeit der Natur in Freiheit weiterführt, da tut er es in denselben Rhythmen, welche ihn selbst in die Welt setzten. Die Qualitäten der Natur entsprechen objektiv Zahlenverhältnissen. Die Qualitäten des Geistes — einer Funktion der Natur — weisen auf die Allmutter zurück. Die kosmische Rhythmik spiegelt sich in der menschlichen Ästhetik.

So enthüllt sich uns ein großzügiger Zusammenhang. Was wir am Anfang als möglich hingestellt, das sehen wir jetzt in greifbarer Wirklichkeit vor uns. Wir behaupteten, die Mathematik spiegele nicht nur, sondern sie sei das Weltgeschehen. Jetzt finden wir unsere damalige Voraussetzung an der Erfahrung bestätigt: die Qualitäten bedeuten subjektive Bilder formaler und quantitativer Verhältnisse und Grenzen, handele es sich um äußere Formen, wie bei den Kristallen und Organismen, oder um reine Qualitäten, wie sie die Elemente der Chemie bezeichnen, oder um reine Sinnesempfindungen, wie Farben oder Töne. Wir sagten aber weiter: auch die Gedanken, die Begriffe seien subjektiv im Gegensatz zu den reinen Denkgesetzen, die in der Mathematik ihre Darstellung finden. Den Beweis zu dieser Behauptung haben wir jetzt in den Händen: das Denken ist eine Form des Handelns, das Gedachte spiegelt die Tat, und die Ideen von Schönheit und Harmonie samt allen anderen ästhetischen Werten sind Funktionen derselben Gesetze, welche das Schöne schaffen; das Schöne entsteht aber objektiv auf rhythmischen Bahnen. So sind auch unsere Begriffe subjektive Bilder mathematischer Verhältnisse, die einheitlich sind im Erkennen und Handeln, im Schaffen und Werten, weil alle diese so verschieden scheinenden Geistesfunktionen die Einheit des Lebens ausdrücken, im Individuum die Einheit des Organismus, des Ich. Und diese mathematischen Relationen — die rhythmischen, nicht die empirischen — sind wiederum die gleichen oder entspringen wenigstens einheitlichen Zahlengesetzen im ganzen Universum. Was immer in der Natur bestehen bleibt innerhalb des ewigen Werdens und Wandels — sei es für Augenblicke oder auf Ewigkeiten —, es drückt bestimmte, immer wiederkehrende rhythmische Verhältnisse aus, sei es ein chemisches Element oder ein Planetensystem, ob es dem Menschen schön erscheint oder nicht. Denn die verschiedenen Kategorien des Universums sind inkommensurabel, und dem Menschen kann nur das gefallen, was ihm gemäß ist. Nur vom Standpunkte seiner eigenen Erkenntnis ist er das Maß der Dinge, nicht vor dem Kosmos, vor Gott, und seine Gefühle geben keinen objektiven Maßstab ab. Wohl aber ist er nach dem selben Maße geschnitten, wie die sonstigen Formen der Natur, und darum spiegeln seine Glücksempfindungen so oft das von ihr her unerbittlich Notwendige wieder — so in Liebe und Kampf —, darum ruft er so häufig wonnetrunken vor ihren Werken aus: sie sei der größte Künstler. Denn was er fühlt — auch das ist ihr Werk, sie schafft durch ihn, sie ist eins in allem, und er kann sein Geschlecht nicht verleugnen. So erklärt sich die Harmonie von Denk- und Naturgesetzen, von hier aus begreifen wir, warum Naturerscheinungen und Gedanken, Tatsachen und Begriffe, Gesetzmäßigkeit und Schönheit, Notwendigkeit und Freiheit sich entsprechen, anstatt sich aufzuheben. An sich sind sie freilich inkommensurabel, Natur und Kunst sind unvergleichbar — aber die ganze vielgestaltige Mannigfaltigkeit entquillt einem gesetzmäßigen Zusammenhang, dessen Mittelpunkt das Weltzentrum ist. Das ist die Harmonice mundi, wie sie Kepler träumte. Und erinnern wir uns jetzt der ersten Anfänge der Rhythmik in grauem Altertum und vergleichen wir sie mit den Errungenschaften der Neuzeit — was gewahren wir? — Die Pythagoreer gingen von der Idee der Harmonie aus; eine Idee gab ihren Forschungen die Richtung, nicht die Erfahrung. Heute hat die Wissenschaft letztere allein befragt, ohne Rücksicht auf menschliche Wünsche: beide aber haben die gleichen Ergebnisse erzielt! Die pythagoräischen Zahlen sind in großen Zügen identisch mit denjenigen, die Goldschmidt, Wyneken u. a. zutage förderten. — Hier gewahren wir nicht nur die gewohnte Spiegelung von Analyse und Synthese, hier gewinnen wir nicht bloß einen letzten, synthetischen Beweis für die Grenzstellung der Rhythmik hier erleben wir mehr: das Streben nach Schönheit hat die Erfahrung vorweggenommen, die Erfahrung hat zur Harmonie zurückgeleitet. Subjektives und Objektives, die Extreme berühren sich! Da sehen wir staunend die Vielgestaltigkeit des Geschehens sich zur Einheit zusammenschließen, wie Scharfgeschiedenes sich vermählt, Fernes zusammenrückt. Wir sehen es — und wir beginnen zu verstehen:

