Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

Versuch einer kritischen Philosophie

Vorwort zur ersten Auflage

Der Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft
ist ein negativer, weil sie nämlich nicht Wahrheiten
entdeckt, sondern nur Irrtümer verhütet.
   Kant

Locke meint irgendwo, er sei gar kein Zeichen von Bescheidenheit, wenn ein Autor seine Werke demütige und gleichsam entschuldigende, apologetische Bemerkungen ausschickt, des Inhalts etwa, wie: das Buch ist zwar schlecht, aber … Es beweise vielmehr souveräne Impertinenz: kein gewissenhafter Mann dürfe dem Publikum das Ansinnen stellen, Bücher gern zu lesen und gut zu finden, von denen der Verfasser selber nichts hält. Und Locke hat recht. Es liegt ja im Wesen des Menschengeistes, dass er nur dann das Mögliche erreicht, wenn er ideell wenigstens — das Unmögliche will; nur aus dem höchsten Selbstbewusstsein heraus werden große Werke geboren, große Taten vollbracht. Und darum wird kein Schriftsteller, wenn er es ernst und aufrichtig meint, behaupten können: er sei sich seiner Unzulänglichkeit beim Schaffen nur zu gut bewusst gewesen. Dieses Bewusstsein — sagen wir besser: diese Selbsterkenntnis ist mit dem Produzieren aktuell unvereinbar. Vorreden werden nun freilich meist zuletzt geschrieben, wenn der Autor schon einige Distanz gewonnen hat; und daher meinen manche: nachträgliche Selbsterkenntnis — eine Art Treppenwitz — sei immerhin lobenswert. Ja, vielleicht. Aber andererseits gehört das Buch dem Autor doch eigentlich nur insofern, als er es schreibt, nicht insofern er es geschrieben hat; mit dem Augenblick der Veröffentlichung wird es Gemeingut. Wäre es da nicht wiederum Anmaßung seitens des Verfassers, wenn er es vor allen beurteilen wollte? Greift er da nicht dem Leser in ungebührlicher Weise vor? — Ich lasse die Frage offen und begnüge mich damit, wie in solchen Fällen ratsam, mein persönliches Verhalten zu regeln. Dieses aber soll darin bestehen, dass ich auf alles objektiv-sein-sollende Werten von vornherein verzichte und bloß kurz auszuführen suche, wie ich persönlich mein Buch gelesen und verstanden wissen möchte.

Einleiten — in des Wortes eigentlicher Bedeutung — kann ich es überhaupt nicht; denn es ist schon an sich nicht mehr als eine Einleitung oder besser ein Vorspiel (im Wagnerschen Sinne) zu einer Musik, die erst komponiert werden muss. Es enthält Leitmotive, deutet Tonfolgen an, deren volle Ausgestaltung späteren Zeiten vorbehalten bleibt; es schlägt die mannigfachsten Richtungen ein, ohne sie jedoch bis ans Ende zu durchmessen. Grundsätzlich habe ich darauf verzichtet, erschöpfend zu sein: zu beweisen, zu widerlegen, zu überzeugen — ja überhaupt nur auszuführen. Und wenn ich mich trotzdem sehr positiv, ja kategorisch ausdrücke, dort behaupte, wo ich eher fragen sollte, Erkenntnisse als erwiesen annehme — und von ihnen dann weiterschreite —, deren unzweideutiger Beweis noch aussteht, so ist es einerseits, um durch Umständlichkeit und Weitläufigkeit die innere Logik des Ganzen nicht zu verhüllen, den lebendigen Hauch nicht zu ersticken, andererseits aber, um anregender zu wirken: denn nichts ist weniger suggestiv als das innerlich Abgeschlossene — man kann es nur hinnehmen oder ablehnen, ein Drittes gibt es nicht —; und nichts wirkt fortzeugender als das Unvollendete, Aphoristische in geschlossener Form. Was hier als Schlussglied auftritt, wird dem ersten produktiven Leser zum Anfang, mithin zum Problem; das Affirmative reizt zum Widerspruch, bewegt zum Nachdenken, zum Nachforschen nach Argumenten für oder wider das Gehörte, und jede ernstliche Erschütterung des Gebäudes, das ich hier aufführe, fördert das Problem. Um dieses allein aber ist es mir zu tun. Hätte ich etwas Endgültiges zu leisten beabsichtigt — nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, so frühzeitig schon nach einer geschlossenen Form zu suchen. Ich hätte mich dabei begnügt, Teilprobleme gesondert zu behandeln, langsam Stein auf Stein zu setzen, um erst in letzter Stunde das Ganze zusammenzufassen. So aber habe ich’s gerade umgekehrt gehalten: ich habe die großen Züge hingezeichnet — so gut ich’s vermochte —, Fragen aufgeworfen, Aussichten eröffnet; — und überlasse die Ausführung und endgültige Abgrenzung der Folgezeit, in der Hoffnung, dass andere Denker meine Bemühungen unterstützen werden. Jede Förderung und Mithilfe soll mir willkommen sein. Und wenn man mich bekämpft, so soll mich’s auch nicht verdrießen, im Gegenteil: der Schöpfer ist niemals im selben Augenblicke und auf dasselbe hin Kritiker, das Vorwärtsstürmen beeinträchtigt die bedächtige Umschau, und manche Einwände, Argumente, Erweiterungen und Beschränkungen dürften jedem anderen eher einfallen als jenem. In dieser Hinsicht sind die subtilen und scharfsinnigen, aber unproduktiven Geister seit je das notwendige Komplement und Korrektiv der eigentlich schöpferischen gewesen. Nur eine Art der Kritik muss ich von vornherein ablehnen — weil sie mich gar nicht treffen kann: ich meine die gegen das System gerichtete. Wer mir vorwirft, ich sei nicht überzeugend, umständlich, ausführlich genug, ich sage nicht das letzte, gleite über manche Schwierigkeit diplomatisch hinweg, widerspreche mir gar —, der hat vielleicht recht, sagt aber nichts gegen mich: denn ich will zunächst nur anregen, nicht ausführen. Ich wünsche mir freie Geister zu Lesern, die alles andere eher wollen, denn überzeugt zu werden, die fähig sind, zeitweilig ihre gewohnten Standpunkte zu verlassen, um mir hingebend und vorurteilsfrei zu folgen; denen es ganz zuletzt erst darum zu tun ist, ob ich recht oder unrecht habe, welche angeregt und im produktiven Selbstdenken gefördert werden wollen. Jeder denkende Widersacher ist mir lieber als der gedankenlos Gläubige. Und wer sich an der geschlossenen Form stößt, darin ein Systematisches erblicken will, das dem schillernden Inhalt, den problematischen Ergebnissen schreiend widerspricht, der bedenke das eine: dass das Systematische — sofern es vorhanden ist — nur eine Maske bedeutet, die ich anlegte, um ausdrucksvoller spielen zu können. Meine Philosophie ist kein System, sie ist ein Lebendiges, das langsam erwächst und eben erst sich zu festigen und Gestalt zu gewinnen beginnt…