Denn wo Natur im reinen Kreise waltet,
Ergreifen alle Welten sich.
         Goethe

Werfen wir nun einen weiten, umfassenden Blick über das Weltbild, das sich jetzt vor uns enthüllt! — Die Weltmechanik ist Mathematik; Diskontinuum und Kontinuum schließt sie einheitlich zusammen, obwohl das blöde Menschenauge ihr nie darin zu folgen vermag. Ihre Möglichkeiten sind unendlich; alles kann in der Natur entstehen, Welten mögen auf- und untergehen, von denen wir nichts wissen noch ahnen, die möglichen Kombinationen kennen an sich keine Grenzen. Aber wann eine unter ihnen wirklich wird, dem Menschen als Tatsache entgegentritt, wo Qualitäten auftauchen an der Spiegelfläche des Lebens, da geschieht es in festen, immer wiederkehrenden Verhältnissen, nach einheitlichen Gesetzen. Die Planeten halten ihre Abstände ein, die Elemente ihre Unterschiede, die Organismen ihre Gestaltungstypen; und wenn der Mensch aus der unendlichen Reihe der Lichtstrahlen nur bestimmte als Farben, aus den Schallwellen eine beschränkte Tonskala herauswählt, so sind es wiederum ähnliche Zahlen, welche die Grenzen bezeichnen.

Und ebenso geschieht es, wenn der Mensch selbst als Schöpfer auftritt, der Natur ihre Gestaltungskraft entreißt auch seine Möglichkeiten sind unendlich, sein Flug trägt ihn hoch über ihn selbst hinaus. In allen Verhältnissen kann er gestalten, unter jeder erdenklichen Voraussetzung produzieren — unter solchen sogar, die ihm selber auf immer unbegreiflich sind, wie die Räume der Pangeometrie. Doch wo der unaufhaltsame Schwung des Geistes an Formen wirklich wird, wo aus der grenzenlosen Reihe des Möglichen eine künstlerische Tat sich niederschlägt, da offenbaren sich an der eigensten Frucht des Geistes in wenig nur modifizierter Form dieselben Rhythmen wieder, nach welchen auch die Allmutter Natur ihre Werke erschuf. Und weiter: alle Verhältnisse kann der Mensch begreifen, überall ist er schnell bereit, aus dunklem Zusammenhang das Gesetz zu entwirren. Aber wo er ihn spontan empfindet, wo das Auge entzückt verharrt, das Ohr ergriffen lauscht, wo Schönheit und Harmonie ihn berauschen, da finden sich die alten Rhythmen wieder, die als Kristall von Ewigkeit dauern, die als Musik augenblicklich schwinden. Die höchsten Ideen und Gedanken, die das Eigenste und Einzige des Menschen bedeuten, die Ideen der Schönheit und Vollkommenheit, der hellenischen Kalokagathie, sie markieren unter allen möglichen und wirklichen dieselben Grenzen, die im Entstehen der Natur das Beständige kennzeichnen. Das Beste, das Höchste der Menschheit, das Ideal, wonach sie strebt und das nur ihre größten Söhne je verwirklichen, das Sehnen ihrer Freiheit — es entspricht im gesamten Weltprozesse den Etappen, an welchen das Chaos Gestalten gebiert. In diesem Sinne ist das Wort des Weisen zu verstehen, dass das menschlich Ideale allein Realität besitze.

Vor dem Kosmos wiegen aber alle Qualitäten gleichviel: die menschlichen Begriffe und Ideen, die Farben und Töne, die Qualitäten der Physik, Chemie und Biologie — sie alle sind bloß Gleichnisse nach ewigen Gesetzen fortrauschender Progressionen, die nur augenblicklich rasten, unaufhaltsam schwinden und nur im Vergänglichen ihr Sein bekunden.

★ ★ ★

Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebenen Kreise
Vollendet sie mit Donnergang.

Rufen jene Dichterworte nicht eine Vision aus längst verklungenen Zeiten zurück, welche mythische Geister einst an Hellas’ sonnigem Gestade begeistert schauten, eine Vision, deren Sinn so tief ist, dass keine Zeit ihn je wird erschöpfen können? Die Harmonie der Sphären! Pythagoras’ prophetischem Ohr ertönte das Weltall; die Planeten und Sterne seien wie Saiten, nach musikalischen Intervallen über den Himmel gespannt; ihr brausender Schwung durchschüttere den Weltraum in ewigen Akkorden, und das stille Leuchten der Gestirne sei uns das Sinnbild donnernder Musik! An der dichterischen Schönheit und Erhabenheit des Bildes hat sich die Menschheit von je ergötzt; aber ist es nicht stets der Dichter, der uns das Letzte eröffnet, der durch das Tor der Schönheit den Weg in gedankliche Tiefen weist? — Heute sind auch wir, mit unserem nüchternen Geiste, imstande, den Augen des Sehers zu folgen; denn auch für uns umfasst das Wort Harmonie der Sphären unendlich mehr jetzt, als es beherrschen kann.

Weltanschauung, Weltbild sind uns gewohnte Metaphern; das Auge ist der König unserer Sinne, Gesichtsqualitäten sind es, durch welche wir die Gesetze der Welt umschreiben, da der visuelle Ausdruck uns am förderlichsten erscheint. Aber ließe sich nicht mit gleicher Berechtigung von Weltensymphonien reden? Vom kosmischen Standpunkte sind alle Qualitäten gleichwertig; Auge sowohl als Ohr spiegeln Bilder ewiger Gesetze, und beide bleiben ihrem inneren Wesen gleich fern. Aber wir, die wir mühsam dem Weltzentrum zustreben, als die nach der Heimat sich sehnen, wie es im indischen Liede heißt, uns, denen die Wahrheit auf immer nur im Bilde erscheinen kann, das Ewige im Gleichnis des Vergänglichen, uns kann das Bild oft Wahrheiten enthüllen, die uns die Wahrheit selbst verschweigen müsste. Die Musik drückt das innerste Wesen des Menschen aus; nichts, was ihn so ergriffe und im Tiefsten erschütterte, wie die Schöpfungen dieser hehrsten Kunst. Sie ist sein, wie keine andere, sie entquillt seinen innersten Tiefen und sein Tiefstes rührt sie auf, sie ist das erhabenste Symbol seines Wesens und Wollens und Leidens. Und auch darin ist sie es, dass ihr Ausdruck vergänglicher ist, als der jeder anderen Kunst: Bildwerke wirken und dauern in der Zeit, unveränderlich, gleich Petrefakten des Menschengeists. Die Musik dauert nicht, sie schwindet in der Zeit, ihre Existenz erschöpft sich im Augenblick. Gerade darum aber spiegelt sie den Kern unseres Wesens, gerade darum offenbart sie unser Ewiges, das Beharrende im Vergänglichen:

Denn alles muss zu nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

Die Musik ist der Ausdruck des absoluten Menschen, des der Natur ebenbürtig trotzenden Schöpfers, das Kind seiner Freiheit, sein Protest gegen die kalte Notwendigkeit der Natur. Und auch darin erklingt in ihr das Reinmenschliche, dass sie ganz Qualität ist, ganz Bild, ganz subjektiv, ganz Erscheinung — unempfunden ist sie undenkbar. Aber zugleich bedeutet sie doch den unmittelbarsten Ausdruck der inneren Gesetzmäßigkeit im Menschen. Der Mathematik, notwendig feindlich gegenüberstehend — kein großer Musiker hat je von ihr hören mögen — ist sie doch reine Mathematik, mehr und unzweideutiger, als jede andere Kunst. Kalte Zahlenverhältnisse bestimmen die herzergreifenden Harmonien des Tristan-Vorspiels, ungefüge Brüche die Melodien, in denen Isoldens Seele sich aushauchte. Die Rhythmen aber, nach welchen die größten Geister, ihrem freien, persönlichsten Drange folgend, ihre Werke in die Wirklichkeit gezeugt, sie sind dieselben, welche außer ihnen von je gegolten haben, die im unendlichen Raume den Umlauf der Gestirne regeln, und auf dem unscheinbarsten Planeten das lebendige Wachsen und Vergehen. Und darum ist die Musik allerdings das erhabenste Symbol der Welt, so wie Schopenhauer es verkündete: rhythmisch rollen die Sonnen, wie die Töne, die uns ergreifen; ihr Schwellen, Schweben und Schwinden ist das Echo der Welt. Mitschaffend begleiten sie das Walten kosmischer Mächte, sie steigen an ihnen empor und sinken in sie zurück, augenblicklich das Ewige spiegelnd. Die Fugen des Weltalls donnern aus ewigen Orgeln — uns aber trägt die Musik fühlend ins Herz der Natur.

Jene größten Menschen, denen die Sphären ertönten, erkannten im Reinmenschlichen das wahrste Symbol der Natur. Denn nirgends offenbart sich dem Menschen ihr ewig-anhebendes Schaffen, wenn nicht im freiesten Flug, den sein Genius wagt.