Aber das Wort ist gefallen: meine Philosophie. Es handelt sich in der Tat um eine neue Weltanschauung. Freilich — wieweit sie im absoluten Wortsinn neu ist, das vermag ich nicht zu sagen. Alle Gedanken sind schon irgend einmal gedacht worden, und in der Schule Platos, Goethes, Kants, der exakten Naturforschung, im intensiven Freundesverkehr mit Houston Stewart Chamberlain und anderen Männern ist so viel Fremdes mein eigen, so viel Äußeres innerlich in mir geworden, dass mir selber der Überblick über meine Bedingtheit fehlt. Von Kant übernahm ich die kritische Methode, von Chamberlain manche der schönsten Ergebnisse seines Kantwerkes; unter Gelehrten bin ich namentlich Victor Goldschmidt zu Dank verpflichtet, und wenn ich recht sehe, so ist die Art der Betrachtung der platonischen nahe verwandt. Und dennoch wage ich zu behaupten, dass meine Philosophie, soweit sie kritisch ist, eine schöpferische Tat bedeutet. Das Produktive, das einzig Produktive der philosophischen Kritik ist nämlich der Standpunkt, den sie einnimmt, von dem aus sie fortschreitet. Alles übrige ist äußerlich bedingt, empfangen, erfahren. Kant ist gewiss der ursprünglichste Denker, den die Menschheit hervorgebracht; und doch ist er nur in einem ebenso unzweideutig originell, wie der Dichter es in allem ist: in dem Standpunkte, von welchem aus er sein Problem betrachtet, in der Art, wie er es angriff. Zu allem anderen lassen sich die historischen Vorbedingungen mühelos nachweisen, zu diesem Einen nicht. Dieses Eine ist es aber, wodurch die Kritik der reinen Vernunft den Wendepunkt in der Geschichte menschlichen Denkens bezeichnet.

Der Standpunkt nun, von welchem aus meine Philosophie die Welt zu betrachten sucht, ist mit der gleichen Bestimmtheit noch nie eingenommen worden. Wohl haben so manche Denker — so vor allem Ferdinand Jacob Schmidt — Ähnliches erstrebt; ob es ihnen geglückt ist, scheint mir zweifelhaft. Noch vermag ich die ganze Tragweite meines Versuches nicht zu übersehen; vielleicht erwarte ich mehr von ihm, als er leisten kann. Ich erhoffe einen Umschwung in der kritischen Philosophie; am Ende muss ich mich aber dabei bescheiden, die Naturforschung befruchtet zu haben. Denn, genau besehen, ist der Nutzen aller Kritik, wie Kant sagt, nur ein negativer; eine einheitliche Weltanschauung kann nie mehr als ein Rahmen sein. Dank ihrer Allgemeinheit ist sie zwar wesentlich exakt — allgemeine Gesetze lassen sich leichter nachweisen, weil leichter kontrollieren, als speziellere — aber das Unwiderlegliche ist insofern wiederum unfruchtbar, als es nichts mehr voraussehen lässt. Nur auf indirekte Weise vermag Kritik wesentlich zu nützen: der Philosophie, indem sie das Denken reguliert, ihm neue Bahnen weist; der Naturforschung, indem sie durch Grenzbestimmungen unnötige Kraftvergeudung verhütet.

Wengen, im August 1905 Hermann Graf Keyserling
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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