1 Siehe hierzu Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft; hätten die späteren Ästhetiker diese grundlegende Arbeit wirklich gekannt und verstanden — wie viele Irrwege wären ihnen erspart geblieben!
2 Vgl. seine populär-wissenschaftlichen Vorlesungen und die Analyse der Empfindungen l. c.
3 Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg 1897. — Nachträglich entdecke ich, dass schon Nietzsche die Notwendigkeit für die Ästhetik, vom Schaffen auszugehen, betont hat. Vgl. Genealogie der Moral, III, 6.
4 Vgl. Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst, p. 142 ff. Das gilt zumal von den rein dekorativen Künsten oder genauer: von jeder Kunst, soweit sie dekorativ sein will. Das typischste Beispiel hierfür bieten wohl die byzantinischen Mosaiken von Ravenna. Aber auch anderweitig, so in der Architektur, die keineswegs zur Ornamentik dient, begegnen wir überall demselben Verhältnisse: man denke nur an die rhythmische Wiederholung der Säulen und Pfeiler, die Raumgliederung gotischer Kirchen u. a.
5 Arbeit und Rhythmus, 3. Aufl. Leipzig 1902, p. 397.
6 Dieser Satz braucht heute — seit Goethe, Gustave Flaubert und hundert anderen Autoritäten — nicht mehr erst begründet zu werden. Doch möchte ich die Gelegenheit benützen, um ein Wort William Blakes, des gewaltigen englischen Mystikers, anzuführen, welches sich auf dasselbe Thema bezieht und in Deutschland nicht allzu vielen bekannt sein dürfte:
No man can improve an original invention; nor can an original invention exist without execution organized, delineated, and articulated, either by God or man … I have heard many people say: Give me the ideas, it is no matter what words you put them into and others say: give me the design, it is no matter for the execution. These people knew enough of artifice, but nothing of art. Ideas cannot be given but in their minutely appropriate words, nor can a design be made without its minutely appropriate execution.
7 Die Moral der Musik. München 1905, p. 175.
8 Nur einem Einwande möchte ich hier gleich begegnen — vor allem deswegen, weil sogar ein so scharfsinniger Mann wie Kierkegaard ihn für stichhaltig zu halten scheint: es meinen nämlich viele, die Musik könne schon deswegen nicht die höchste Kunst sein, weil ihre Sprache nur wenigen — den eigentlich musikalischen — verständlich ist; die Dichtkunst überrage sie bei Weitem, weil sie sich der Worte und Begriffe bedient, die jedermann versteht und infolgedessen (!) viel mehr ausdrücken könne, als die erhabenste Tonschöpfung. Dem gegenüber ist zu betonen, 1. dass das Unverständnis einer Sprache niemals ein Argument gegen sie bedeuten kann, und 2. dass Gedanken und Begriffe ganz im gleichen Sinne Qualitäten sind, wie die Töne der Musik. Kein Mensch wird behaupten wollen, der Blick eines liebenden Weibes sage dem Geliebten weniger, als dies Worte vermöchten, weil ihn kein Dritter verstehen kann; er sagt im Gegenteil viel mehr. Und im selben Sinne kann eine Beethovensche Symphonie dem, der zu hören weiß, gerade so viel und mehr offenbaren, als die ganze Schopenhauersche Philosophie, obschon sie gewiss nicht dasselbe auszudrücken vermag: jede Kunst bringt andere, besondere Seiten der Menschenseele zum Ausdruck — so die Musik vorzüglich die tiefsten, elementarsten Gefühle und Stimmungen, auf welchem Gebiete sie alle anderen Künste weit hinter sich lässt, wogegen sie in der Wiedergabe differenzierter Seelenregungen wiederum von der Dichtkunst übertroffen wird. Die Welt des Auges ist der Musik nur in sehr bedingtem, zweideutigen Sinne zugänglich, diejenige des Gedankens oder gar des Begriffes — was viele moderne Tonkünstler nicht zu wissen scheinen — nahezu gänzlich verschlossen. Nur handelt es sich bei diesen Unterschieden um kein Mehr oder Weniger, sondern um spezifische Differenzen. Die Sprache sagt nicht mehr, sondern bloß andere Dinge als die Musik. Wenn die Menschen doch endlich einsehen wollten, dass die Sprache mit ihren Begriffen, Ideen usw. nur ein Ausdrucksmittel unter anderen bedeutet, von dem sich schlechterdings nicht behaupten lässt, dass es höher stehe, als die übrigen — oder gar eine höhere Welt, die Welt des Gedankens im Gegensatz zur Natur, offenbare! Ich bestreite direkt, dass ein Gedanke an und für sich schon mehr sei als ein Ton oder ein Akkord; er kann sogar weniger bedeuten … Übrigens dürfte in diesem Zusammenhang die Bemerkung nicht ohne Interesse sein, dass die intensivsten und zugleich universellsten Äußerungen des Menschengeistes — die Musik und die Mathematik — zur Produktion wie zum Verständnis die allerspeziellsten Begabungen erfordern — so sehr, dass große Musiker oder große Mathematiker (beide Begabungen sind nahe verwandt) auf anderen Gebieten sehr wohl Stümper oder Narren sein können. Die Erkenntnisse der Mathematik sind allgemeingültig — und doch wie gering ist die Zahl derer, die ihnen nur ungefähr zu folgen vermögen! Man denke diesen Gedankengang aus …
9 Vgl. Über harmonische Analyse von Musikstücken l. c. und Harmonie und Komplikation l. c. Seit der Niederschrift dieser Zeilen ist in den Annalen der Naturphilosophie (Bd. IV, 1905) noch eine Arbeit zum selben Thema erschienen — Beiträge zur Harmonielehre; binnen kurzem sollen weitere Ausführungen folgen. — Auf die seither erschienenen umfangreichen Arbeiten, besonders die, welche die Malerei betreffen (Heidelberg 1919), weise ich hier nochmals ausdrücklich hin. (Nachtrag zur 2. Auflage.)
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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